Christian Fülling

Traumgleiter


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sie konnte nur durch die Nase atmen, die sich immer wieder mit Regenwasser füllte. Ihr blieb nichts anderes übrig, als von Zeit zu Zeit heftig auszuschnaufen, um überhaupt noch atmen zu können.

      Wenngleich sich alles in Sekundenschnelle abspielte, so kam es ihr wie Minuten vor. Ihre Augen schmerzten so sehr, dass sie von ihr verlangten, kurz geschlossen zu werden, nur für einen winzigen Moment. Aber Martina war sich mehr als zuvor bewusst, sich in einer lebensbedrohlichen Ausgangslage zu befinden; sie konnte den Tod förmlich neben ihr stehen spüren. Ihre Augen jetzt zu schließen, war schier unmöglich. Das konnte und durfte auch nicht ihr Ende sein, nicht jetzt, nicht hier und auch nicht so. Ihre Kampfkunsterfahrung hatte sie gelehrt, die energetischen Absichten ihrer Gegner intuitiv zu erspüren und umgehend darauf zu reagieren. Es bestand kein Zweifel: ihr Opponent hatte die schlimmsten Absichten.

      „Warum setzt du dich nicht zur Wehr? Komm, kämpfe.“

      Aber wie? Ihr Kampfgeist und ihr Überlebenswille schienen sie zu verlassen. Als würde sie unter einem tonnenschweren Felsen liegen, der sie für immer gefangen halten wird, der ihr all die noch vorhandene Lebensenergie absaugte.

      Mehrere hintereinander aufleuchtende Blitze, ein immer näherkommendes Donnern und ein aufbrausender Wind kündigten des Unwetters bevorstehende Vormachtstellung an, und der durchaus angenehme Sommerregen wurde schlussendlich von einem heftigen orkanartigen Gewittersturm abgelöst. Die Baumkronen mitsamt den Sträuchern schlugen wild um sich, der Wind schrie aus allen Himmelsrichtungen. Der Regenfall verwandelte sich in eine Dusche. Die Geräuschkulisse der Natur wurde übermächtig – genauso wie ihr Gegner.

      „Du sollst dich wehren!“, brüllte Eduard in den kreischenden Wind. Sie konnte ihn nicht mehr hören, geschweige denn verstehen. Ihre fünf Sinne verloren zunehmend die Kontrolle, und ein durch all ihre Zellen wehender Schüttelfrost ließ ihren Organismus unkontrolliert beben. Ihre Augen schmerzten unsäglich.

      Auf einmal glitt seine Hand von ihrem Mund seitlich auf den Boden. Blitzschnell verteilte sich das Regenwasser auf die noch trockenen Stellen. Gleichzeitig schien Eduard seinen kontrollierten Halt zu verlieren, um sich wieder zügig und mit überwältigender Kraft auf ihr zu positionieren und ihren Mund erneut zuzuhalten. Was war geschehen? Hatte Eduard das Wetter unterschätzt? War er nicht mehr Herr der Lage? Seine Hand löste sich immer wieder; ihre nasse und mittlerweile glitschige Haut bot keinen dauerhaften Halt mehr.

      Martina war noch in der Lage, die Situation auf unterbewusster Ebene wahrzunehmen. Sie registrierte eine Veränderung in seiner Energie. Seine Standfestigkeit war nicht mehr dieselbe. Das löste eine unscheinbare dennoch wahrnehmbare Hoffnung in ihr aus, eine ganz bestimmte Art von Hoffnung, die sie an eine Unterhaltung mit ihrem Vater aus ihrer Jugend erinnerte. Eine Unterhaltung, die sie längst vergessen hatte.

      Ihre Angst, die Augen zu schließen, wich dem unwiderstehlichen körperlichen Drang, es tun zu müssen. Nein, bitte nicht jetzt, dachte sie noch, während sie sich schlossen. Martina hatte den Kampf gegen ihren Körper verloren. Alles wurde schwarz um sie herum. Nur noch der felsenschwere Druck des Gegners, der Schüttelfrost, die brennenden Augen und der gewaltige Regen waren ihrer physischen Wahrnehmung geblieben. Sie musste kapitulieren und ihrem Schicksal die Führung übergeben - ihre Psyche hatte die Kontrolle über ihre Physis verwirkt. Und genau diese Erkenntnis erinnerte sie nochmals an die Unterhaltung mit ihrem Vater, und diesmal schien sie ihr nicht mehr ausweichen zu können. Ihr Geist schob einen Riegel vor ihren Verstand, ließ sie unaufhaltsam zurück in die Vergangenheit gleiten und die gesamte Szene in Windeseile im Zeitraffer vor ihrem inneren Auge zum Leben erwecken.

      Sie sitzt mit ihrem Vater im Biergarten am Münchener Viktualienmarkt. Es ist Hochsommer und ein wunderschöner warmer Dienstagnachmittag. Die Sonne scheint auf Hochtouren am wolkenlosen Himmel. Die beiden treffen sich hier regelmäßig, da ihr Vater in der Nähe ein Dojo betreibt, in dem Martina ab und an trainiert. Obwohl ihr Vater ein seit Jahren erfolgreicher Profikampfsportler ist, der darüber hinaus zwei Bestseller über die Philosophie hinter den Kampfkünsten veröffentlicht hat, lässt er es sich nicht nehmen, hin und wieder einen Maßkrug gekühltes bayerisches Bier zu trinken.

