Bärbel Junker

Der Kristall


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Diese wundervolle Stimme muss der Grund dafür sein“, wisperte der Baum.

      Samiras Hand strich liebevoll über den glatten Stamm und blickte dabei über sich in das silberne Laub. Wie schön es ist, dachte sie. Zärtlich fuhr sie mit dem Finger über den Rand eines der filigranen Blätter. Dabei drehte es sich um.

      „Mein Gott“, flüsterte Samiras und ließ es erschrocken fallen.

      „Was ist?“, fragte der Perlmuttbaum verwundert.

      „Dein Laub! Einige deiner Blätter haben sich verfärbt.“

      „Viele?“

      „Nein. Aber wie kann das sein?“

      „Ich weiß es nicht, Samiras. Ich weiß nur, dass ich noch niemals so tief schlief wie in der vergangenen Nacht.“

      „Du sprachst von einer wundervollen Stimme. Was meintest du damit?“

      „Sie sang mich in den Schlaf. Es war wunderschön und weckte alte Erinnerungen in mir. Ich erwachte erst, als du kamst.“

      „Dann hättest du nicht gemerkt, wenn sich dir des Nachts jemand genähert hätte“, überlegte Samiras laut. Kann es sein, dass irgendjemand dem Baum ein Leid zufügte? dachte sie. Aber ist das überhaupt möglich? Sie fragte ihn.

      „Allein das Böse könnte mir schaden und mir meine Lebenskraft rauben“, erwiderte der Baum. „Aber das weißt du doch. Ich sagte es dir damals, als wir uns vereinigten.“

      „Ich habe ein ganz schlechtes Gefühl“, sagte Samiras unruhig. „Ich sehe mich hier mal um. Mich beunruhigt dieser Gesang. Woher kam er? Wer hat gesungen?“ Sie ging langsam um den Baum herum.

      UND DA SAH SIE ES!

      Auf dem Boden lagen einige Hände voll zusammengerollter, vertrockneter Blätter.

      „Was beunruhigt dich, Samiras?“, fragte der Perlmuttbaum, dem sich ihre Gefühle und Ängste mitteilten, als wären es seine eigenen.

      „Hier liegen noch mehr Blätter. Ich sehe mich mal bei den Büschen dort drüben um. Vielleicht finde ich eine Spur desjenigen, der gesungen hat.“

      UND SIE WURDE FÜNDIG!

      Mit spitzen Fingern zog sie ein mit Erde beschmiertes Tuch aus dem Gebüsch. Damit hat sich jemand die Hände abgewischt, nachdem er gegraben hat, vermutete sie. Nur wer würde hier, bei dem Perlmuttbaum, graben? Und warum? Nachdenklich kaute Samiras auf ihrer Unterlippe.

      Sie ging zurück zu dem Baum, von dem ihre Lebensdauer abhängig war. Mit auf den Boden gerichteten Blick umkreiste sie ihn langsam. Alles war wie immer.

      Doch Halt! Hier hatte jemand gegraben!

      Sie bückte sich und strich mit der Hand über die Stelle. Der Boden war so lose, dass sie eine Handvoll davon nehmen konnte. Jetzt war ihre Neugier, aber auch ihre Sorge geweckt. Mit einem schmalen Stück Holz, das sie nicht weit entfernt fand, grub sie tiefer, fand jedoch nichts.

      „Ich hole Tolkar. Wir brauchen einen Spaten. Wer weiß, wie tief wir graben müssen, falls hier etwas liegt, das nicht hierher gehört“, sagte Samiras und eilte davon.

      Kurze Zeit später kam sie mit dem Troll und einem Spaten zurück.

      „Sei aber vorsichtig, Tolkar, damit du nicht die Wurzeln verletzt“, warnte sie. Der Troll brummte etwas und machte sich an die Arbeit. Nachdem er etwa fünf Fuß tief gegraben hatte, winkte er Samiras heran.

      „Was ist das?“, flüsterte sie. Verwundert starrten sie auf das rote Schimmern zu ihren Füßen.

      „Es sieht wie ein roter Stein aus“, erwiderte Tolkar. „Soll ich ihn herausholen?“

      Der Perlmuttbaum hatte den Vorgang in Samiras´ Gedanken, zu denen er dank seiner Magie Zugang hatte, mitverfolgt. Als er jetzt von dem roten Stein hörte, ahnte er Schreckliches, denn eine alte Erinnerung kehrte zurück. Man hatte ihn übertölpelt, hatte ihn getäuscht!

