Christian Fülling

Traumgleiter


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den Blickkontakt, um ja nicht auf sich aufmerksam zu machen. Wie oft war es ihm schon passiert, dass er eine klare körperliche Wahrnehmung spürte, eine Wahrnehmung, die man mit einem zarten Druck an einer bestimmten Körperstelle, zumeist ist es der Rücken, beschreiben kann, die ihn veranlasste, sich unbewusst umzudrehen, um dann festzustellen, dass ihn jemand beobachtet oder einfach nur angeschaut hatte. Und Borchardt wusste, dass das uneingeschränkt auf alle Menschen zutraf und dass, je länger man eine Person anschaut, der als physischer Druck empfundene Impuls, sich umzudrehen, stärker wird.

      Versteinert und mechanisch lief der Typ weiter den Spreeweg entlang. Keinen Blick nach links, keinen nach rechts. Er schien auch keinen Schimmer davon zu haben, verfolgt zu werden. An der Friedrichstraße bog er links Richtung Bahnhof Friedrichstraße ab. Ganze Menschenmassen kamen entgegen. Regelmäßig tauchte er in ihnen unter, sodass Borchardt sein Schritttempo und seine Laufrichtung immer wieder aufs Neue anpassen musste. Mehrere Touristenbusse parkten an der Straße.

      Borchardt fragte sich, wie die Stadt wohl aussehen würde, würde man ihr auf einen Schlag alle Touristen wegnehmen? So sehr er die City Ost auch liebte, so sehr konnten ihn die Menschenmassen auch aufwühlen. Seine Gedanken wanderten zu seiner Casa in Puerto de Mogán. Wie ruhig und besonnen dieser idyllische Hafenort im Südwesten Gran Canarias doch war. Auch wenn das einstige Fischerdorf bereits vom Tourismus erschlossen worden ist, so war es dennoch eine erholsame Oase für ihn. Sein Häuschen lag am westlich gelegenen Berghang der Bucht, und von seinem Arbeitszimmer aus hatte er einen traumhaften Blick auf das endlose Meer.

      Der Typ erhöhte plötzlich sein Tempo und riss Borchardt aus seinem Tagtraum. Dann verschwand er rechts im Treppenaufgang zum Bahnhofsinnengelände.

      6

      Borchardt rannte los und spurtete aufgeregt denselben Aufgang hinauf. Der Bahnhof Friedrichstraße war rappelvoll. Hunderte Menschen, die hektische und teils chaotische Stimmungen erzeugten. Alle hatten sie es eilig und wirkten gehetzt.

      „Wo ist der Typ?“

      Der Bahnhof hat eine Ost-West und eine Nord-Süd S-Bahn Verbindung, eine Ost-West Fernverkehr Verbindung und eine U-Bahn; mindestens ein Dutzend Geschäfte und Fast Food Restaurants sowie sechs Zugänge aus allen Himmelsrichtungen. Der Typ konnte also überall sein.

      Borchardt versuchte sich zu konzentrieren, was ihm schwerfiel, denn er fühlte sich nach wie vor ermüdet und schlapp. Oder sollte er lieber abbrechen? War das vielleicht ein Zeichen, eine kosmische Warnung, dass er sich in Gefahr begäbe, die ihn in eine ähnliche Situation katapultieren könnte wie die damals während der Fahndung nach dem Schlitzer, in dessen Fänge er geraten war? Oder war der Muskelprotz gar nicht verschwunden, sondern beobachtete ihn? Hatte Borchardt die Grenze des Jemanden-beobachten überschritten und der Typ wusste die ganze Zeit, dass er verfolgt wurde?

      Langsam drehte er sich im Kreise und beobachtete den gesamten Bahnhof, insbesondere die Ecken und ruhigeren Punkte. Nichts, kein Glatzkopf, gar nichts.

      Borchardt wurde ambivalent. Er fühlte sich in seine lebensmüde Zeit nach Nadines Tod zurückversetzt. Welchen Streich seine Gefühle ihm auch spielten, er musste sich jetzt zusammenreißen, und obwohl die Zeit rannte, schloss er seine Augen, stellte die Frage: „Wo ist der Bodybuilder?“ und öffnete sie wieder.

      Borchardt konnte nie genau vorhersagen, auf welche Art Wahrnehmungsveränderung er stoßen würde. Seine Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass sich sein Navi stets der individuellen Situation anpasste. Diesmal war Borchardt wieder im Slow-Motion-Modus. Alles bewegte sich sehr langsam, fast schon kriechend. Die hektische Energie des Bahnhofs war wie weggeblasen. Hinzu kamen akustische Wahrnehmungserlebnisse - die Stimmen der Menschen wurden lauter und gleichzeitig schleppender.

      Borchardt lief weiter ins Bahnhofsgelände und spürte, wie er sich trotz seiner veränderten Wahrnehmung in normaler Geschwindigkeit durch den Raum bewegte. Jetzt brauchte er nur noch seiner Eingebung Folge leisten. Und darin war er unschlagbar. Sein uneingeschränktes Vertrauen, in die richtige Richtung geführt zu werden, war maßgeblich bei allem, was er jetzt tat. Jeder auch noch so kleiner und unbedeutend wirkender Impuls war von ausschlaggebender Bedeutung.