      Martina ist vor einer Woche 15 Jahre alt geworden. Sie besucht eine Privatschule im Zentrum Münchens und ist eine exzellente Schülerin. Leider hat sie immer wieder Probleme mit diesem einen Mitschüler, der eine Klasse über ihr ist und sie regelmäßig verbal attackiert. Rhetorisch scheint er ihr um Längen voraus. Er beherrscht die Kunst, andere mit seinen Worten außer Gefecht zu setzen.

      „Mein Schatz, hast du wieder Probleme mit diesem Frank?“, fragt ihr Vater, während er seinen ersten Schluck mit einem befreienden Seufzer belohnt.

      „Wie kommst du darauf?“

      „Ich kann es in deinem Gesicht sehen.“

      Ohne, dass sie etwas dagegen tun kann, schießen ihr Tränen in die Augen. „Man kann vor dir auch wirklich nichts verbergen.“

      Mit einem verständnisvollen Lächeln und einer zarten Berührung beruhigt er seine Tochter, die er besser als jeden anderen Menschen kennt. „Mein Engel, du sollst vor mir auch gar nichts verbergen, was dir Sorgen bereitet. Also, nur Mut und raus damit.“

      „Ja, er hat mich heute wieder so richtig schön vor seinen Kumpels auflaufen lassen. Ich schaffe es einfach nicht, ihm was entgegenzusetzen.“

      „Hast du dich jemals gefragt, warum du es nicht schaffst?“, fragt er.

      „Na ja, er kann halt sehr gut reden… viel besser als ich.“

      „Das wage ich zu bezweifeln“, entgegnet er mit der ihr nur allzu vertrauten Sicherheit eines lebenserfahrenen Vaters. „Schau mal, Tina, einer der Beweggründe, warum ich die Kampfkunst so liebe, ist die Tatsache, dass man die dort gewonnenen Erkenntnisse in allen Lebensbereichen anwenden kann. Als ich vor vielen Jahren damit begonnen hatte, bin ich immer wieder auf Kämpfer gestoßen, denen ein angsteinflößender Ruf vorauseilte. Regelmäßig verlor ich gegen sie. Eines Tages dämmerte es mir, dass es nicht in erster Linie deren Technik und Ausdauer waren, sondern ihr Ruf, der mich einschüchterte. Mein damaliger Meister gab mir einen mentalen Trick mit auf den Weg, den ich dir gerne weitergeben möchte. Wenn jemand vor dir steht, der etwas Bestimmtes kann, das dich einschüchtert, dann nehme ihm im Geiste genau das weg. Stell dir vor, wie diese Person dastünde ohne das, was dich so hemmt. In deinem konkreten Fall frage dich: Was bleibt von Frank übrig, wenn man ihm seine rhetorische Überlegenheit wegnähme? Die Person, die übrig bleibt, ist der wahre Frank. Lerne dann, ihn nur noch so zu sehen - in deiner Imagination. Du wirst bald einen Wechsel in seiner Energie feststellen, weil du ihn mit einer anderen Einstellung begegnest. Das wird ihn verunsichern und dich stärken.“

      Diese Erinnerung rüttelte augenblicklich Martinas innere Starre auf und durchbrach die eiserne Mauer zwischen ihrem Unterbewusstsein und ihrem Verstand. All das in Millisekundenschnelle. Sie hatte dieses Prinzip seit damals längst verinnerlicht, zumal es ihr umgehend geholfen hatte, die Situation mit Frank unter Kontrolle zu bringen.

      Und nun wurde dieses Wissen wieder zum Leben erweckt. Wie von fremder Hand geleitet, riss sie ihre Augen auf, deren Schmerzen wie weggeblasen. Gleichzeitig schaffte sie es, mit ihrem rechten Bein die Haltekraft ihres Angreifers außer Balance zu bringen, sodass Eduard sich neu positionieren musste, um nicht seine Übermacht zu verlieren. Im selben Atemzug war sie endlich mithilfe eines leuchtenden Blitzes in der Lage, ihren Widersacher kurz ansatzweise zu erkennen. Etwas Weißes bedeckte einen Großteil seines Gesichtes. Da waren nur seine Augen. Sie wirkten feurig und aufgerissen. Auch seine Hand konnte sie erblicken. Trug er Handschuhe?

      Ein weiterer von einem kräftigen Donnern begleiteter Blitz erleuchtete die Szene und schlug schnurstracks in einen der umliegenden Bäume. Martinas Aggressor konnte jetzt auch ihre Augen sehen, während ein lautes knackendes Geräusch eine unvorhergesehene Bedrohung ankündigte, die schwungvoll wie eine Bombe auf Eduard einschlug und ihn als nassen leblosen Sack auf ihren Leib fallen ließ.

      Das Unwetter tobte unaufhörlich weiter. Wie am Spieß schreiend, mobilisierte Martina all ihre noch zur Verfügung stehenden Kräfte, stemmte den großen schweren Körper von sich und ließ ihn links neben sich auf die Erde sacken. Dann sprang sie auf, schrie unaufhörlich