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Stefan G. Rohr
Der Sommer mit dem Krähenmann
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Inhaltsverzeichnis
Prolog
Novelle nach einer wahren Geschichte.
Es war gerade Anfang Mai. Die Zeit im Jahr, in der man sich zu strecken begonnen hatte und die kargen Wintermonate fast schon wieder in Vergessenheit geraten waren. Das Grün der Bäume lag satt und unverbraucht auf den Kronen, und die Menschen in unserer schönen Fördestadt machten sich bereit für den Sommer, für kurze Hosen, Picknicks, Ostseestrand, Sonnencreme und Badehandtuch.
Die großen Ferien waren zwar noch einige Wochen entfernt, doch das Gefühl, es werde bald so weit sein, schwebte bereits in allen Schülerköpfen, ließ Pläne schmieden und linderte den Schmerz über akut bevorstehende Versetzungsängste. So ein auflebender Sommer bewirkte eben auch schon damals all diese typischen kleinen Wunder, öffnete jedermanns Seelen und Herzen, ließ faszinierend Neues entdecken, bei Fortgeschrittenen unbekannte Hormone Kapriolen schlagen, machte aber allen Mut für das Leben, gab Kraft und Energie.
So begann eben auch der Sommer 1971, auf ebensolche Weise. Frischer Wind von der Förde mischte sich in die aufsteigende Wärme, ließ Blätter rauschen und verteilte den Duft der ersten aufgehenden Heckenrosen in der Umgebung. Die Mutigsten unter uns machten sich schon einmal zum Strandbad auf, auch wenn das Wasser die Vierzehngradmarke noch nicht überschritten hatte. Alles war irgendwie schon auf Sommer ausgerichtet. Er sollte deshalb auch kommen können. Man war bereit.
Mein Sommer in diesem Jahr, ich stand kurz vor meinem fünfzehnten Geburtstag, sollte jedoch ein ganz besonderer werden. Ich wusste das natürlich noch nicht, und auch im Nachhinein betrachtet kann ich ohne Umschweife bestätigen, dass es noch eine ganze Weile gedauert hatte, bis ich begreifen sollte, welch eine wunderbare Begegnung mir das Schicksal in jenen Tagen zuspielte. Denn es war, auch das wurde mir erst viel später klar, eine dieser Fügungen, deren Bedeutung und Wertigkeit sich erst im eigenen Herzen und der Seele entfalten mussten. Ebenso, wie sich aus der Saat die Frucht entwickelt.
Doch war ich noch weit davon entfernt, mir hierüber das Bewusstsein zu schärfen. Denn vor allem hatte ich in dieser Zeit ganz andere Probleme, die mich beschäftigten. Dass ich es daseinsmäßig in vielen Dingen recht schlecht getroffen hatte, war mir zu diesem Zeitpunkt allerdings längst schon bewusst. Mit den meisten dieser Defizite hatte ich mich sogar bereits irgendwie abgefunden. Doch die Tatsache, dass alle ein Fahrrad hatten, manche sogar schon eine Mofa, ich aber mangels ausreichender Mittel immer noch per pedes unterwegs sein musste, setzte mir in dieser Zeit deutlich mehr zu, als die bereits zur Gewohnheit gewordene Kenntnis, von Tyche vaterlos, dazu noch mit einer kranken Mutter ausgestattet worden zu sein.
Der fehlende Besitz eines solchen Gefährts wog deshalb besonders schwer, da der Wettstreit unter den glücklichen Eigentümern solcher Geräte bereits in der nächsten Ebene angekommen war, während ich eben noch nicht einmal ein nacktes Gestell vorweisen konnte. Sie protzten mit einer Torpedo-Dreigangschaltung, mit einem Renn- oder Büffellenker, einige Auserwählte mit einem ganz und gar vollkommenen Rennrad, mit fliehender Zehngangschaltung, und die wenigen Götter unter meinen Schulfreunden besaßen ein orangenes Bonanza-Rad, mit Bananensattel und Profilreifen. In derlei Gesellschaft der Einzige sein zu müssen, der den davonbrausenden Nachbarskindern hinterherschauen musste, den einzigen Zurückbleibenden abzugeben hatte, erneut und auch in dieser Hinsicht wieder einmal den armen Schlucker geben zu müssen, trübte mir die Einkehr des herannahenden Sommers erheblich ein.
