Jens van der Kreet

Der Mann mit der Säge


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Uhr dreißig, mein Sohn“, sagte der Bürgermeister.

      Tim verzog das Gesicht.

      „Was haben wir miteinander vereinbart?“

      Er schlägt immer stärker nach seiner Mutter, dachte Martin, diese Disziplinlosigkeit. Wie gut, dass sie das Sorgerecht für ihn nicht bekommen hat. Sie hätte sich eben nicht mit einem Anwalt anlegen sollen. So eine juristische Ausbildung hatte schon ihre Vorteile, und wenn es die Kontakte in die Richterschaft waren.

      „Ich musste noch etwas klären“, sagte der Sohn, „es gab eine Auseinandersetzung.“

      „Ich will nichts darüber hören!“

      Tim schwieg.

      „Mein Junge, wenn du im Leben etwas erreichen willst, dann geht das nur mit Disziplin und harter Arbeit.“

      Er bewegte sein Haupt näher zu dem seines Sohnes, seit geraumer Zeit musste er dazu aufschauen.

      „Wann finden deine Abiturprüfungen statt?“

      „Im Mai, Vater.“

      „Im Mai. Und du wagst es … dich bis nachts um viertel vor eins …“

      „Halb eins, Vater.“

      Martin schleuderte seinem Sohn die Vorderseite seiner Handfläche ins Gesicht. Tim taumelte gegen die Wand neben seinem Zimmer. Martin packte seinen Sohn und versetzte ihm einen Faustschlag, sodass dieser der Länge nach auf den Teppichboden flog. Dann trat er ihm ins Gesäß.

      „Ich warne dich, mein Junge. Du hast um diese Zeit da draußen nichts verloren. Nicht während der Vorbereitungen zu deinem Abitur. Den Rest der Zeit bis zur Prüfung hast du Hausarrest.“

      Mit diesen Worten verzog sich Martin Wolf, Tim trottete in sein Zimmer. Hätte der Bürgermeister noch einen Blick zurück gewagt, dann hätte er die Augen des Jungen gesehen.

      Voller Hass für ihn, den Vater.

       11.

      Erwin kam gerade vom Einkaufen und trug eine Kiste mit Obst und Gemüse den Treppenaufgang zu seiner Haustür hinauf, da hörte er ein lautes fröhliches „G’Morje“ vom Nachbargrundstück.

      Sein Nachbar Theo stand da, in seiner blauen Arbeitskluft und benetzte seinen Rasen mit einem langen Gartenschlauch.

      „Warst du einkaufen?“, fragte Theo.

      „Nein, das sieht nur so aus“, sagte Erwin.

      Schweiß stand ihm auf der Stirn.

      „Du, Erwin, sei mir nicht böse, aber das mit dem Naturschutzgebiet, das finde ich nicht gut.“

      „Welches Naturschutzgebiet?“

      „Na, weil du doch gegen das Naturschutzgebiet bist. Weil du da doch das Häuschen hast. Das haben sie mir letztens erzählt. In der Eulenklause nach unserer Chorprobe.“

      „Ich weiß von nichts, Theo. Ich war immer dafür, dass wir in der Aue am Sportplatz ein Naturschutzgebiet einrichten. Manche Gemeinderäte sind gegen das Naturschutzgebiet, aber die sind das aus wirtschaftlichen Erwägungen. Wegen der Gewerbeansiedlung.“

      „Aber du hast da ein Haus. Wenn das Gebiet als Naturschutzgebiet deklariert wird, kannst du doch da gar nicht mehr anbauen.“

      „Ich will gar nicht anbauen. Wir überlegen sogar, ob wir das Häuschen nicht verkaufen oder sogar abreißen.“

      Theo blickte skeptisch.

      „Aber Erwin, wenn du da doch ein Haus hast, dann musst du gegen das Naturschutzgebiet sein. Ich wäre es jedenfalls. Ich finde es aber nicht gut. Gar nicht gut.“

      Erwin stellte die Kiste mit dem Gemüse ab. Dies hier konnte dauern. Sollte der Mann mit der Säge jetzt seine besten Freunde und seine Nachbarn noch dazu gegen ihn aufhetzen? Offensichtlich war Martin alles zuzutrauen.

