Mari März

#4 MondZauber: VERGELTUNG


Скачать книгу

ist mit den Nymphen schon unterwegs. Sie können schwimmen und haben es leicht. Zwar müssen sie über die Straße von Gibraltar und damit einen Umweg in Kauf nehmen, aber die Mädels werden in etwa vier Tagen an der südlichen Küste Irlands ankommen.«

      Lyra hörte zwar nur bruchstückhaft, was Daris sagte, aber sie kam aus dem Staunen kaum heraus. Auch wenn der Anlass wenig Grund zur Freude gab, war es doch ein schönes Gefühl, dass da draußen magische Wesen bereit waren, sie als Verbündete zu unterstützen. Sogar Nina, die damals sagte, dass es nicht ihr Krieg sei.

      Was oder wer hatte sie umgestimmt?

      »Die Nachricht, dass ein großer Kampf bevorsteht, der uns alle betrifft, macht seit Tagen die Runde. Es wird erzählt, dass du die Auserwählte bist, die all das beenden kann. Ich wusste, du bist einzigartig, meine Schöne.«

      Daris war immer noch so charmant, so wunderbar einnehmend. Lyra überlegte fieberhaft, was sie ihm antworten sollte. Bei all dem Irrsinn konnte sie jetzt kein zusätzliches Gefühlschaos gebrauchen und den Faun in ihre Welt lassen, in der Ian doch ihr Herz gehörte. Andererseits war es vielleicht gut, einen weiteren Freund an ihrer Seite zu wissen. Ein wirrer Gedanke formte sich in Lyras Kopf und ohne weiter darüber nachzudenken, rief sie: »Komm bitte direkt nach Island. Ich bin auf dem Weg dorthin.«

      Für einen Moment kniff sie die Augen zusammen. Was hatte sie da geplappert? Warum bestellte sie ihren Ex-Lover dorthin, wo ihre große Liebe Ian mit dem Leben rang? Hatte sie nicht schon genug Stress? Würde Daris überhaupt kommen?

      »Schick mir einen Standort, ich buche den nächsten Flug.«

      Die Funkverbindung brach ab.

      Scheiße! Was hatte sie nur getan?

      Wieder regte sich das Tier in ihr. Sie brauchte einen klaren Kopf. Nur wie? Lyra konnte sich hier an Deck nicht in einen Luchs verwandeln, als Katze konnte sie auch nicht ins Wasser springen – das Tier in ihr würde vielleicht einfach fortschwimmen, seinen Instinkten folgen und nie wieder zurück an Bord finden.

      Aber der Hunger war groß, das Jagdfieber, der Drang nach Freiheit, die Gier nach Erlösung. Alles in ihr sehnte sich nach der Flucht vor den eigenen Gedanken und Gefühlen.

      Komm zu mir!, hörte sie ein Flüstern aus dem Meer. Etwas rief nach ihr … etwas Dunkles, Verführerisches.

      »Kätzchen, alles gut?« Miranda stand plötzlich neben ihr und spürte offenbar, dass Lyra mit ihren Gedanken woanders war. Konnte sie ihrer Tante erzählen, was in ihr vorging? Nein! Wie denn? Lyra konnte dieses plötzliche Gefühlschaos selbst kaum fassen, geschweige denn beschreiben.

      »Ich muss mich bewegen«, sagte sie stattdessen. »Das Tier in mir braucht dringend Auslauf«, was nicht wirklich gelogen war. Über das Flüstern sagte Lyra nichts, vielleicht war ihre verkorkste Wahrnehmung auch nur ein Indiz, dass sie langsam durchdrehte.

      »Äh, das ist jetzt echt ungünstig«, brachte es ihre Tante auf den Punkt. Miranda schaute sich um und überlegte offenbar, wie sie ihrer Nichte helfen konnte. »Hier sind überall Kameras, wobei … Heute hat Danny Schicht auf der Brücke, den könnte ich schon von den Überwachungsmonitoren ablenken. Im Grunde schaut da wahrscheinlich während der Überfahrt sowieso kaum jemand drauf, die sind eigentlich für den Hafen, wo verdammt viel geklaut wird.«

      »Miranda, hör bitte auf zu quasseln und hilf mir!« Lyras Bitte war eine Mischung aus Jammern und Drohung. Gleich würde der Luchs aus ihr herausbrechen, was sie irgendwie verhindern musste.

      »Lenk diesen Danny ab und schick bitte die Rabenbrüder an Deck. Ich …« Lyra schluckte, sie spürte bereits die Reißzähne an ihren Lippen. Was war nur los mit ihr? Beherrschte sie nicht längst das Tier in ihr und konnte genau bestimmen, wann und wo sie sich verwandelte? Mit eisernem Griff hielt sie sich an der Reling fest, konzentrierte sich auf die Wellen, die stetig an den Bug des Frachters knallten.

