bring us sugar and tea and rum
One day, when the tonguin’ is done
We’ll take our leave and go.
She had not been two weeks from shore
When down on her a right whale bore
The captain called all hands and swore
He’d take that whale in tow.
Soon may the Wellerman come
To bring us sugar and tea and rum
One day, when the tonguin’ is done
We’ll take our leave and go.
Raketen stiegen in den mondlosen Himmel, ein Lichtermeer ergoss sich über dem Ozean. Lyra ließ sich von der ausgelassenen Stimmung mitreißen, sang aus voller Kehle und tanzte erst mit Miranda, dann mit den Rabenbrüdern und schließlich mit sämtlichen an Deck befindlichen Seemännern, von denen einige gar nicht so grausig aussahen wie in ihrer Vorstellung eines Kapitän Ahab aus Moby Dick. Weitere Lieder wurden angestimmt, Whiskey in the Jar, natürlich die gute alte Molly Malone und der Whiskey floss, als die Sektflaschen leer waren. Genau wie zahllose Tränen flossen. Tränen des Glücks und des Trotzes. Noch nie hatte Lyra ein Silvester wie dieses erlebt, aber sie war auch noch nie von einer Göttertochter gebissen worden.
Alive, alive, oh …
Ja, sie war am Leben. Anders als Molly Malone, aber der Geist des Überlebenswillens klang über die wogende See wie ein Omen.
Gefühlschaos
Die Sonne strahlte vom wolkenlosen Himmel über die blauen Weiten des Ozeans. Die Freiheit war nirgendwo intensiver spürbar als auf hoher See. Lyra genoss den frischen Wind und die Stille an Deck, welche nur vom lauten Dröhnen des Schiffsmotors begleitet wurde. Ein neuer Tag hatte begonnen, ein neues Jahr. Was es wohl bringen würde?
Im Gegensatz zum letzten Silvestermorgen fühlte Lyra heute weniger den sonst so vertrauten Neujahrsblues. War es tatsächlich erst ein Jahr her, dass sie sich den Schädel kahl rasiert hatte, um ihren Eltern zu zeigen, dass sie anders war?
Jetzt lachte sie über ihren aus heutiger Sicht völlig absurden Versuch, mit Äußerlichkeiten ihre Individualität zu manifestieren. Aber das gehörte zur Pubertät dazu, genau wie zum Erwachsenwerden die Erkenntnis, dass Klamotten noch keinen Charakter machten. Solche Äußerlichkeiten dienten immer einem bestimmten Zweck, das wusste Lyra jetzt. Ihre schwarzen Schlabber-Outfits sollten ein Schutz sein, den sie irgendwann nicht mehr brauchte. Tiefe Dekolletés und hohe Schuhe polierten das eigene Selbstbewusstsein auf und konnten darüber hinaus für so manche Überzeugung oder Ablenkung dienlich sein. Und dann gab es eben noch praktische Kleidung. Die Seemänner trugen dunkle Overalls, auf denen nicht jeder Schmierölfleck gleich zu sehen war. Keiner von ihnen würde auf die Idee kommen, im weißen Leinenanzug oder rosa Tutu den Maschinenraum des Frachtschiffs zu betreten. Kurzum: Nicht jedes T-Shirt und auch nicht jede Glatze kam einem Statement gleich, auch wenn Lyra noch vor einem Jahr vehement davon überzeugt war.
Ein Jahr, dachte sie und trat grinsend an die Reling. Wie naiv sie doch gewesen war. Damals hatte sie nicht den leisesten Hauch einer Ahnung gehabt, was die Zukunft bringen würde. Aber im Nachhinein war man schließlich immer klüger.
Aus einem Impuls heraus stieg Lyra auf die Reling und breitete die Arme aus wie einst Kate Winslet auf der Titanic. Nicht alles war schiefgelaufen im letzten Jahr. Ihre Höhenangst hatte sich zum Beispiel in Luft aufgelöst. Noch vor ein paar Monaten wäre es undenkbar gewesen, dass Lyra einfach so während großer Fahrt hier stand, dem Wind trotzte und sich nicht vor Angst in die Hosen machte. Ein Glücksgefühl mischte sich in ihre Bestandsaufnahme. Lächelnd stieg sie zurück aufs Deck und legte beide Hände auf das kalte Metall der Reling. Die Ärmel ihres Sweatshirts rutschten hoch und Lyras Lächeln erstarb. Die Zahnabdrücke der Göttertochter waren trotz ihrer magisch ausgeprägten Selbstheilungskräfte immer noch sichtbar. Vielleicht blieben sie als Narben zurück, als Zeichen, als Stigma wie bei Harry Potter.
