Stefan G. Rohr

Der Sommer mit dem Krähenmann


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half aber nichts. Wenn ich es nicht wenigstens versucht haben würde, wäre auch kein Klagelied zu singen. Und so entschloss ich mich nicht nur für ein zügiges Umsetzen meines Vorhabens, sondern fasste auch allen Mut zusammen, und machte mich auf den Weg in eine der feinen Wohngegenden meiner Heimatstadt, in denen – ganz im Gegensatz zu meinem Wohnviertel – schöne Einfamilienhäuser und so manche größere Villa standen. Denn dort gab es Gärten, Rasen und Hecken. Wege, die es zu fegen oder vom Unkraut zu befreien galt. Rosen, die geschnitten werden mussten, Blumenbeete, die geharkt, Büsche, die ausgedünnt und vielleicht sogar Autos, die gewaschen werden konnten.

      Ich machte mir keine Gedanken darüber, ob meine Konstitution überzeugend daherkam. Ich glaubte vielmehr, dass ein sauberer Scheitel im Haar eher über Wohl und Wehe entscheiden würde, als bullige Kraft und das Kreuz eines Raubmörders. Ich war nämlich das ganze Gegenteil eines kräftigen Burschen. Meine Körpergröße maß ganz sicher schon über 1,70 Meter, doch hatten sich meine Muskeln und Gelenke darauf geeinigt, ihre Entscheidung darüber, dass ich ein Junge war, gegebenenfalls noch einmal zu revidieren. So kam ich eher daher, wie ein Spatz mit Krampfadern, neigte zur Blässe und dunklen Augenringen, und wenn mich Frau Hagel sah, sie betrieb einen der damals noch üblichen Tante-Emma-Läden an der Ecke zum Kupfermühlenweg, fragte sie fast immer, ob ich zuhause auch wirklich genug zu essen bekäme. Und ganz ehrlich, würde heute ein Knabe meiner damaligen Statue vor meiner Türe stehen und sich für harte Arbeit empfehlen, wäre meine Prognose seines Arbeitsergebnisses sicher auch nicht schmeichelhaft.

      Gottlob aber war meine Befähigung zu einer objektivierten Selbstreflektion in jenen Tagen noch stark unterentwickelt, und so stieg mit jedem Schritt in Richtung der `Westlichen Höhe´ meine Zuversicht auf das Antreffen freudestrahlender Gesichter ältlicher Villenbesitzer, deren größtes Problem gelöst werden sollte, nämlich ihr getrübter Blick aus dem Terrassenfenster auf einen zu lang gewachsenen Rasen.

      Schaue ich nun auf diesen Sommer zurück, und das tue ich sehr häufig, erwische ich mich immer mal wieder bei der Überzeugung, dass es auch im Olymp so etwas wie frühsommerliche Euphorie geben muss. Das berühmte Homerische Lachen, dem so köstlichen Einfall des altertümlichen Dichters den Göttern durch ihre Fähigkeit zum Lachen mehr Menschlichkeit zu verleiben, hätte in diesem Moment ganz sicher gehört werden können. Denn es war durchaus wahrscheinlich, dass sie sich am Rand, allen voran Zeus und Athene, herübergebeugt hatten, nach unten schauten, und den tapferen kleinen Franz in Richtung der westlichen Villen stampfen sahen. Sie werden sich dabei ebenso köstlich amüsiert haben, wie sie es taten, als sie den hinkenden Kollegen Hephaistos herumtorkeln sahen.

      Nach einer knappen Stunde erreichte ich die ersten Straßen des Viertels. Dort sah es völlig anders aus, als bei mir zu Hause. Die Straßen waren von hohen Bäumen gesäumt, meist Kastanien oder Buchen. Sie spendeten wohltuenden Schatten und sorgten für ein lebendiges Spiel der Lichtstrahlen, die immer wieder durch das dichte Laub hindurchschienen und helle Kegel auf die Straße warfen. Es war schon sehr warm an diesem Tag und ein leichter Wind, der wie fast immer vom offenen Meer herüberwehte, strich durch mein Haar.

      Ich ging die Straße entlang und schaute mir die Häuser an. Sie lagen meist hinter dichten Buchenhecken, und waren nur durch das Eingangstor zu erspähen. Die meisten von ihnen waren zweistöckig und aus rotem Klinker gebaut. Sie trugen hellrote oder dunkelgraue Ziegeldächer, hatten weiße Holzfenster mit einfachem Kreuz oder Sprossen, und nicht wenige von ihnen zeigten grüne oder blaue Fensterläden mit Lamellen an den Seiten, die den Häusern einen ganz besonders anheimelnden Reiz verliehen. Weiße Gardinen im Inneren, Blumentöpfe oder kleine englische Leselampen aus Messing mit grünem Glasschirmen zeigten an, dass in diesem Haus eine sorgsame Hand für Wohl und Gemütlichkeit sorgte. Kleine Treppen reichten zu den seitwärts gelegenen Hauseingängen, an deren Ende eine schwere Türe zu sehen war, in die ein ovales oder viereckiges Fenster eingelassen war. In den Vorgärten blühten karmesinrote Azaleen, buschige Rhododendren mit großen roten, weißen oder violetten Blüten, rankten sich Kletterrosen mit ersten aufgehenden Knospen an feinen Holzspalieren, oder säumten kugelförmig getrimmte Buchsbäume Ecken und gepflasterte Steinwege, die sich kunstvoll über das Grundstück schlingerten.

