Christian Fülling

Traumgleiter


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habe, während ich sie mir ansah, die energetische Gegenwart einer menschlichen, höchstwahrscheinlich männlichen Person wahrgenommen, die extrem aggressiv war“, unterbrach ihn Borchardt angespannt.

      „Das muss doch jemand von den Anwohnern oder Touristen mitbekommen haben, falls sie tatsächlich in aller Öffentlichkeit mitten in Mitte so zugerichtet wurde.“

      „Ich will gleich nochmal dorthin zurück.“

      „Zum Fundort?“

      „Nein, zu den Schaulustigen“ antwortete Borchardt, während er Tomas den Ausweis zurückgab.

      „Okay… weil das…?“

      „Weil das eine Eingebung ist, ganz genau, Tomas“, beruhigte er ihn.

      „So wie damals beim Schlitzer?“

      „Ja, so ähnlich“

      Tomas nickte. „Okay, tu was immer du zu tun hast. Aber keine Alleingänge mehr ohne mein Wissen. Denk daran, du bist kein Polizist, und ich und meine Kollegen kommen in Teufels Küche, wenn dir etwas zustößt und die Öffentlichkeit davon erfährt. Der Staatanwalt hat ein Auge auf meine Kommission.“

      „Versprochen.“

      Die Servicekraft brachte den Kaffee.

      „Sobald erste Ergebnisse vorliegen, rufe ich dich an. Sei mir nicht böse, ich muss los.“

      „Wie? Und dein Kaffee?“

      „Keine Zeit mehr. Kannst du das bitte übernehmen? Hast du heute Abend Zeit? Lass uns doch im Hofbräuhaus treffen.“

      „Das können wir machen, Tomas. Um wie viel Uhr denn?“

      „20 Uhr? Ich lade dich auf ein Bier ein“, zwinkerte er ihm zu, während er ruhelos die Stuben verließ.

      Da saß Borchardt nun mit den beiden Kaffees und der Leiche auf dem Tisch und fragte sich: „Wenn das wirklich die Tat eines einzelnen Menschen war, wo finde ich ihn?“

      Nachdem er gezahlt und sich auf der Toilette mit zwei Händen voll Wasser frisch gemacht hatte, verließ er die Stuben und ging zurück zum Ort des Geschehens.

      Nach wie vor diese Hektik und eine noch größere Menschenmenge. Ein Rettungshubschrauber parkte in der Luft direkt über dem Fundort. Borchardt stellte sich leicht Abseits vom Trubel, sodass er eine gute Übersicht hatte, schloss seine Augen und platzierte die Frage: „Wer ist der Täter und wo finde ich ihn?“

      Die Voraussetzung für das bewusste Aktivieren seines Navis ist eine konkrete, ja fast schon brennende Frage und das gleichzeitige Praktizieren einer bestimmten Konzentrationsübung. Ähnlich verhält es sich beim Deaktivieren. Keine fünf Sekunden später war er auf Sendung, wie er den Zustand gerne beschrieb. Die Geräuschkulisse verschwand in den Hintergrund, vor seinen Augen lief die gesamte Realität in Slow Motion. Er scannte die Gegend auf und ab und vertraute seiner Intuition. Immer wieder achtete er auf ein Zeichen, auf einen Hinweis. Aber da war nichts, keine auffällige Person, nichts. Vielleicht sollte er eine Pause einlegen und ein wenig an der Spree entlanglaufen.

      Er deaktivierte den Navi, lief die Tucholskystraße hinunter über die Oranienburger Straße hinaus und schlug vor der Ebertbrücke auf den Weg links Richtung Museumsinsel ein und fühlte sich von einer Sekunde zur nächsten erschöpft, unkonzentriert und benommen und ließ sich gähnend auf einer der Bänke entlang des baumgesäumten Spreeufers nieder.

