Mari März

#4 MondZauber: VERGELTUNG


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ausgemergelte Wesen vor sich im Spiegel. Sie sah echt scheiße aus. Ihr Blick senkte sich resigniert und blieb an ihrem rechten Unterarm hängen. Dort waren immer noch die Bissspuren zu sehen. Warum verheilten sie nicht?

      »Meinst du, ich bin jetzt auch infiziert wie Ian?«, fragte sie aus einem ersten Impuls heraus. Doch dann besann sie sich auf das, was Redrubi gesagt hatte.

      Keine Angst, Kätzchen, ich werde dich nicht zu einem Vampir machen. Du bist die Auserwählte, also wird dein magisches Blut meinen Liebsten zum Leben erwecken.

      Die Tochter der Geisterkönigin, jene fiese rothaarige Bitch, die mit ihnen spielte, als wären die Bewohner der magischen Welt nur Schachfiguren, lediglich Staubkörner in der Zeit, hatte Lyra fast zärtlich mit »Kätzchen« angesprochen.

      Wieso?

      War das wieder eines ihrer Spielchen gewesen oder steckte mehr dahinter?

      Im Nachhinein glaubte Lyra, etwas wie Dankbarkeit in Redrubis Augen gesehen zu haben.

      »Keine Ahnung, ob du jetzt infiziert bist, Kätzchen. Sag du es mir!«, erwiderte Miranda und half ihr beim Ausziehen. Fürsorglich hielt sie Lyras geschwächten Körper unter der Dusche, wusch ihr strähniges Haar und trocknete sie anschließend ab.

      »Ich bin dankbar, dass du noch lebst. Und ich hoffe, das bleibt so!«, murmelte Miranda wenig später, als sie Lyras Haar in ein frisches Handtuch wickelte und ihr eine Zahnbürste reichte. »Fürs Erste wäre ich glücklich, wenn du dir den Grind von den Zähnen schrubbst. Du riechst echt widerlich aus dem Mund.«

      Da war er wieder, Mirandas Sarkasmus. Wenigstens etwas Vertrautes, das Lyras Herz wärmte. Ihre Tante öffnete die Badtür und wies die Rabenbrüder an, etwas Essbares aufzutreiben. Während sie sprach, schaute sie zurück zu Lyra und fragte: »Das hier ist zwar nicht die AIDA, aber der Smutje an Bord kocht nicht schlecht. Hast du Appetit auf was Besonderes?« Miranda bedachte sie mit einem durchdringenden Blick und fügte dann hinzu: »Blut, Menschenfleisch oder so?«

      Lyra grinste, obwohl ihr nicht unbedingt nach Scherzen zumute war. Eine Sekunde horchte sie in sich hinein und wollte erspüren, ob da tatsächlich der monströse Drang war, ihre Zähne in etwas anderes als ein Kaninchen oder Reh zu rammen. Nein, da war nichts. Sie schüttelte den Kopf und versuchte es mit einem Lächeln. »Nee, ein rohes Stück Tier würde mir reichen.«

      »Jungs, sie ist immer noch eine Katze und kein Vampir. Also schaut mal, ob ihr in der Bordküche ein halbes Rind auftreiben könnt … ein Huhn vielleicht oder rohen Fisch.«

      »Ja, roh! Der Bratenduft bringt mich sonst gleich wieder zum Kotzen«, rief Lyra aus dem Bad und ließ sich müde auf der Toilette nieder. Egal, was die Rabenbrüder ihr brachten, sie musste es tapfer in sich hineinstopfen, dem Würgereiz trotzen und wieder zu Kräften kommen. Ihr Trip in die Marble Arch Caves war ein Desaster gewesen, völlig sinnlos. Sie hatten weder Blut noch Gewebeproben vom alten Cathán. Ganz im Gegenteil, der vergnügte sich jetzt mit Redrubi irgendwo. Und der junge Cathán spielte Gott und erschuf seine Armee der Untoten. Hatte er deshalb nur Teile des Urvampirs mitgenommen, weil Redrubi genau wusste, dass sie mit Lyras Blut ihren Liebsten zum Leben erwecken konnte?

      Aber was wollte der junge Cathán mit den Armen und Beinen des Urvampirs? Er war kein Wissenschaftler wie Lyras Großvater, sondern ein beschissener Fanatiker. Allerdings hatte sich etwas verändert, eine durchaus wichtige Variable im Spiel der Götter. Der junge Cathán wollte sich an seinem Bruder rächen, ja. Aber er inszenierte diesen Krieg doch auch, weil er glaubte, auf diese Weise Redrubi für sich zu gewinnen. Er wollte in die Fußstapfen seines Namensvetters treten. Nur ging das jetzt nicht mehr, da der alte Cathán wieder lebendig war.

      »Ach du heilige Scheiße!«

      »Was?«, fragte Lyra und leckte sich die Finger ab. Die Rabenbrüder hatten tatsächlich rohes Fleisch auftreiben können. Es war zwar gefroren gewesen, aber Miranda hatte es mit ein paar Flämmchen aus ihren Fingern aufgetaut. Lyra lehnte sich satt zurück und schaute ihre Tante an, die hektisch auf dem Display ihres Smartphones herumwischte.

