aber dennoch schienen die beiden ein gutes Team zu sein.
»Antikörper?«
»Ja, jede Menge«, fügte der Alpha hinzu und deutete auf den Monitor. »Es wird leider ein bisschen dauern, bis ich sie extrahiert und aufbereitet habe, um sie Ian zu injizieren.«
»Wie lange?« In Lyra keimte ein Gedanke.
»Das ist schwer zu sagen, ein paar Tage.«
»So lange hat Ian nicht mehr, oder?«
Ihr Großvater senkte den Blick und seufzte. »Lyra, ich weiß es nicht. Das hier ist Wissenschaft, keine Magie.«
»Tacheles! Wie lange wird es noch dauern, bis Ian stirbt und …?«
Der sonst so wortgewandte und kluge Mann schüttelte resigniert den Kopf. Es war ihm anzusehen, dass er lediglich mutmaßen konnte. »Es wird knapp werden, sehr knapp.«
Diese Aussage reichte Lyra. Der aufkeimende Gedanke manifestierte sich in ihrem Kopf und ließ sie handeln. Vielleicht war es falsch, vielleicht zu überstürzt, aber Ian hatte verdammt noch mal keine Zeit mehr. Sie stürmte los, riss am eisernen Riegel und öffnete die Tür zu seinem Gefängnis. »Macht sie von außen zu!«, brüllte Lyra und hörte den ängstlichen Schrei ihrer Mutter.
»Was machst du denn, Kind?«
»Das einzig Richtige«, murmelte Lyra und nahm wahr, wie der Riegel von außen vorgeschoben wurde.
»Sie hat recht, Miriam«, sagte ihr Großvater. »Für die Impfung sind Lyras Antikörper Gold wert, nur für Ian wird sie zu spät kommen.«
»Aber …«
Lyra ignorierte die zitternde Stimme ihrer Mutter, hockte sich vor Ian, der schwitzend und vor Schmerzen gekrümmt auf einem Bett lag. Zärtlich strich sie ihm das schweißnasse Haar aus dem Gesicht. Ein Knurren folgte.
»Er hat seit Tagen hohes Fieber, nichts schlägt an. Wir haben alles versucht, sogar Wadenwickel«, kommentierte der Alpha.
Lyra legte eine Hand auf Ians Stirn, sie war heiß. Sein Körper war verkrampft, rang mit dem Fieber und offenbar qualvollen Schmerzen. Ihre Hand streichelte seinen Rücken, wanderte hinab zu seinem Becken. Vorsichtig zog sie die Hose von seinem Hüftknochen. Das Wolfsmal war noch braun, hatte aber bereits einen roten Rand. Ian verwandelte sich, seine Zellen starben. Nur mit frischem Blut konnten sie am Leben erhalten werden, wenn er tot war. Untot. Ein Zombie. Eine blutrünstige Bestie.
Sie musste dem jetzt ein Ende bereiten.
Was hatte Redrubi in der Höhle gesagt?
Meine Mutter gab mir die Macht der Heilung und die Unsterblichkeit mit auf den Weg.
Das hatte sie doch gesagt, oder?
Keine Angst, Kätzchen, ich werde dich nicht zu einem Vampir machen.
Die Tochter der Geisterkönigin hätte sie töten oder ihr die Bürde der Unsterblichkeit auferlegen können. Beides hatte sie nicht getan, sondern ihr etwas geschenkt.
Aber die guten Dinge haben immer ihren Preis.
Ja, das hatte Redrubi gesagt. Was auch immer sie damit meinte, war Lyra in diesem Moment egal. Die Zeit war nicht auf ihrer Seite, die Wissenschaft stieß an ihre Grenzen, nicht aber die Magie. Deshalb beugte sich Lyra jetzt über Ian, hauchte ihm einen zärtlichen Kuss auf die Wange, packte dann seinen Kopf, drehte ihn zur Seite und rammte ihre Reißzähne in seinen Hals. Herzhaft biss sie sich in die eigene Hand und formte eine Faust. Abwechselnd ließ sie ihr Blut in Ians Mund sowie die perforierte Vene an seinem Hals sickern, die sich aufgrund seiner noch intakten Selbstheilungskräfte immer wieder schloss, genau wie sein Mund. Er warf den Kopf beiseite, etwas in ihm sträubte sich gegen diese Behandlung. Doch Lyra hielt seinen Unterkiefer fest im Griff, drückte seinen Mund auf und biss erneut in seinen Hals, um mehr von ihrem Blut in seinen Körper zu bringen und damit die Antikörper.
»Ich habe noch etwas von deinem Blut. Soll ich es ihm injizieren?«, fragte ihr Großvater vor der Tür.
