Christian Milkus

Treulose Seelen


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      Lusara knurrte: »Um den Kontakt zur Außenwelt nicht zu vergessen, vielleicht.« Sie wedelte wild mit den Händen in der Luft. »Keine Ahnung. Wenn du mich fragst, ist der Zauberer einfach verrückt.« Missmutig starrte sie in die Luft, bevor sich ihr Gesichtsausdruck schlagartig veränderte. Flehend sah sie Jonas an: »Würdest du uns helfen?«

      »War deshalb der Bärenmann hinter mir her? Er wollte dasselbe wie du?«

      »Nicht ganz ...« Lusara druckste herum. »Er wollte dich fangen und dich im Ganzen in den magischen Fluss werfen. Ich dagegen denke, es reicht, wenn wir dir ein wenig Blut abzapfen.«

      Im Ganzen? Werfen? Blut abzapfen? »Ich glaube, du spinnst wohl«, gab Jonas erbost zurück. »Ich brauche mein Blut noch. Sucht euch jemand anderen!« Er verschränkte trotzig die Arme vor der Brust und wurde sich im gleichen Moment bewusst, wie kindisch diese Geste aussehen musste.

      Der Ruf eines Hornes scheuchte die Vögel im Tal auf.

      Ohne davon Notiz zu nehmen, erklärte Lusara: »Ich verstehe ja, dass du verärgert bist, aber ... aber ... du bist der Einzige, der unser Tal retten kann. Du bist der Einzige, der unser Sternkraut gefunden und auch gegessen hat. Dein ganzer Körper riecht danach. Ohne die Kraft des Sternkrauts im Blut wird die Magie nicht entfacht.« Flüsternd fügte sie hinzu: »Dann wird unser Tal untergehen.«

      Was sagte diese Frau da? Das Wohl des Tales lag in seinen Händen, vielmehr in seinem Blut? Das war doch verrückt! Was sollte er tun? Unschlüssig blickte Jonas in den Tunnel. Würde er ohne fremde Hilfe jemals den Ausweg finden und die Bergwiese, auf der Pankas, Natu und die Schafe warteten, wiedersehen? Er schaute zu der jungen Frau. Konnte er Lusara vertrauen? Hatte er überhaupt eine Wahl? »Ich werde euch helfen«, sagte er, »aber anschließend bringst du mich zu meiner Bergwiese zurück!«

      Lusara nickte und gemeinsam folgten sie einem etwa eine Elle breiten Vorsprung, der sich in einer sanften Steigung immer weiter den Berg hinauf schlängelte.

      Erschöpft und mit schmerzenden Muskeln erreichten sie eine Hochebene. Das ganze Volk der Basurer schien sich hier oben versammelt zu haben. Sie musterten die Neuankömmlinge neugierig. Den Bärenmann sah Jonas nicht.

      Lusara brachte ihn zu einem Podest, auf dem ein großgewachsener, schlanker Mann stand, dessen weiße Tunika ihn umwehte. Auf seiner Brust leuchtete ein goldener Nachtstern. Lusara stieg auf das Podest und umarmte den Mann. Dieser sprach laut und deutlich: »Lusara, meine Tochter, hat sich in die verbotene Zone gewagt und unter Einsatz ihres Lebens ein Menschenopfer gefunden.« Jubelrufe erklangen.

      Menschenopfer? Das Wort hämmerte in Jonas‘ Kopf, doch als Lusara ihm freundlich zulächelte, erinnerte er sich daran, dass sie ja nur ein wenig Blut brauchten ...

      Lusaras Vater hob die Hände. Die Basurer verstummten. »Somit ist unser Volk gerettet und der Klan des Nachtsternes wird für weitere einhundert Jahre die Basurer regieren!« Applaus brandete auf. Die Anwesenden johlten und jubelten. Lusara und ihr Vater sonnten sich in dem tosenden Beifall. Majestätisch lächelten sie der Menge zu.

      Jonas war nicht zum Jubeln zumute. So langsam begriff er, was vor sich ging. Es handelte sich nicht nur um die Rettungsaktion des Landes, sondern auch um Regierungsansprüche. Außerdem hatte der Bärenmann ihn gefunden und nicht Lusara. Jonas Herzschlag beschleunigte sich. Sie hatte nicht die Wahrheit gesagt. Was, wenn sie auch ihn angelogen hatte?

      »Bringt ihn zur Brücke!«, hörte er Lusaras Vater rufen. Vier Männer in lederner Rüstung traten auf Jonas zu, kreisten ihn ein. Zwei packten ihn an den Oberarmen.

      »Lusara!«, schrie Jonas verzweifelt und versuchte sich aus dem Griff der Wächter zu befreien. »Was soll das?« Als er den Blick der jungen Frau sah, gefror ihm das Blut in den Adern. Sie grinste ihn hinterhältig von unten herauf an. Gier und Hass in den Augen.