      »Du weißt schon, dass die Internetgebühren auf hoher See ein Vermögen kosten?«, brummte Arnar und schaute angewidert zu den blutigen Resten des toten Tieres auf Lyras Teller. Diese tauchte ein weiteres Mal ihre Finger hinein und leckte das Blut ab. Dabei zwinkerte sie Dagur zu, der sich ein Lachen verkneifen musste. Lyra hatte erst Hannibal Lecter imitiert, dann Bram Stokers Dracula in theatralischer Geste. Nein, sie spürte keine Gier nach menschlichem Blut, dafür mit jedem Bissen Rind, wie die Kraft in ihren Körper zurückkehrte. Und deshalb gab sie sich der guten Laune hin und trieb ihre Scherze mit Dagur und Arnar, der sie immer noch skeptisch beäugte.

      »Keine Angst, ich werde dich nicht fressen.« Jetzt nahm Lyra den Teller und leckte ihn ab. Das wollte sie schon immer mal tun, und heute war ein guter Tag dafür.

      »DU wirst uns vielleicht nicht fressen, aber …«, murmelte Miranda, die plötzlich leichenblass war.

      »Was ist denn los?«, wiederholte Lyra ihre Frage. Die gute Laune war wie weggeblasen. Eine düstere Vorahnung durchfuhr sie wie ein eisiger Windzug. »Was ist passiert?«

      Miranda reichte ihr wortlos das Telefon.

      Das Grauen geht um in Spitzbergen!

      31. Dezember: Auf der norwegischen Inselgruppe scheinen Monster ihr Unwesen zu treiben. Die örtliche Polizei ging lange Zeit von einem tollwütigen Tier aus, das seit mehreren Monaten immer wieder Menschen tötete. Doch jetzt fanden die Beamten am Isfjord ein Massengrab mit etwa dreißig zum Teil völlig entstellten Leichen, die in den kommenden Tagen in Longyearbyen obduziert werden. Bewohner der angrenzenden Küstenstädte Barentsburg und Longyearbyen sagten aus, sie würden in der Nacht Wölfe heulen hören.

      Wie passt das zusammen? Wölfe in Spitzbergen? Es gibt Polarfüchse, Rentiere und Eisbären, aber keine Wölfe und vor allem kein Tier, das ein Massengrab ausheben kann.

      Die Angst geht um auf dem Archipel zwischen norwegischem Festland und Nordpol. Hier, wo das Klima rau ist, die Nächte besonders lang sind und die Dunkelheit herrscht. Die Behörden der Regionen verhängten eine vorübergehende Ausgangssperre.

      »Ach du heilige Scheiße!«, wiederholte jetzt Lyra die Worte ihrer Tante.

      »Sag ich doch!« Miranda nahm ihr das Telefon wieder ab. »Und dieser Scheiß ist noch nicht alles. In Nordirland wurde eine Blutbank ausgeraubt.«

      Lyra hob den Blick. »Was? Meinen die uns?«

      Miranda schüttelte den Kopf. »Nein, wir haben doch nur sieben Beutel in Bray geklaut und nicht in Nordirland, sondern im freien Teil der Insel, das nicht unter britischem Protektorat …«

      »Jaja, ich weiß.« Lyra stand auf und ging zum Schrank, wo sie vorhin einige Kleidungsstücke und eine Tasche entdeckt hatte. Ihr Handy musste dort irgendwo sein. Sie fand es nicht und schaute sich in der Kabine um. Zwischen den beiden schmalen Betten war eine Art Nachttisch, wo die Wasserflasche stand, aus der Lyra getrunken hatte. Darunter war ein Schubfach, sie riss es auf und fand ihr Telefon. Der Akku war leer.

      »Haben wir ein Ladekabel?« Sie schaute zu Miranda, dann zu den Zwillingen. Dagur nickte, verschwand aus der Kabine und kam kurz darauf zurück. Lyra nahm das Ladekabel dankbar entgegen, stöpselte es in ihr Handy und den Stecker in eine Dose, die zum Glück kompatibel war. Während sie ungeduldig darauf wartete, dass der Akku so weit geladen wurde, dass sie ihr Handy anschalten konnte, hörte sie Miranda zu, die einen weiteren digitalen Zeitungsartikel vorlas.

      »Aus dem City Hospital in Belfast wurden in der Nacht zum 29. Dezember mehrere hundert Blutkonserven gestohlen. Der Northern Ireland Blood Transfusion Service hat auf dem Gelände seinen Hauptsitz. Im Auftrag des Gesundheitsministeriums beliefert die unabhängige Sonderagentur alle umliegenden Krankenhäuser mit Blut und Blutprodukten und ist zudem mit der Sammlung, Prüfung und Verteilung von über 55.000 Blutspenden pro Jahr betraut.