»Nein«, erwiderte Lyra entschlossen. »Das hier kann und muss mit Magie funktionieren.«
Fast manisch wiederholte sie die Prozedur und hoffte auf ein Wunder. In ihren Ohren dröhnte Redrubis Stimme.
Schatten entsteht durch Licht. Deshalb sorgten die Götter dafür, dass irgendwann jemand kommen würde, der mich und den Fluch der Macha stoppt. Aber bilde dir nicht ein, dass sie es taten, um Unheil von der Menschheit abzuwehren.
»Aber vielleicht von Ian. Ich brauche ihn doch«, flüsterte Lyra, ballte ihre Faust und ließ Tropfen für Tropfen die Hoffnung in den Mund ihres Liebsten fließen.
Die Götter spielen gern, bis sie dessen überdrüssig sind und die Regeln ändern. Und wenn sie es tun, kann ich es auch.
»Oder ich, Bitch!«, murmelte Lyra und verschloss Ians Mund mit einem Kuss. Kraftlos legte sie sich neben ihn, hielt seine Hand und beobachtete jede seiner Regungen. Sein Gesicht wirkte wächsern, als wäre er längst tot. Aber da war ein rasselndes Geräusch in seiner Lunge, sein Brustkorb hob und senkte sich, wenn auch nur sehr schwach.
Lyra hörte ihre Mutter weinen, sah ihr blasses Gesicht hinter den Gitterstäben an der Tür. Welche Ängste sie ausstehen musste, konnte Lyra nur erahnen. Erst jetzt verstand sie wirklich, wie es ihrer Mutter all die Jahre ergangen sein musste, weshalb Miriam das biedere Leben bei den Hertzbergs vorgezogen und die vielen Demütigungen ertragen hatte.
Bisweilen ist die Logik unserer Taten nicht immer auf den ersten Blick erkennbar, auch wenn wir aus tiefstem Herzen handeln. Lyra umfing die Gewissheit, das Richtige getan zu haben. Selbst dann noch, als sich Ians Körper aufbäumte und er qualvoll schrie.
Alles, was ihr jetzt noch blieb, war der Glaube.
Alles, was ihm jetzt noch half, war ein Wunder.
Kräutertee & Katzenjammer
Lyra wusste nicht, wie lange sie so dalag. Wie lange sie an das Wunder glaubte und sich danach sehnte, Ian die Schmerzen abnehmen zu können. Sein Körper kämpfte. Gegen das Virus oder gegen die Antikörper? Niemand wusste es, weder Lyra noch ihre Mutter oder ihr Großvater. Was hier gerade passierte, war neu für alle Mitglieder der magischen Welt, wahrscheinlich selbst für die Götter.
»Sie spielen mit uns. Vielleicht ist es Blasphemie, aber das ist mir egal. Ich spiele mit ihnen, mit dem Schicksal – für dich, mein Liebster«, flüsterte Lyra und hielt Ians bebenden Leib. Er fühlte sich weniger heiß an, weniger feucht vom Schweiß. War das Fieber gesunken? Die Hoffnung starb zuletzt. So hieß es doch, oder? Mit allem, was sie hatte, klammerte sich Lyra an diese Hoffnung und an Ian, der abwechselnd zitterte, dann wieder unkontrolliert zuckte.
Miranda und die Rabenbrüder waren zurück. Gleich nach ihrer Ankunft hatten sie im Labor vorbeigeschaut. Jetzt brauten sie einen Kräutertrank, der sowohl Lyra als auch Ian stärken sollte. Miriam und der Alpha widmeten sich weiter ihren wissenschaftlichen Studien. Mit Lyras Antikörpern war es möglich, ein Impfserum herzustellen. Theoretisch jedenfalls. Ob es ihnen unter den gegebenen Umständen gelang, damit das Virus aufzuhalten? Das Labor war auf dem neuesten Stand, aber eben nur ein Labor und kein wissenschaftliches Institut mit erfahrenen Virologen. Sie mussten improvisieren – in jeder Hinsicht.
»Na, wie läuft’s in Frankensteins Küche?« Miranda war zurück. Ihr roter Lockenkopf erschien am Gitter. »Kätzchen, das musst du jetzt tapfer trinken. Und dein Ian auch.«
Ein Ratschen war zu hören. Miranda öffnete die Luke in der Tür und schob zwei Flaschen auf das metallene Tischchen, das innen angebracht war.
»Schmeckt scheiße, aber hilft hoffentlich«, fügte sie hinzu und zwinkerte durch die Gitterstäbe, als sie die Luke schloss.
Lyra erhob sich, holte die beiden Flaschen und zog fragend eine Augenbraue nach oben. »Dein Ernst?«