      »Kätzchen, das Schiff hat volle Fahrt, in etwa zwanzig Minuten werden wir die Küste Islands erreichen. Hab Geduld!« Miranda tätschelte Lyras Schulter und machte sich dennoch auf den Weg zur Brücke. Sie wusste offenbar genau, dass Lyra nicht warten würde, nicht warten konnte.

      Geduld! Klar, unter normalen Umständen hätte sie es vielleicht fertiggebracht, geduldig zu warten, bis das Schiff Island erreicht hatte und sich erst dann hoch oben auf der schneebedeckten Caldera des Vulkans Katla auszutoben. Nur jetzt konnte Lyra das Tier in ihr nicht mal mehr fünf Minuten unterdrücken. Und in Island konnte sie auch nicht einfach los zum Mýrdalsjökull, sie musste zu Ian, der sie hoffentlich noch wiedererkannte. Und sie musste zu ihrem Großvater, brauchte Gewissheit, dass sie nicht zu einem Vampir wurde oder verrückt.

      Komm zu mir!

      Etwas Dunkles, Mächtiges schien von ihr Besitz zu ergreifen. Und dieses Gefühl wurde mit jeder Sekunde stärker, das Tier in ihr mutierte zur Bestie.

      Scheiße!

      Lyra hörte die Rabenbrüder hinter sich. Sie war nicht länger allein, würde also im weiten Ozean kaum verloren gehen, falls ihr Verstand aussetzte. Mit einem Blick zur Brücke, wo Miranda laut kicherte und mit diesem Danny flirtete, kickte Lyra ihre Schuhe gegen eine Containerwand, zerrte erst die Jacke, dann Hose, Shirt und Unterwäsche von ihrem bebenden Körper und stürzte sich in die eiskalten Fluten des Atlantiks.

      Stille umfing sie. In den Fluten des Ozeans, im Körper der Katze fühlte Lyra kein Chaos, keinen Zwiespalt. Hier hatte sie keine Angst, vor der Welt und sich selbst zu versagen, die helle und die dunkle Seite in Einklang zu bringen. Das Meer empfing sie mit all seiner majestätischen Kraft, seiner Ruhe und ursprünglichen Gelassenheit. Der Luchs war nicht in seinem Element und doch gehörte Lyra hierher. Sie war geboren aus dem Wasser und dem Feuer.

      Das Meer war ihr Zuhause.

      Als der Luchs die Lichter des Leuchtturms von Dyrhólaey sah, verwandelte er sich zurück. Lyra schwamm in menschlicher Gestalt weiter. Sie erkannte die zu schwarzem Basalt verzauberten Kobolde, die Reynisdrangar. Dort hatte sie mit Redrubi gesprochen, dort hatte sie sich von Ian verabschiedet … und jetzt war sie wieder hier.

      Heimat ist, wo dein Herz wohnt.

      Ihres wohnte bei Ian.

      Dieser Gedanke ließ ihre Arme schneller ins Wasser tauchen. Lyra schwamm, obwohl die Kräfte sie längst verlassen hatten. Im Grunde grenzte es an Wahnsinn, was sie hier tat. Das Wasser war eiskalt, ihre Haut schmerzte, als würden Millionen Nadeln in sie stechen. Ihre Muskeln waren taub, in ihrer Lunge brannte es. Hektisch warf sie einen Blick zurück, dann nach links. Der Frachter war verschwunden. Er steuerte den Hafen von Reykjavik weiter westlich an.

      Scheiße!

      Jetzt war Lyra auf sich allein gestellt. Was hatte sie nur zu diesem Blödsinn getrieben? Sie verwandelte sich zurück in den Luchs, aber auch das Tier in ihr hatte keine Kraft mehr. Sie waren eins, nährten sich aus einem Körper in unterschiedlicher Gestalt. Lyra breitete die Arme aus, blickte hinauf zum Himmel und ließ sich treiben. Nur einen Moment wollte sie sich erholen, Kräfte sammeln.

      Du bist wie ich, ich bin wie du, hörte sie die Stimme der Göttertochter. War Redrubi hier? Hatte sie nach ihr gerufen?

      Etwas riss Lyra in die Tiefe. Ihr menschlicher Körper glitt in die Dunkelheit.

      Vielleicht wird auch dir die Liebe zum Verhängnis. Gib auf dich acht und entscheide weise!

      Nur tröpfchenweise gelangten die Worte in Lyras Verstand. Jede ihrer Zellen gierte nach Leben. Immer weiter schwebte sie dem Abgrund entgegen.

      Was, wenn sie sich einfach treiben ließ?

      Sie wollte keine Entscheidungen treffen, weder stark noch weise sein. Viel leichter wäre es doch, jetzt einfach aufzugeben, loszulassen. Nur ein Atemzug und das salzige Wasser würde ihre Lunge okkupieren.

      Doch dann