Sicher. Die Reliquie befindet sich wahrscheinlich in Paris, genauer gesagt, in der Nähe der Stadt. Und dort fährst du doch gerade hin, nicht wahr, Jacques? Du musst sie für mich, beziehungsweise für den Bischof, organisieren. Er zahlt, na ja, für dich bleiben dann noch, sagen wir, 10.000?»
«Ehrlich, Hans-Peter.»
«Also gut, das Doppelte.»
«Das Dreifache, Hans-Peter.»
«Gut, gut. Ich sende dir ein Bild von ihr mit der Adresse der Kirche, in der sie sich befinden sollte.»
«Ja, tu das. Ich kümmere mich dann darum. Ciao Hans-Peter.»
«Ciao Jacques und viel Glück», frohlockte der Prior des Klosters Sankt Gallen und machte sich an die Arbeit.
Als Abt Cornelius nach ihm rief, musste Hans-Peter allerdings seine Geheimaktion unterbrechen.
«Hans-Peter, Hans-Peter!»
«Ja doch, ich bin hier», eilte der Prior seinem Abt auf dem frisch gebohnerten Gang des kleinen bewohnten Klosters entgegen, das im ehemaligen weitläufigen Abteigelände, das heutzutage teilweise für Regierungsbüros und teilweise von der katholischen Diözese Sankt Gallen inklusive Bischofswohnung genutzt wurde, beheimatet war.
«Bischof Markus hat mir gerade ein Geschenk für die Nonnen des Klosters Notkersegg rübergebracht, Hans-Peter. Bringst du es den Damen bitte?»
«Wieso ich?»
«Ich hab Rheuma, wie du weisst. Und da oben hat es die ganze Nacht heftigst geschneit. Du willst mir doch keinen Fussmarsch da hinauf zumuten, Hans-Peter, oder?!»
«Fussmarsch?»
«Du darfst den Bus nehmen bis Mühlegg, keine Sorge, Hans-Peter. Aber von der Haltestelle an musst du laufen.»
«Ich könnte auch den Lancia nehmen, Cornelius, der hat Vorderradantrieb. Wenigstens bis zur Badanstalt.»
«Also gut. Aber von dort aus läufst du! Hans-Peter, ein bisschen Bewegung wird dir gut tun. Sonst rollst du uns noch weg», kicherte Abt Cornelius.
«Findest du mich zu dick?»
«Na ja, wer viel Nachtisch schöpft, braucht auch viel Sport, sag ich immer.»
«Sport, aha, Sport», schimpfte der genussfreudige Prior vor sich hin, während er das sperrige Geschenk in seinen Rucksack packte und sich ins verdeckte Cabrio setzte. Heizung und Radio Toxic FM voll aufgedreht, flitzte er die Speicherstrasse entlang und den Nordhang des Schattenhügels der Stadt hinauf, sang zu den letzten Tönen Just Breathe von Pearl Jam, schaltete dann auf Radio FM1 Melody um, wo gerade Two Piña Coladas von Garth Brooks lief und vergass das angebliche Dicksein. Auf dem Weg vom Parkplatz der Badanstalt bis zum Kloster kam es ihm allerdings wieder in den Sinn, denn die Strecke war noch nicht gepfadet worden, sodass der runde Prior mit seinen zwar teuren, aber eher ungeeigneten Wildlederstiefeln bei jedem Schritt tief einsank. Und rutschig war es auch.
«Kerstin, ich hab ein Geschenk für euch», rief der Prior ausser Atem und peilte die Schnee schaufelnde Nonne an, die vor dem Eingang ihres Zuhauses eine Schneise freilegte.
«Hans-Peter, was tust denn du hier bei uns oben?», hielt die Nonne mit Schaufeln inne.
«Bischof Markus schickt mich.»
«Wieso sollte Bischof Markus ausgerechnet dich schicken?» Schwester Kerstin traute dem Prior nicht für fünf Rappen über den Weg.
«Ich bin immerhin der Prior.»
«Ja, das ist mir auch so ein Rätsel.»
«Na ja, eigentlich war es die Idee des Abtes, dass ausgerechnet ich Armer bei diesem elenden Wetter hier hinaufstapfen muss. Hast du nicht ein Gläschen für mich?»
«Nein, kein Gläschen. Um diese Zeit gibt es nur ein Tässchen.»
«Grappa?»
«Nicht im Traum, Hans-Peter. Schwarztee. Biologisch. Mit Milch und Rohrzucker. Los, komm rein. Und stell dich nicht so wehleidig an.»
