Jens van der Kreet

Der Mann mit der Säge


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in ihr erschallte.

      Becky weint!

      Sie sah ihre Schwester auf einem Abschnitt der Terrasse, der über einen betonierten kleinen Weg mit den beiden Ställen, in denen jeweils sechzehn Kaninchenkäfige untergebracht waren. Die Stallbauten sahen von weitem aus wie hässliche Betonklötze mit Ziegeldach, erfüllten aber ihren Zweck. Dazwischen gab es Blumenbeete, die Hedi selbst angelegt hatte.

      Becky schmiegte sich an die Kittelschürze ihrer Großmutter. Hedwig streichelte Becky zärtlich die langen blonden Haare und wischte die Tränen des Mädchens aus seinem Gesicht.

      „Was ist los? Was ist passiert?“ rief Nina.

      „Die Kaninchen sind tot“, sagte ihre Schwester mit tränenerstickter Stimme, „wir wollten nur mit den Kaninchen spielen. Ich bin zuerst zu Mister Schiefer gegangen. Und dann habe ich die Käfigtür aufgemacht und habe gesehen, dass er nur da liegt. Ich dachte, er schläft. Und dann habe ich ihn herausgenommen …“

      Rebeccas Stimme versagte.

      „Mein Gott“, sagte Nina und blickte ihre Großmutter an, „wie schlimm ist es?“

      „Es sind nicht alle tot“, sagte Hedwig, „ein Kaninchen fehlt. Und die Tiere im hinteren Stall sind alle noch am Leben. Zum Glück. Erwins Goldmedaillengewinner Lucky Luke ist unversehrt. Ein Silberstreif am Horizont.“

      „Und die im vorderen Stall sind alle tot?“

      Nun war auch Nina bei den beiden angelangt und leistete Hedi beim Streicheln des Kopfes ihrer Schwester Gesellschaft.

      „Wir haben wirklich Glück im Unglück gehabt.“

      „Wie viel Kaninchen sind denn umgekommen?“

      „Im vorderen Bau haben wir acht Kaninchen gehabt. Sieben sind tot, eines wurde geraubt.“

      „War das ein Anschlag? Hat die Tiere jemand vergiftet?“

      „Ich weiß es nicht. Es könnte auch RHD sein.“

      „RHD? Was ist das?“

      „Eine Tierseuche. Deswegen habe ich den Tierarzt hierher gebeten.“

      Eine Träne lief Hedwig über die Wange.

      „Wo ist Opa?“ fragte Nina.

      „Er ist kurz rüber zu Herrmann Weber gegangen, wird aber sicherlich gleich zurückkommen. Er weiß noch nichts davon. Oh, das wird heftig für ihn. Er hat sich so reingehängt in die Kaninchenzucht.“

      „Ich schaue mir das Ganze einmal an.“

      Im hinteren Betonbau fand Nina die Situation so unversehrt vor, wie ihre Großmutter sie ihr geschildert hatte. Barney Geröllheimer glotzte sie noch genauso unbeteiligt an wie immer, Majestix mümmelte an seinem Futter. Der gleiche Geruch wie immer. Keine Anzeichen eines Anschlages.

      Am vorderen Bau war das Schloss lädiert. Möglicherweise hatte es jemand aufgebrochen. Die Polizei würde sich darum kümmern müssen. Falls ihr Großvater wegen eines Kaninchen-Massakers die Polizei überhaupt einschalten würde. Nina war sich da nicht so sicher.

      Mister Schiefer, Rebeccas Liebling, lag leblos in seinem Käfig, und das taten auch sechs weitere Kaninchen. Ein Käfig war leer. Papa Schlumpf war verschwunden.

      Die toten Rammler und Häsinnen hatten allesamt Preise gewonnen. Natürlich. Wenn es ein Anschlag war, würde man sich kaum mit ordinären Streichelkaninchen zufrieden geben. Es müssen schon Gewinner sein, damit es ihren Großvater auch finanziell trifft.

      Wer macht so was? fragte sich Nina.

      „Wie groß ist denn der finanzielle Schaden?“ fragte Nina, als sie wieder zur Großmutter zurückgekehrt war.