      Rasend vor Angst trat Jonas um sich und schrie seine Wut heraus. Vor der kleinen Gruppe teilte sich die Menschenmenge. Am Rande einer Schlucht blieben sie stehen. Die Brücke stellte sich als ein schmales Brett heraus, das etwa vier Schritte in den Canyon ragte.

      Zwei Wächter schoben den Schafhirten auf die Planke, die augenblicklich in Schwingungen geriet. Jonas ruderte mit den Armen, versuchte das Gleichgewicht zu halten.

      Ein Raunen ging durch die Menge.

      So leicht mache ich es euch nicht, dachte Jonas kämpferisch und stellte seine hektischen Bewegungen ein. Das Brett beruhigte sich. Wenn ihr wollt, dass ich dort hinunterfalle, müsst ihr mich schon stoßen.

      Er sah sich um, sah den strahlend schönen Himmel über sich, in etwa hundert Meter Tiefe den wild sprudelnden hellroten Fluss, der sich durch die Schlucht schlängelte. Eine Welle der Ruhe überkam ihn oder war es die Gewissheit, gleich sterben zu müssen? Der gegenüberliegende Canyonrand war zu weit entfernt für einen Sprung. Dicht hinter ihm standen die Wachen. Ein schabendes Geräusch verriet Jonas, dass einer der Männer ein Schwert zog. Es gab keinen Ausweg. Er würde nicht entkommen.

      Ein heftiger Schmerz durchzuckte seinen rechten Unterarm. Ungläubig starrte Jonas das Blut an, das aus seiner Pulsader quoll. Dann stießen zwei starke Hände ihn in die Tiefe.

      Laut schreiend und mit Armen und Beinen rudernd fiel er bäuchlings dem Abgrund entgegen. Wind umwehte ihn und pfiff in seinen Ohren. Schlagartig wurde ihm bewusst, dass sein Todesurteil schon gesprochen war, als der Bärenmann ihn gefangen genommen hatte. Und all das wegen eines Tees, dachte Jonas, schloss die Augen. Sekunden später schlug er auf.

      Doch kein Wasser schloss sich um ihn, keine Flüssigkeit drang in seinen Mund und in seine Lungen. Anstelle des Rauschens des Flusses drangen entsetzte Schreie und Rufe der Basurer an sein Ohr.

      Als Jonas die Augen öffnete, sah er, dass er sich auf dem Rücken eines gewaltigen Flugtieres befand. Es besaß keine Federn. Die Flügel bestanden aus einer ledrigen Haut, die auch den Körper überzog. Sie flogen in rasender Geschwindigkeit dicht über den Fluten durch die Schlucht.

      »Das war knapp!«, rief ein Mann, der vor Jonas saß, gegen den Wind an.

      »Aonaran!« Noch nie war Jonas so froh gewesen, den alten Einsiedler zu sehen. »Was machst du denn hier?«

      »Mein Land retten und dich.«

      Jonas robbte zu ihm und hielt sich am Mantel fest, dabei fiel sein Blick auf das Blut, das stetig aus der Wunde an seinem Arm tropfte.

      »Sieh!« Der Alte deutete auf den Fluss. Hinter ihnen färbte sich das Wasser blutrot. »Die Magie braucht kein Menschenopfer. Etwas Blut reicht!«

      »Woher weißt du das?«

      »Ich bin der oberste Magier der Basurer! Ich habe den Wall erfunden.« Er lachte und lenkte sein Flugtier in eine Höhle hinein. In halsbrecherischem Flug brausten sie durch Tunnel und Gänge, bis sie schließlich bei der Bergwiese ins Freie flogen. Sie landeten.

      »Vielen Dank, Aonaran!« Jonas rutschte vom Rücken des Flugtieres. Pankas und Natu sprangen auf den Hirtenjungen zu und begrüßten ihn freudig.

      Aonaran griff in die Innentasche seines Mantels und förderte ein Ledersäckchen zutage. »Streue etwas auf deine Wunden, dann werden sie in Sekundenschnelle heilen!« Unruhig tänzelte das Flugtier. »Für die nächsten hundert Jahre sind die Länder der Menschen und der Basurer voneinander getrennt und das haben sie dir zu verdanken. Auf Wiedersehen.« Lachend flog er davon.

      Jonas setzte sich auf seinen Schäfermantel, versorgte seine Wunde und sah der Sonne zu, die hinter den Bergen verschwand.

      »Ach du je, fast hätte ich etwas vergessen!«, rief er, kramte den Beutel mit den getrockneten Sternminzblättern aus seinem Proviant und warf ihn in die Mitte des Feuers. Jonas hatte ein für alle Mal genug von diesem Tee.

      Über Anne Schmitz

      Hallo zusammen,

      mein Name ist Anne Schmitz. Ich schreibe nun seit etwas mehr als zwei Jahren. Zuvor habe ich meinen Kindern unzählige fantastische Geschichten erzählt. Die Kinder wurden älter und die Geschichten ausgefeilter.