      „Sollen wir den Stein entfernen?“, fragte Samiras in diesem Augenblick. „Vielleicht ist er Schuld an den abgefallenen Blättern.“

      „Das ist er mit Sicherheit“, erwiderte der Baum niedergeschlagen. „Aber ihr dürft den roten Kristall auf keinen Fall entfernen. Wahrscheinlich könntet ihr es gar nicht ohne euch und mir zu schaden. Er ist bereits fest mit mir verbunden.“

      „Du weißt, was das ist?“, fragte Samiras verwundert.

      „Oh ja, das weiß ich nur zu gut. Ich kam schon einmal mit einem solchen Stein in Berührung. Doch das ist schon so viele Menschen-Lebensalter her. Ich hatte es schon fast vergessen. Doch die wunderbare Stimme zusammen mit dem Kristall können kein Zufall sein. Deshalb ist es mir wieder eingefallen.

      Ja, Samiras. Es ist der rote Kristall. Er wurde von IHM geschickt, um mir die Lebenskraft zu rauben. Es kann nicht anders sein. Daher auch die toten Blätter. Und doch ist das erst der Beginn der Katastrophe“, erklärte der Perlmuttbaum traurig.

      „Heißt das etwa, ER ist wieder zurück? Aber wieso? Ich habe IHN doch verbannt“, flüsterte Samiras entsetzt.

      „Das Böse ist sehr, sehr stark. Trotzdem, ER muss die Hilfe eines Schwarzen Magiers und zumindest einer Schwarzen Hexe gehabt haben. Aber da muss außerdem noch etwas sehr Starkes und sehr, sehr Böses mitgeholfen haben.“

      „Und was kann das gewesen sein?“, fragte Samiras niedergeschlagen.

      „Ich weiß es nicht, Samiras. Ich kann dir nur sagen, was du zu meiner und damit auch deiner Rettung unternehmen kannst. Aber es wird nicht einfach sein, vielleicht sogar unmöglich. Du kannst es nur versuchen.“

      „Ich verstehe es einfach nicht“, murmelte Samiras. „Ich habe doch alles getan. Ich habe den Zaubersamen gefunden. IHN in die Verbannung geschickt. Den Perlmuttbaum zu neuem Leben erweckt. Und schon jetzt, nach nur zwei Jahren beginnt alles wieder von vorn? Wieso hat mich die Zauberin Xzatra nicht über diese eventuelle Gefahr aufgeklärt? Und du hast auch nie etwas zu mir gesagt, mich nie gewarnt“, sagte Samiras vorwurfsvoll.

      „Es erschien mir wie auch sicherlich Xzatra einfach unmöglich, dass so etwas geschehen könnte. Ich kann mir auch jetzt nicht erklären, welche ungeheuer bösartige Kreatur dieses möglich machte. Denn nur ein Zauberer und eine Schwarze Hexe allein hätten den Dämon niemals befreien können. Und er wird mit jedem Tag stärker. Die Zeit drängt.“

      „Was können wir tun, um IHN wieder dorthin zu schicken, wohin ER gehört? Denn in unserer Welt darf ER nicht bleiben“, fragte Samiras, die sich wieder beruhigt hatte.

      „Ich helfe dir und wenn wir die Hölle besuchen müssen“, brummte Tolkar.

      „Und ich dir auch. Das ist doch keine Frage“, stimmte ihm Danina zu, die lautlos neben ihnen aufgetaucht war.

      „Du hast es gehört“, sagte Samiras zu dem Perlmuttbaum. „Zwei, mit Mawi drei Gefährten habe ich schon. Doch um erneut den Dämon zu bezwingen, brauchen wir die Hilfe unserer früheren Gefährten. Doch sie ahnen nichts von der erneut auf uns zukommenden Gefahr. Und wir haben nicht die Zeit, zu ihnen zu reisen und sie um Hilfe zu bitten“, sagte Samiras niedergeschlagen.

      „Du unterschätzt meine Möglichkeiten und meine Macht“, erwiderte der Baum vorwurfsvoll. „Ich sorge dafür, dass der Elfenkönig Ephlor dir schon bald zu Hilfe kommt.“

      „Und wie gelangt er hierher?“

      „Mit Xzatras Hilfe, als Spektralfarbe in einem Regenbogen. Diese Reiseart ist für ihn ja nichts Neues.“

      „Und was ist mit Hetzel? Wird auch er uns begleiten?“

      „Ich kümmere mich darum, Samiras. Vertrau mir“, bat der Baum. „Doch verliert keine Zeit. Sobald Ephlor hier ist, müsst ihr euch umgehend auf den Weg machen. Hetzel kann erst zu euch