      „Der Schaden ist immens, aber so genau kann ich dir das nicht sagen.“

      „Verleiht ihr die Preisträger eigentlich immer noch zum Decken?“

      „Ja, das tun wir. Du glaubst nicht, wie viel Geld wir damit verdienen.“

      „Die schönen Kaninchen sind tot, und ihr redet immer nur über Geld“, sagte Rebecca, „ich will zu Mama. Wo ist Mama?“

      „Mama ist in Kur, das weißt du doch“, rief Nina.

      „Das glaubst du doch selbst nicht“, zischte Rebecca, riss sich von ihrer Großmutter los und trottete zurück zu den toten Kaninchen. Es musste schlimm sein für Rebecca. Sie liebte die Tiere über alles, hatte ihnen die Namen gegeben.

      Tierarzt Dr. Klumb und Erwin trafen gemeinsam ein.

      „Hedi, Dr. Klumb sagt, es ist etwas mit unseren Kaninchen.“

      „Die im vorderen Bau sind alle tot, eins fehlt. Ich habe Dr. Klumb gerufen, damit er feststellt, an was sie eingegangen sind.“

      „Das kann ich nicht glauben!“ rief Erwin aus.

      Beide nahmen den Tatort ins Visier. Der Doktor untersuchte die Tiere mit seinem Handschuh. Danach zückte er seinen Instrumentenkasten und zapfte den toten Kaninchen Blut ab. Rebecca, die sich hinzugesellt hatte, stand daneben und beobachtete die Szenerie skeptisch.

      „Wann kann ich mit Ergebnissen rechnen?“ fragte Erwin.

      „Nun, ich werde die Proben morgen früh abgeben. Ich schätze, in zwei Wochen dürften die Ergebnisse fertig sein.“

      „Glauben Sie, dass jemand die Kaninchen vergiftet hat?“

      „Ja.“

      „Woran können Sie das sehen?“

      „Jemand hat das Schloss aufgebrochen.“

      Dr. Klumb zeigte auf die Eingangstür des Stallgebäudes.

      „Oh.“

      Erwin inspizierte das Vorhängeschloss, dessen Bügel gewaltsam durchtrennt war.

      „Aber die medizinischen Ergebnisse teile ich Ihnen wie gesagt noch mit. Falls Sie die Angaben für die Polizei brauchen, bekommen Sie diese auch gerne schriftlich.“

      Erwin schaute langsam nach hinten und nach vorne, offenbar vergewisserte er sich, dass Rebecca außer Hörweite war.

      „Als ob ich wegen ein paar verreckter Karnickel die Polizei rufe“, sagte er dann, „soweit kommt es noch. Ich denke, wir können die Dinge hier in Altweiler ganz gut unter uns regeln.“

      „Wie sie meinen“, sagte Dr. Klumb, „Sie werden schon selbst wissen, was Ihnen die Kaninchen wert gewesen sind, die Ihre Feinde getötet haben.“

      „Wie kommen Sie darauf, dass ich Feinde habe?“

      Klumb lachte laut auf.

      „Mal abgesehen, davon, dass im Ort jeder mitbekommen hat, welch einen großartigen Ruf Sie durch diesen Naturschutzstreit bekommen haben …“

      „Ja, ja.“

      „Nicht, dass ich mich in diesen Streit einmischen möchte“, fuhr Klumb fort, „aber jetzt ist schon ziemlich klar geworden, dass Sie offenbar der Natur nicht sonderlich zugeneigt sind.“

      „Das ist ein typisches Vorurteil. Sie kennen mich doch gar nicht.“

      „Deshalb möchte ich mich auch eines abschließenden Urteils enthalten. Aber die Tatsache, dass es Ihnen egal zu sein scheint, dass jemand ihre Tiere vergiftet hat, spricht für sich.“

      „Ich nehme Ihre kritischen Anmerkungen gerne zur Kenntnis. Ich werde es mir überlegen mit der Polizei.“

      Erwin geleitete den Tierarzt zum Ausgang des Gartens, der zur Straße führte.

      „Auf Wiedersehen und Danke für alles.“

      „Als ginge es ihn etwas an, ob ich zur Polizei gehe oder nicht“, sagte Erwin jetzt zu Nina, „dieser Lackaffe!“

      „Reg dich nicht über ihn auf, Opa“, sagte Nina, „diese armen Kaninchen. Arme Becky, so kurz vor