»Das ist doch Bullshit!«, sagte sie zu sich selbst und reckte ihr Gesicht der Sonne entgegen. Beim Blick über die Weiten des Ozeans meldete sich das Tier in ihr. Wie gern würde sie ihrem Kopf eine Auszeit gönnen und als Katze in Ruhe schlafen. Aber wo auf dem Schiff sollte sie sich verstecken? Jeder Winkel an Deck war kameraüberwacht. Könnte sie sich als Luchs unter Deck verkriechen? Nein, das war keine Option. Das Tier in ihr wollte Freiheit, keinen stählernen Käfig.
Eine Weile genoss sie die warmen Strahlen der Sonne auf ihrem Gesicht und der Narbe an ihrem Handgelenk. Ihre neuen Sinne machten es möglich, dass Lyra die Fische um sich wahrnehmen konnte. Wie gern wäre sie jetzt einfach ins Wasser gesprungen und ihnen nachgejagt. Aber ein spontaner Sprung von Bord wäre nur schwer zu erklären gewesen, den Seemännern sowieso und auch Lyras Gefährten, die sich in den vergangenen Tagen schon genug Sorgen um sie machen mussten. Miranda und die Rabenbrüder schliefen wahrscheinlich noch, die Silvesterparty hatte erst im Morgengrauen geendet, als der Whiskey alle war.
Seufzend zog Lyra ihr Handy aus der Hosentasche. Sie war nicht ohne Grund an Deck gekommen, jetzt wollte sie endlich auf diese Facebook-Nachricht antworten.
Bist du es wirklich? Du siehst so anders aus.
Melde dich! Daris
In Venedig wusste die magische Welt also, dass etwas nicht stimmte. Oder? Weshalb sonst sollte Daris sich melden?
»Sicherlich nicht, weil er unsterblich in mich verliebt ist«, murmelte Lyra und tippte eine Antwort.
Ja, ich bin es.
Ruf mich an!
Lyra
Sie setzte ihre Handynummer darunter und schickte die Nachricht ab. Wahrscheinlich würde es eine Weile dauern, bis Daris sie las, schließlich war Facebook etwas für Rentner. Lyra kannte niemanden in ihrem Alter, der diese Social-Media-Plattform nutzte. Andererseits hatte sie auch nie viele gleichaltrige Freunde gehabt – damals in der Schule.
Zumindest ihre erste Überlegung stellte sich als falsch heraus. Ihr Telefon klingelte. Wow! Sie hatte hier echt Empfang und es war wirklich Daris.
»Na? Wie geht es dir, meine Schöne?«
Er klang so vertraut und doch so fremd. Bilder fluteten Lyras Kopf … sie und Daris in diesem Club, in ihrem Apartment …Venedig kam ihr vor wie ein Traum. Daris ebenfalls.
»Hallo, Daris!«, flüsterte sie mit monotoner Stimme. Lyra hatte keine Ahnung, wie sie sich ihm gegenüber verhalten sollte. Was sie verband, war ein Flirt gewesen. Nicht mehr. Oder?
»Wie geht es dir?«, wiederholte Daris seine im Grunde banale Frage, die Lyra aber keinesfalls einfach beantworten konnte. Wie ging es ihr? Sie hatte keine Ahnung. Nicht in diesem Augenblick. Ihr Herz hämmerte laut gegen ihre Brust. Was war das … Aufregung, Freude, Liebe?
»Ich dachte, du könntest vielleicht meine Hilfe gebrauchen«, kam es von Daris, als Lyra nicht antwortete. Wie sollte ihr dieser charmante Typ in diesem globalen Schlamassel helfen? Moment! Er war ein Faun, ein Satyr, ein Lupercus, ein Wolfsabwehrer. Auf der kleinen Terrasse ihres Apartments in Venedig hatte Daris ihr davon erzählt, dass er einen hochfrequenten Laut erzeugen konnte, der Hunde oder Wölfe in die Flucht schlug. Damals war ihr das ziemlich egal gewesen, denn seine körperlichen Reize überzeugten seinerzeit weitaus mehr als dieser Umstand, der jetzt hingegen durchaus hilfreich sein konnte.
»Lyra, bist du noch dran? Der Empfang ist echt mies. Wollen wir später …?«
»Nein, alles gut. Daris, du wärst tatsächlich eine große Hilfe. Woher weißt du, dass …?«
Die Verbindung war wirklich schlecht, es knarzte in der Leitung, Daris war kaum zu verstehen. Er sprach davon, dass niemand so genau wusste, woher die Botschaft kam, aber die magische Welt in Gefahr