      „Theo, du musst mir glauben: Ich war nie gegen das Naturschutzgebiet, und ich werde nie dagegen sein. Wer hat dir denn diesen Unsinn überhaupt erzählt?“

      „Rainer Späth.“

      Ah, dachte Erwin. Rainer Späth. Hatte sich nie durch sonderlich gute Ideen hervorgetan.

      „Rainer Späth ist doch selbst gegen das Naturschutzgebiet gewesen, wegen der Gewerbeansiedlungen.“

      Eine alte Position des Bürgermeisters. Rainer stand immer auf dem gleichen Standpunkt wie der Bürgermeister.

      „Lass dir nichts einreden, Theo. Es stimmt nicht, was über mich erzählt wird. Im Gegenteil: Es ist der Bürgermeister, der die Aue nicht zum Schutzgebiet machen will.“

      „Ich gehe oft in der Aue hinter dem Sportplatz spazieren. Und weißt du, was ich da letztens gesehen habe?“

      Erwin legte die Stirn in Falten und zwang sich zu einem Blick über den Zaun.

      „Was denn?“

      „Blindschleichen“, sagte Theo. „Fast ausgestorben. Bei uns leben sie vor der Haustür. Ich wüsste gerne, was du sagen würdest, wenn die da unten in der Dritten Welt die Galapagos-Inseln mit Industrie zupflastern würden. Ihr Sozis würdet doch dann am allerlautesten schreien. Aber wenn es bei euch vor der Haustür ist, hört man nichts von euch“, schnaufte der Frührentner, „von euch kommen widersprüchliche Ansagen. Ich hab euch immer gewählt. Das werde ich beim nächsten Mal nicht mehr tun. Ich bin und bleibe Naturfreund.“

      Deswegen verschwendest du beim ersten Sonnenstrahl des Jahres hektoliterweise Wasser, dachte Erwin.

      „Erwin!“ tönte es plötzlich laut aus dem Haus. Hedis Stimme.

      „Hä?“ schrie Erwin zurück.

      „Telefon!“

      „Ich komme!“

      Erwin nahm den Gemüsekarton vom Boden und hechtete dann mit der schweren Kiste auf den Armen die Treppe hoch.

      „Wer ist es?“ keuchte er noch, während er den Hörer entgegennahm.

      „Er hat seinen Namen nicht genannt. Wollte mit dir sprechen“, antwortete Hedi.

      „Erwin Lohse“, keuchte er ins Telefon.

      Keine Reaktion.

      „Hallo? Wer ist denn da bitte?“

      Das Telefon blieb stumm.

      „Wer ist denn dran? Hier ist Erwin Lohse!“

      Es meldete sich niemand. Stattdessen vernahm Erwin einen Rülpslaut.

      Dann war das Gespräch weg.

      „Blöde Kinder“, sagte Erwin, „wollen sich einen Scherz machen und mir einen Streich spielen.“

      „Was war denn?“, fragte Hedi.

      „Es hat sich niemand gemeldet. Ich habe nur ein Aufstoßen gehört. Seltsam.“

      Er kratzte sich am Kopf, wo sein spärlicher werdendes weißes Haar unter seiner Baskenmütze zu jucken begann.

      „Ob das Zufall ist?“ sinnierte Hedi.

      „Ob was Zufall ist?“

      „Na, vor einer Stunde hat schon einmal einer angerufen.“

      „Und? Wer war es? Was wollte er?“

      „Es hat sich niemand gemeldet. Genau wie bei dir, offenbar. Oder?“

      Erneut kratzte Erwin sich am Kopf, dann schüttelte er ihn. „Ich verstehe das alles nicht.“

      Er trug das Gemüse in die Küche.

      „Was gibt es heute zu essen?“

      „Hast du das Gemüse vollständig gekauft, wie ich gesagt habe?“

      „Aber selbstverständlich.“