Was nutzen blauer Himmel und die herrlichste Ostsee-Frische, wenn das Herz eines heranwachsenden Jünglings schwer wie Blei anmutet? Und das Gewicht zerrte an mir, zog an meinem Selbstbewusstsein, rang mich noch weiter zu Boden, und machte mir abermals deutlich, dass es schon einen Unterschied darstellte, zu den Kindern zu gehören, deren Gabentische zu Weihnachten oder Geburtstagen voll gedeckt waren und die Beschenkten von unbekümmerter Freude über erfüllte Wünsche berichten konnten. Ich kannte das Delta zwischen Wunsch und Wirklichkeit leider schon in epischer Breite, doch in bestimmten Momenten brannte mir die wiederaufflammende Erkenntnis ein neuerliches Loch in meine Seele, und ließ mein Spiegelbild wie das eines Verlierers erscheinen.
Abhilfe war von keiner Seite zu erwarten. Ebenso gut hätte ich nämlich auch auf Sterntalerchen oder die Zahnfee hoffen können. Das Geld für ein Fahrrad, ein solches zum Beispiel, welches mir unser Nachbar, Herr Hinrichsen, gebraucht angeboten hatte, war weder in meinem Sparschwein noch auf dem Bankkonto meiner Mutter vorhanden. Das lag vor allem an zwei Gründen: Zum einen besaß ich kein Sparschwein, da ich weder Taschengelder erhielt, noch in die Pflicht zu nehmende Verwandte oder gönnerhafte Patentanten vorweisen konnte. Das Schicksal hatte derlei Bevorteilungen auf andere verteilt, für mich war offensichtlich nichts mehr übrig. Zum zweiten reichte die Witwenrente meiner Mutter stets nur bis zum Zwanzigsten eines jeden Monats. Für das letzte Drittel hatten sich meinen älterer Bruder und ich uns auf Haferflocken mit Zucker und Kakaopulver zu beschränken. Die Gabe von Taschengeld wäre uns damals deshalb so absurd vorgekommen, wie der Wunsch nach einem eigenen Zimmer oder einer Urlaubsfahrt mit dem familieneigenen Auto an die Italienische Riviera. Wie gesagt, nach Hilfe Ausschau zu halten war ein völlig ungeeigneter Gedanke.
Ich fasste deshalb einen Plan. Und so einfach dieser auch formuliert werden konnte, so schwierig erschien dessen Umsetzung. Nicht sofort, doch je näher der Tag rückte, desto geringer erschienen mir die Erfolgsaussichten. Mein Ziel war es, am Ende des Sommers ausreichend Geld verdient zu haben, um Herrn Hinrichsens Drahtesel erwerben zu können. Er wollte einhundert Mark für diesen, denn es war ein gutes Rad, mit Dreigangschaltung und zwei Felgenbremsen, deren Züge mit rot-weißen Plastikverzierungen umkleidet waren. Um diese astronomische Summe verdienen zu können, hatte ich mir vier Monate Zeit eingeräumt. Pro Monat also fünfundzwanzig Mark. Das wollte ich schaffen, denn mein Konzept war kalkulatorisch mehr als simpel. Fünfmal Rasenmähen zu jeweils fünf Mark im Monat ergäbe das erste Viertel des Kaufpreises. Das Ganze mal vier, und der Drops sollte gelutscht sein. Es bedurfte nur entsprechend vieler Kunden, deren Rasen ihnen vielleicht nicht ganz so wichtig war, und sie diesen deshalb einem zwar eifrigen, zu allem Übel aber leider völlig unerfahrenen Fünfzehnjährigen zur Beschneidung ihres Bodengrüns überließen. Mir war klar, dass derlei