Christian Fülling

Traumgleiter


Скачать книгу

verließen viele Fahrgäste den Wagen und einige eilten direkt zu der regungslosen Obdachlosen.

      „Was mache ich jetzt bloß?“, fragte sich Borchardt, als er seine Bekannte auf dem Boden liegen sah. „Wenn ich ihr helfe, verliere ich den Typen. Wenn ich ihr nicht helfe, mache ich mich moralisch strafbar.“ In Sekundenschnelle musste er sich entscheiden. Der Typ wollte einfach unbehelligt weiterfahren. Und als Borchardt sah, wie liebevoll sich einige um seine Bekannte kümmerten, entschloss er sich kurzerhand, zurück in den Wagen zu gehen.

      10

      Der Bahnfahrer hatte von all dem nichts mitbekommen und setzte den Zug wieder in Gang, als sei nichts geschehen. Innen war es jetzt relativ leer. Nur noch knapp fünfzig Fahrgäste, die sich aufgeregt miteinander unterhielten.

      Borchardt kam sich vor wie in einem schlechten Film. Wie gerne hätte er der Obdachlosen geholfen, und wie unfähig war er letzten Endes gewesen, es zu tun. Zuerst die Leiche heute Morgen, dann der Traum mit Nadine und jetzt noch so etwas. Trotzdem ging er entschlossen ans Ende des Wagens und blickte durch die verkratzte Scheibe in den anderen Wagen, in dem der Typ auf einem der klappbaren Sitze saß und weiter unbekümmert auf seinem Handy rumtippte.

      Was für ein mieser Zeitgenosse, dachte Borchardt, als ihm der Gedanke kam, hier und jetzt ein Foto von ihm zu machen. Er nahm sein Handy und zoomte den Typen so nah wie möglich aufs Display. Dieser starrte immer noch wie besessen auf sein Smartphone und bot nur ein unnützes Seitenprofilfoto.

      Borchardt blieb nichts anderes übrig, als auf eine Technik zurückzugreifen, die er ungern anwandte, da sie zur Kunst der Menschenbeeinflussung gehörte, was er aus ethischen Gründen verwerflich fand. Er hatte sie vor vielen Jahren unter der Anleitung von seinem Freund Theodor - Gründer und Leiter des Instituts für parapsychologische Phänomene in Darmstadt - tiefer erforscht und verfeinert.

      Diese Technik ist eine Mischung aus Gedankenübertragung, Visualisierung und peripherem Sehen. Zunächst musste Borchardt das Gesicht des Typen fixieren, dann den Blick auf das Display richten, ohne den realen ersten Blickkontakt zu unterbrechen. Somit hatte er den Typen zweifach visuell erfasst - einmal peripher durch die Scheibe und direkt auf seinem Handy. Sein Hauptaugenmerk blieb auf dem Display.

      Nun wiederholte er innerlich immer wieder: „Du drehst dich in meine Richtung, ohne mich wahrzunehmen.“ Zeitgleich musste er sich nur noch vorstellen, wie der Typ mit seinem Profil auf dem Display erscheint und diese Vorstellung mit einem Gefühl der freudigen Erwartung aufladen.

      Und Sekunden später drehte sich der Bodybuilder tatsächlich in die vorgeschriebene Richtung, und Borchardt konnte ein exzellentes Profilfoto machen, welches er an Tomas weiterleitete, mit der Bitte um einen Datenbankabgleich.

      Er stellte sich leicht abseits, sodass er den Typen nur noch zur Hälfte sehen konnte und lehnte sich erschöpft an die Wand. Endlich konnte er sich von seinem Sommersakko befreien, seine Hemdärmel hochkrempeln und tief durchatmen. In seinem Sakko griff er nach einem Papiertaschentuch und wischte sich den angesammelten Schweiß vom Gesicht.

      Kurz darauf erreichten sie Ostbahnhof. Der Typ blieb sitzen. Borchardt atmete erneut tief durch und checkte sein Handy. Das Foto war übermittelt worden. Und erstmals seit der Verfolgungsaufnahme konnte er reflektieren, was alles geschehen war.