      5

       Borchardt fährt ein fremdes Auto. Er befindet sich auf einer leeren Autobahn. Sie ist dreispurig und eine deutsche Autobahn. Er fährt auf der linken Spur. Hin und wieder kommen ihm blaue Autobahnschilder entgegen; sie sind leer, ohne Aufschriften. Er fühlt sich entspannt, gelassen und schaut auf den digitalen Tacho - genau 156 km/h. Dann schaut er aus den Fenstern, erst nach links - Wüstenlandschaft, dann nach rechts - Schneelandschaft. Er schaut wieder auf den Tacho - genau 189 km/h. Dann schaut er nach vorne - alles ist plötzlich pechschwarz! Er sieht gar nichts mehr! Er tritt auf die Bremse und schaut auf den Tacho - genau 333 km/h! Er schaut nach rechts. Eine entstellte Fratze starrt ihn an. Das Gesicht ist seitenverkehrt; die Augen sind unter und der Mund über der Nase. Er schreit, guckt genauer hin und erkennt Nadine. Ihre Augen bluten, in ihrem Mund sind keine Zähne. Sie schreit: „Du brauchst das Navi!“ Borchardt schreit nochmal - vor Panik. Dann blickt er auf ein Navigationssystem an der Frontscheibe, das zuvor nicht da gewesen ist. Das Display blinkt: „Bring mich zum Doktor.“ Cut. Borchardt steckt mit seinem Kopf in einer Lünette einer Guillotine. Er hört eine Menschenmenge schreien: „Töte Nadine!“ Er sieht die Beine des Henkers. Dieser sagt: „Du hörst, was sie sagen.“ Cut. Borchardt sieht seinen Kopf auf einem Holzuntergrund in einen geflochtenen Korb rollen. Im Korb angekommen sagt sein Kopf: „Bring mich zum Doktor.“ Der Untergrund wackelt und vibriert, vibriert, vibriert…

      …und es dauerte, bis er begriff, dass er geschlafen und geträumt hatte und dass sein Handy vibrierte und klingelte. Erschrocken schaute er auf seine Uhr. Dreieinhalb Stunden später!

      Er griff nach einem zerknitterten Zettel und einem Stift in seiner Sakkoinnentasche. „Tomas“, begann er das Gespräch, „einen Moment.“ Er kritzelte zitternd mehrere Stichpunkte auf den Zettel. „So, da bin ich.“

      „Mensch, wo bist du denn? Ich versuche, dich seit einer halben Stunde zu erreichen.“

      „Entschuldige, ich bin tatsächlich eingeschlafen.“

      „Eingeschlafen? Hör zu. Die Obduktion ist noch im vollen Gange und eine fremdverschuldete Tötung kann nicht mehr ausgeschlossen werden. Deine Vermutung scheint durchaus realistisch. Überall am Körper befinden sich mikroskopisch kleine Holzsplitter und Metallrückstände. Möglicherweise sind ihr die Schnitte durch eine Machete oder mit einem Haumesser zugefügt worden. Totschläger und Baseballschläger könnten auch beteiligt gewesen sein.“

      Während Tomas weitersprach, entdeckte Borchardt in der vor ihm vorbeilaufenden und zum großen Teil aus Touristen bestehenden Menschenmenge eine Person und konnte seinen Blick nicht mehr von ihr abwenden.

      „Tomas?“

      „Ja?“

      „Gerade lief eine männliche Person an mir vorbei, die ich vorhin unter den Schaulustigen gesehen hatte.“

      „Und?“

      „Jetzt löst sie Unbehagen in mir aus“, flüsterte er.

      „Ah ja, äh, mach jetzt bloß keine Alleingänge. Hast du gehört?“

      „Ja.“

      „Sei bitte vorsichtig“, fuhr Tomas fort, „sobald ich weitere Indizien habe, rufe ich wieder an. Ansonsten heute Abend im Hofbräuhaus.“

      „Warum ist mir der Typ nicht vorhin schon aufgefallen?“ Diese Frage musste sich Borchardt unbedingt gefallen lassen, denn der Typ war auffällig. Einer von diesen mit Anabolika aufgeblasenen Extrem-Bodybuildern, die sich in der Berliner Rocker- und Zuhälterszene aufhalten. Groß, Glatze, Bundeswehrhose, verspanntes leicht rötliches Gesicht, einfach nur angsteinflößend.

      Der Typ verharrte auf dem Spree-Weg Richtung Friedrichstraße. Ein Segen war dieser Teil Berlins vollgestopft mit Touristen, sodass Borchardt zumindest bis auf Weiteres ein unauffälliger Verfolger sein konnte, ohne Tomas gegenüber ein schlechtes Gewissen zu bekommen. Sein Schritttempo verriet, dass der Typ ein ganz bestimmtes Ziel anstrebte. Auf jeden Fall machte er keinen Spaziergang.

      Wenn man einen Menschen fixiert beziehungsweise lange genug beobachtet oder sich generell mit ihm auseinandersetzt, dann gelangt man an einen Punkt, an dem sich ein Rapport mit dessen Gedanken- und Gefühlswelt aufbaut. Man taucht sozusagen in seine mentale und emotionale Atmosphäre ein. Ein wichtiges Prinzip, das Borchardt nur zu gut aus der Therapie kannte und dessen Tragweite er bei allen zwischenmenschlichen Beziehungen anwandte. Dieser Bodybuilder löste in Borchardt dasselbe Gefühl aus, welches er am Morgen bei der Tatortbesichtigung hatte! War