      Alles sah sehr fein aus. Ganz anders, als in meinem Block des Arbeiterbauvereins, in denen die Schweißer und Kranführer der hiesigen Werft wohnten. Unsere Flora bestand in einer Unmenge von Heckenrosen und einigen Vogelbeerbäumen, während die Wege mit groben Betonquadern belegt waren und der Platz zwischen den Häusern aus festgefahrenem Sand bestand. Unsere Häuser waren die typischen Mietskasernen der Nachkriegszeit, schnell gebaut, dafür wenig Platz und kein Komfort. Keine der Wohnungen verfügte über mehr als fünfzig Quadratmeter, und nur die Privilegierten konnten einen winzigen Balkon ihr Eigen nennen.

      Meine Mutter, mein Bruder und ich wohnten in einer vierunddreißig Quadratmeter umfassenden und ofenbeheizten Zweizimmerwohnung, mit einem Badezimmer in der Größe von zwei Telefonzellen. Die Hälfte nahm schon ein riesiger Wasserboiler ein, das übliche Interieur drängte sich auf dem Rest. So erschien es mir hier, vor diesen Villen stehend, wie ein Zugegensein auf einem anderen Stern. Es hing nirgends die Bettwäsche heraus, niemand hatte sein Kissen im Fenster platziert und gaffte auf die Straße, niemand klopfte auf der Teppichstange seine Läufer. Alles war still, alles glänzte in vornehmer Pracht, alles schirmte sich durch mannshohe Hecken und gusseiserne Zäune vom Rest der Welt ab.

      Mich verließ bei diesem Anblick sofort der dünne Mut. Sollte ich jetzt einfach eine dieser Pforten öffnen, hinauf bis zu Tür gehen, klingeln und mein Angebot platzieren? Ein Junge, wie ich es war, dessen Adresse zu denjenigen in der Stadt gezählt wurde, die als Problembezirke galten? Wer in einem dieser hübschen Villen wohnte, der blickte doch auf mich herab, würde wohl kaum Vertrauen haben, mir den schönen Rasen zum Mähen zu überlassen, mich gar unbeaufsichtigt um das Haus schleichen zu lassen. War es also nicht eine völlig dämliche Idee, sich hierhinbegeben zu haben, dieses in der Hoffnung, man würde einen dahergelaufenen Jungen mit offenen Armen aufnehmen und ihm eine Arbeit geben? Doch ich war nun schon einmal da. Der Weg war lang genug. Und einfach wieder unverrichteter Dinge zu gehen, es nicht einmal versucht zu haben, war ein schlimmerer Gedanke, als abgewiesen zu werden.

      So passierte ich einige der Häuser. Ein Muster hatte ich nicht im Kopf, ich wollte mich leiten lassen, vielleicht ein Gesicht irgendwo hinter einem der Zäune entdecken, das Freundlichkeit versprach. Doch war ich schnell am Ende der Straße angekommen, ohne meinem Ansatz auch nur im Entferntesten gerecht geworden zu sein. Ich wechselte die Straßenseite um den Rückweg einzuschlagen. Beim vierten Haus standen die Porte offen und ich blieb stehen, um einen schüchternen Blick zu wagen. Die Eingangstüre von dem Haus, es war ein eher kleineres Haus, doch ebenso aus rotem Backstein gebaut, stand offen und ich hörte Stimmen. Ein Mann unterhielt sich laut mit einer Frau, die wohl in der oberen Etage war, und ich konnte vernehmen, dass er sich gerade aufmachen wollte, zum Einkaufen zu fahren.

      Ich stand immer noch an der Pforte und überlegte, ob ich den kleinen gepflasterten Steinweg, der zum Hauseingang führte, einschlagen und dann mein Sprüchlein aufsagen sollte. Meinen ganzen Mut zusammenfassend schritt ich auf das Grundstück. Ich war die ersten Meter zum Haus gegangen, das trat ein mächtiger Mann aus der Türe und schaute mich verwundert an. Er maß an die zwei Meter, hatte eine hellbraune Cordmütze auf seinem Kopf, die sein graues Haar verbarg, und ich erinnere mich bis heute, wie seine hellblauen Augen mich interessiert anschauten.

      Ich blieb wie angewurzelt stehen und mit einem Mal schlotterten meine Beine. Der Mann stand immer noch in der offenen Eingangstüre des Hauses und schien neugierig zu warten, dass ich näher kam. Mir fehlte dafür jedoch vollkommen der Mut und beinahe hätte ich mich umgedreht und wäre eilig von diesem Ort geflohen. Doch bevor ich mich bewegen konnte, trat er ein paar Schritte auf mich zu und fragte mich lächelnd, ob ich jemand suchen würde. Das war nun der Moment, den ich ja eigentlich herbeiführen wollte. Der Augenblick, an dem ich mein Angebot, besser meine Frage, vortragen wollte. Ich riss mich also zusammen und gab bekannt, dass ich gerne Gartenarbeit erledigen würde, und ich vergaß dabei auch nicht zu erwähnen, dass ich derlei für einen äußerst günstigen Preis anbot.

      Wider Erwarten zeigte sich ein überaus erfreutes Lachen auf dem Gesicht des Mannes, dem so etwas wie ein `Dich schickt der Himmel!´ folgte. Er schien in gleicher