Robin Carminis

Lebenspfand


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In seinem Kopf formte sich ein Wort - Seppuku. War das der Ausdruck für rituellen Selbstmord der Japaner gewesen? Besser bekannt als Harakiri.

      Ihm fiel eine Geschichte ein, die ihm sein Grandpa einmal erzählt hatte. Darin war es um einen Samurai gegangen, der bei seinem Kaiser in Ungnade gefallen und der deswegen zum Ronin, einem herrenlosen Kämpfer, geworden war. Er konnte sich nicht mehr entsinnen, wie die Erzählung ausgegangen war, aber Grampys Geschichten hatten meist ein Happy End gehabt. Anders, als in der Realität. Anders, als in seinem Leben.

      Ein Geräusch aus dem vorderen Teil des Ladens ließ ihn aufschrecken. Schnell legte er das Schwert zurück an seinen Platz und schloss den Glasdeckel des Kastens. Hoffentlich war Bruce nicht aufgewacht.

      Kunden hätten sich eigentlich durch die Türglocke angekündigt. Ein paar Sekunden lauschte er noch, doch als sich nichts weiter rührte, humpelte er weiter zum hinteren Teil der Verkaufsfläche, nahe der breiten Anliefertore. Dorthin, wo die Antiquitäten standen.

      Er liebte diesen Teil des Ladens. Die betagten Möbel strahlten Würde und Wärme aus, zumindest empfand er das so. Viele der alten Schätzchen waren mühselig von Hand angefertigt worden. Meisterwerke des Schreiner- und Polstereiwesens. Die meisten von ihnen hätten vermutlich viel zu erzählen gehabt. Dazu ihr Duft! Besonders der Geruch des alten Holzes, vermengt mit dem Bukett feinsten Leders, ließen sein Herz ein wenig höherschlagen.

      Darüber hinaus hatte dieser Platz einen weiteren, nicht zu unterschätzenden, Wert. Er war am weitesten weg von der Empfangstheke und somit von Bruce.

      Gerry wollte sich noch einmal den Gründerzeitsekretär anschauen, den er vorhin von der bisher einzigen Kundin des Tages, übernommen hatte. Er schätzte den Wert dieses Möbelstücks aus massivem Nussbaum auf mindestens eintausend Dollar. Vermutlich mehr. Laut Stempel auf der Rückseite war der Schrank in den Niederlanden gebaut worden. Ein gutes Pflaster für Möbel aus dieser Epoche. Vierhundert Dollar Gewinn waren dementsprechend mindestens drin.

      Am liebsten hätte er dieses achtzig bis einhundert Jahre alte Kleinod mit nach Hause genommen. Aber sein Mitbewohner Taio war stets der Meinung, dass sie mehr Gerümpel, als Lebensraum hätten. Für ein gealtertes Blumenkind von fünfundfünfzig Jahren, das noch heute freie Liebe und Weltfrieden propagierte, war das eine ausgesprochen unsensible Äußerung. Um des lieben Friedens willen, gab Gerry zu guter Letzt nach und schleppte keine weiteren Möbelstücke mehr an.

      Der Sekretär war aber unübersehbar ein handwerkliches Meisterstück. Wenn man die Front aufklappte, schoben sich automatisch zwei Holzausläufer, links und rechts von den Schubladen, heraus. Darauf legte man die Platte ab und es bildete sich eine Schreibunterlage. Genial! Gerry probierte es, wie er es schon im Beisein der Kundin getan hatte, erneut, und lauschte diesmal noch aufmerksamer. Kein Quietschen und keine Reibungsgeräusche waren zu hören. Der Schreiner hatte perfekte Arbeit geleistet. Er klappte den oberen Teil wieder zu, zog danach erst die linke und dann die rechte Schublade auf. Diese ließen sich ebenso geschmeidig bewegen.

      Eben wollte er die Schubladen schließen, als ihm etwas auffiel. Der Boden der rechten Lade sah geringfügig anders aus, als die Grundfläche des linken. War hier irgendwann ein Teil ausgebessert worden? Womöglich mit einem anderen Typ Holz?

      Plötzlich brüllte Bruce aus dem vorderen Bereich des Ladens nach ihm. Ohne, dass Gerry es bemerkt hatte, waren Kunden erschienen. Bruce fühlte sich offenbar nach wie vor nicht dazu berufen, zu bedienen. Die Untersuchung der Schublade musste warten.

      Kapitel 5 - 2085

      Haruki Sato gehörte zu jenen Menschen, nach denen man die Uhr stellen konnte. Jeden Morgen erschien er, Punkt sieben, in der Eingangshalle der TT Agency. Dort begrüßte er den diensthabenden Sicherheitsbeauftragten, identifizierte sich anschließend an der Personenschleuse und betrat den Mitarbeiterbereich des Unternehmens.