      Borchardt hatte bis dato niemandem tiefere Einblicke in seine Fähigkeit gewährt, mit Ausnahme von Nadine, Samira, Tomas und seinem langjährigem Freund, dem Psychiater und Parapsychologen Dr. Theodor Fundeisen. Und das aus gutem Grund. Alle seine Wahrnehmungserfahrungen waren letztlich psychische Erlebnisse, die in der Psychopathologie - die Lehre von den psychischen Phänomenen und Symptomen - definiert und zur psychiatrischen Diagnostik herangezogen werden. Auch wenn psychopathologische Symptome an und für sich nicht unbedingt krankhaft sind, sondern in bestimmten Situationen auch bei Gesunden auftreten - beispielsweise bei Wahrnehmungsstörungen durch Übermüdung -, so wäre es für Borchardt fatal gewesen, seine Kollegen beziehungsweise die Öffentlichkeit einzuweihen. Wie schnell hätte er als psychotisch oder gar wahnsinnig diffamiert werden können?

      Plötzlich wurde er von einer Mutter und ihrer sechsjährigen Tochter angerempelt. „Daaas… waaaar… aaabeer… eeiin… uunnfrreeunddlliiichcheeeerr… Maaannn“, hörte er das Mädchen sagen und folgte ihrer Blickrichtung.

      War er das? Der Glatzkopf auf der Rolltreppe hinauf zur S-Bahn? Er war zu weit entfernt und von zu vielen Menschen umgeben, um sich sicher zu sein. Borchardt ließ sein Navi laufen und nahm die Verfolgung wieder auf.

      Kurz vor den Rolltreppen drängte ihn sein Navi, seine Aufmerksamkeit auf den Edeka Markt zu richten, wo er einen weiteren Glatzkopf entdeckte, der durch die Eingangstür in den Markt verschwand.

      „Okay, in welche Richtung, Martin?“ Er schaute abwechselnd zur Rolltreppe und zum Lebensmittelmarkt. Dabei verließ er sich auf sein Bauchgefühl, denn psychische Empfindungen werden auf körperlicher Ebene wahrgenommen. Zumeist sind diese Wahrnehmungen spürunbewusst und geschehen wie nebenbei. Borchardt hatte das in seinen psychoanalytischen Seminaren während des Studiums gelernt und zu einem über die Psyche hinausgehenden Konzept weiterentwickelt. Mittlerweile war er in der Lage, diese Wahrnehmungen im alltäglichen Leben bewusst und gezielt einzusetzen. Zumeist handelte es sich dabei um einen Druck in der Magengegend. Ein zarter krampfartiger Druck. Der stärkere war in der Regel der richtige.

      7

      Es war zweifellos der Edeka Markt, der den stärkeren Druck auslöste. Der Markt war überfüllt, und es gab keinen zweiten Ein- oder Ausgang. Lange Schlangen reihten sich an den Kassen.

      „Welchen Sinn macht es reinzugehen?“

      Dann konnte er ihn sehen. Ja, er war es. Der Typ stand ziemlich weit hinten am Ende einer der Schlangen. Er wirkte nervös und schaute sich hektisch um.

      Borchardt bedankte sich bei seiner Intuition, was er immer tat. Er hatte nämlich großen Respekt vor ihr. Auch wenn er nicht in der Lage war, zu erklären, was genau dieses geistige Phänomen ist, so war er sich dennoch sicher, dass es sich um eine Art übergeordnete Intelligenz handeln musste, die antwortete und kooperierte, ihn führte und leitete. Ja, sie warnte ihn sogar vor Gefahren wie damals, als er dem Schlitzer auf den Leim gegangen war. Seine Intuition hatte ihm eine klare und deutliche Anweisung gegeben und Borchardt hatte nicht Folge geleistet. So sehr Borchardt auch in die Natur der Dinge eintauchte, so sehr wagte er es nicht, Gott als den Grund für seine Fähigkeiten zu betrachten, und das obwohl es Nadine war, die ihn auf diese Möglichkeit aufmerksam gemacht hatte. Sie war studierte Religionswissenschaftlerin, sehr gläubig und besaß einen Hang zu den Grenzwissenschaften, wandte sich jedoch nach dem Studium der Seelsorge zu und ließ Borchardt immer wieder wissen, dass in nahezu allen Weltreligionen Gott als Geist definiert werde, der seinen Schöpfungen innewohne. Dieser Gedanke war für Borchardt eine intellektuelle Überforderung. Er blieb lieber bei seiner geliebten Psychologie.

      Borchardt schaltete also sein Navi aus und positionierte sich circa zwanzig Meter abseits vom Markt und wartete angespannt einige Minuten, bis der Bodybuilder mit einer Flasche Bier an der Kasse ankam, und marschierte los und kreuzte dessen Weg, als er aus dem Markt kam. Mit seinen Zähnen öffnete er die