Im Gästehaus bekam Hans-Peter seinen gesunden Tee und überreichte Schwester Kerstin das Geschenk des Bischofs, einen in sonnigen Farben gehaltenen Gobelin, welcher das Kloster Notkersegg und dessen Umgebung mit den „Drei Weiern“ darstellte. Eine gute Stunde später, endlich wieder daheim in seiner luxuriösen Kammer, sendete der Prior ein Bild der gewünschten Reliquie und die Adresse der kleinen Kirche ausserhalb von Paris an Pfarrer Jacques’ Handy.
3
Inzwischen hatten die Reisenden Mulhouse Ville und die Station zwischen Belfort und Montbéliard passiert, der Zoll war nicht gekommen, Hunki Chrüter war, leicht schläfrig und wieder zurück im Abteil, eingenickt und Silvia Gerlind, die dritte der Damen aus dem Altersheim, hatte es ihm gleichgetan.
«Silvia atmet aber flach», starrte Marie Krug auf die Frau mit dem friedlichen Gesichtsausdruck. Sabine Pfau fasste daraufhin das Handgelenk der Betagten an und flüsterte plötzlich: «Scheisse.»
«Was ist los?», wollte Pfarrer Jacques alarmiert wissen.
«Silvia ist tot.»
«Was?», rief der Pfarrer nochmals und untersuchte den Sachverhalt selber. «Es stimmt. Silvia Gerlind ist tot. O.K., Leute, Folgendes: Wir dürfen den Tod Silvias auf keinen Fall melden. Sonst bekommen wir riesige Bürokratie-Probleme wegen der Überführung zurück in die Schweiz und ausserdem müssten wir umkehren. Wir tun einfach so, als würde sie noch leben.»
«Müssen wir sie überhaupt überführen?», steckte Tessa Weissfeld aus dem anderen Abteil den Kopf herein, «soviel ich weiss, hat sie keine Verwandten. Wir könnten sie also auch in Frankreich beerdigen.»
«Gute Idee», meinte Pfarrer Jacques erleichtert, «sag das den anderen und dass sie schweigen sollen, Tessa.»
«Klar, mach ich.»
«Wann wird die Leichenstarre einsetzen und wie lange wird sie andauern?», wollte Marie wissen.
Oberschwester Klara ergriff das Wort: «In einer guten Stunde wird sie wohl einsetzen und in zwei Tagen wird der ganze Spuk wieder vorbei sein. Am besten legen wir sie langgestreckt hin. Dann bleibt sie auch so und wir können sie dann in Paris einfach in die Mitte nehmen und eskortieren.»
Also zogen sie zwei der sich gegenüberliegenden Sitze aus und betteten die Verstorbene darauf zurecht.
4
Roszalia Zarew, Kroatin und bei der Kantonspolizei Zürich tätig, hockte vor ihrem Fernseher zuhause und schaute sich eine Folge von SOKO Wien an, die sie vor kurzem auf Video aufgenommen hatte. Ganz insgeheim liess sie sich vom elektrisierenden Augenzwinkern des serbischen Schauspielers berieseln, was sie natürlich nie zugeben würde, denn offiziell war sie gegen ganz Serbien und überhaupt, die Schweizerinnen und Schweizer mochte sie auch nicht besonders, allen voran einen ihrer Chefs, Abteilungsleiter Normann Kluss, gross, schwabbelig und blöd wie Bohnenstroh, Letzteres die ideale Voraussetzung, um bei der KAPO Zürich in hohem Masse befördert zu werden. Ein total borniertes Arschloch, doch er hatte das Sagen. Roszalia nahm einen weiteren tiefen Zug von ihrem Joint, dessen Gras sie selber zog, was niemanden etwas anging, damit sie nicht mehr an ihre Arbeit und deren lausige Umstände denken musste und widmete sich wieder den für einen original frühabendlichen und jetzt frühmorgendlichen Krimi doch recht vielen Maschinengewehren im Film.
5
Endlich! Nach genau vier Stunden und drei Minuten, also um elf Uhr 37, traf die nicht mehr ganz lebendige Reisegruppe in Paris, Gare de Lyon, ein. Pfarrer Jacques auf der einen Seite, Oberschwester Klara auf der anderen, trugen sie die verstorbene Silvia aufrechten Ganges und umringt von Pfarrer Sebastienne mit seinem Riesenkoffer, Sabine Pfau, die ihre Hutschachtel auf Kopfhöhe hielt, sodass sie Silvias Gesicht, der Kiefer mit einem bunten Tuch festgebunden