      Stets tat es das in einem gepflegten Anzug, von denen er diverse besaß. Ihre Farben reichten von einem modischen Taupe, über Grau, bis zu einem tiefen Blau-Schwarzton. Er hatte sich diese Art der Kleiderordnung selbst ausgewählt, denn in der TT Agency war ein Dress-Code unbekannt. Selbstverständlich waren die Damen und Herren des Vorstands immer ausgesprochen gepflegt und formell gekleidet. Für die Angestellten gab es hingegen keine Regeln, man wollte niemanden einem Zwang unterwerfen, frei nach dem Leitspruch Uniformity obstructs creativity - Einheitlichkeit behindert Kreativität.

      Der gebürtige Japaner empfand Anzüge aber ganz und gar nicht als uniform. Im Gegenteil, Jeans und T-Shirt lehnte er ab, denn sie hemmten seine Kreativität. In einem perfekt sitzenden Einreiher konnte er einfach besser denken. Sein Motto lautete Sophistication leads to efficiency. Und Haruki Sato hatte Stil und er war effizient.

      Daher wunderte sich niemand, dass er das Gebäude auch an diesem Morgen, freundlich grüßend, in einem taubenblauen, veganen Biozwirn Marke gotsutsumu betrat. Der Wachmann staunte jedoch aus einem anderen Grund nicht schlecht, als er den Japaner erblickte. Zweimal warf er einen Blick auf seine Armbanduhr, um sich zu vergewissern, dass sie richtig ging. Erst dann glaubte er, was er da sah. Sato hatte das Gebäude bereits um sechs Uhr morgens betreten. Eine Stunde zu früh, unvorstellbar! Vor lauter Verwirrung vergaß der Sicherheitsmann sogar zurückzugrüßen. Aber Sato schien das gar nicht zu bemerken, denn er schritt zielstrebig Richtung Bürotrakt.

      Als er fünf Minuten später sein Büro erreichte, machte er nur einen einzigen Schritt hinein, um im nächsten Moment direkt stehenzubleiben. Irgendetwas stimmte nicht!

      Verwirrt fixierte er jeden Winkel des Raums und versuchte, die Ursache seiner Irritation zu finden. Auf den ersten Blick sah alles wie gewohnt aus. Der Bürostuhl stand direkt vor seinem Schreibtisch, auf dem sich das Holoterminal mit der Verbindung zum Zentralrechner befand. Links vom Tisch steckte die üppige Yuccapalme in ihrem blauen Topf. Das grellbunte Ecksteinbild war an seinem Platz an der gegenüberliegenden Wand und die Fensterfront, die, aufgrund des tiefen Sonnenstands, leicht abgedunkelt war, wirkte wie eh und je. Selbst die Diagramme, die er zur besseren Übersicht des Batedor Falles auf A0 geplottet hatte, hingen noch genauso an der Wand, wie er sie dort erst kürzlich hingepinnt hatte. Alles schien normal. Und dennoch, da war dieses Gefühl von - Etwas ist anders als sonst.

      Langsam setzte er sich in Bewegung und atmete vor Anspannung tief ein. Soeben wollte er sein Sakko an den Wandhaken hängen, als er plötzlich innehielt. Schlagartig wurde ihm klar, was hier nicht stimmte. Es roch nach Parfüm. Jemand, mit einer Schwäche für eine schwere und teure Duftnote, hatte hier in seiner Abwesenheit das Büro aufgesucht.

      Wer? Und warum? Mit Sicherheit war es nicht Samantha gewesen, Amber und Moschus, das war nicht ihr Stil. Sie bevorzugte einen leichten und sportlichen Duft, am liebsten Davidoff Cool Water for Woman. Den hatte er ihr erst vor kurzem zum Valentinstag geschenkt. Seit vielen Jahrzehnten ein Dauerbrenner unter den Parfümen. Allerdings war er sich sicher, dass er auch diesen Duft kannte. Es war noch gar nicht lange her, dass er dieses Bukett in der Nase gehabt hatte. Aber wann und wo?

      Sato spürte förmlich, wie sich eine Last auf seine Schulter legte. Erst dieser Vorfall mit Tomás Batedor, im Anschluss die Vorladung in die Chefetage und jetzt spionierte jemand in seinem Büro herum. Das konnte alles kein Zufall sein. Außerdem benötigte man eine entsprechende Schlüsselkarte. Die Zimmer waren immer verschlossen.

      Was würde als Nächstes kommen? Sorgenfalten bildeten sich auf seiner Stirn. Er drehte sich in Richtung seines Tischs und griff nach der Stuhllehne. Als er das Sitzmöbel wegzog, sah er, was er bis dahin nicht wahrgenommen hatte. Ein rechteckiges Stück Synthetikpapier. Ganz vorn, nahe der Kante, da lag es.

      Es dauerte einen Moment, bis er begriff, dass es sich hierbei um einen Briefumschlag handelte. Sehr ungewöhnlich! Die Zeiten, in denen auf diese archaische Weise kommuniziert worden war, waren längst vorbei. Da musste man sich schon einer ihrer Zeitmaschinen bedienen, um ein derartiges Schriftstück zu entdecken.

      Was wollte man ihm auf diese Weise mitteilen? Er spürte, wie ihm der Schweiß auf die Stirn trat und seine Hände zu zittern begannen. Sein Unterbewusstsein kannte die Antwort bereits,