      Obwohl der Tag bis jetzt ein einziger Trip gewesen ist, so drängte sich nur ein Geschehen in den Vordergrund seines Interesses: der Traum. Er hatte schon mehrere Jahre nicht mehr von Nadine geträumt. Zumindest konnte er sich nicht daran erinnern. Dann fiel ihm der Zettel mit den Traumnotizen ein und warf einen kurzen Blick darauf. Borchardt wusste, dass es sich um einen sogenannten präkognitiven Traum handeln musste - einen weg- und zukunftsweisenden Traum. Allerdings, und das ist untypisch für zukunftsweisende Träume, war er symbollastig und bedrohlich. In der Praxis sind es vorwiegend die Komplexträume, die einen hohen Anteil verschlüsselter Symbole aufweisen und auf den Träumer beunruhigend wirken. In diesem Traum ging es jedoch nicht um die Aufarbeitung eines sich in archetypischen Bildern ausdrückenden innerseelischen Konfliktes, sondern um einen Hinweis. Vielleicht sogar um eine Warnung.

      Am S-Bahnhof „Warschauer Straße“ stieg der Muskelprotz dann aus, und Borchardt blieb ihm dicht auf den Fersen. Am Treppenaufgang fiel Borchardt sofort ein anderer aus demselben Holz geschnitzter Typ auf, der weniger Angst einflößend und eine insgesamt kleinere Erscheinung war. Beide Glatzköpfe umarmten sich und marschierten Richtung Warschauer Brücke.

      11

      „Tja, und auf der Brücke stand dann ein im Halteverbot aufgetunter 500er Mercedes aus den neunziger Jahren, mit getönten Scheiben.“

      „Welche Farbe hatte er?“

      „So ein Beigemetallic.“

      „Ja, und weiter?“

      „Sie steuerten direkt auf ihn zu.“

      „Auf den Mercedes?“

      „Ja. Ich wollte gerade nach meinem Handy greifen und dir das Autokennzeichen simsen, als mich eine Gruppe Jugendlicher anrempelte und ich zu Boden fiel und für, tja, für einen kurzen Moment die Besinnung verlor.“

      „Die Besinnung? Und jetzt kannst du dich nicht mehr an das Kennzeichen erinnern?“

      „Leider nein.“

      „Auch nicht an einen Buchstaben oder Zahl?“

      „Nein. Es ging alles viel zu schnell. Ich weiß nur, es war kein Berliner Kennzeichen.“

      „Wir warten einfach mal ab“, sagte Tomas nachdenklich. Und für einen kurzen Moment schwiegen beide. Jeder blickte in eine andere Richtung. Eine Weile später trafen sich ihre Blicke wieder.

      „Ich brauch dir ja nicht zu erzählen, wie sauer ich auf dich bin, mein Lieber, oder?“, schimpfte Tomas.

      Borchardt schaute weg, so wie er es immer tat, wenn Tomas ihn erwischt hatte. Kurz darauf wanderte sein Blick zurück und beide mussten lachen. Es war dieses typische Lachen langjähriger bester Freunde. Ein Lachen, das mitreißt. Selbst die Gäste am Nebentisch wurden angesteckt, als sie die in die Jahre gekommenen Männer lachen sahen, als hätten sie gerade einen Joint geraucht.

      Tomas und Borchardt griffen nach ihren Maßkrügen, stießen an und tranken einen kräftigen Schluck. Sie saßen im Biergarten direkt an der Karl-Liebknecht-Straße in greifbarer Nähe vom Alexanderplatz. Es war 19:45 Uhr am selben Tag. Ein angenehm leichter Sommerwind löste sukzessive die brütend heiße Luft ab. Borchardt hatte sich noch geduscht und meditiert und fühlte sich einigermaßen frisch. Tomas ist direkt vom LKA 1 zum Hofbräuhaus gefahren.

      „Mensch, Martin, das ist eine unglaubliche Geschichte, die du mir hier auftischst. Warum hast du nicht kurz angerufen?“

      „Ich hatte einfach keine Zeit. Ich fühlte mich auch nicht wirklich bedroht.“

      „Darum geht es nicht“, sagte Tomas unzufrieden.

      „Ja, ich weiß. Verzeih mir, Tomas. Ich weiß.“

      „Ich nehme deine Eingebungen sehr ernst, das weißt du, Martin. Und ich schätze dich wie niemanden sonst.“

      „Danke, mein Lieber. Ich schätze dich auch sehr.“

      „Also, keine Alleingänge mehr.“

      „Ich hoffe nur, der Obdachlosen geht es besser“, lenkte Borchardt ab.

      „Ja, hoffentlich. Das Foto habe ich übrigens weitergeleitet.“

      „Was ist mit der Leiche?“, wollte Borchardt wissen.

      „Natalie wird mir morgen den vorläufigen Bericht emailen.“

      „Wird man sie identifizieren können?“

      „Das wird schwer. Es gibt so gut wie keine brauchbaren primären Merkmale.“

      „Primäre Merkmale?“

      „Ja.