Gregor Kohl

Zwei Klare auf den Weg


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kein Jubel. Aber die haben das alles gemacht, als endlich die Nazis weg waren, die ja sowieso keiner wollte, danach gab es ja keine mehr. Dann wurden die Ärmel hoch und Stein auf Stein, das Häuschen wird bald fertig sein, alles wieder schön im ganzen Land. Finster, dieser Brief.

      Aber vielleicht hätten Heinrich und Käthe das den anderen im sauberen Land nach dem Kirchgang, vorm Verprügeln, mit dem Frühschoppen vielleicht, vielleicht vor 36 noch, oder früher noch, vor den ersten Konzentrationslagern eben den Sozialisten, den Kommunisten, den Sinti und Roma, den Zigeunern, den Schwulen, jaja, den Lesben auch, den Juden, den Freimaurern, den anderen halt, denen, die nicht so sind wie die anderen, denen hätte man doch auch sagen können, dass das alles nicht so tragisch ist. Und was ist mit der Dietrich? Den Manns? Dem Einstein, Mensch ja, dem Einstein, der hat doch die Atombombe, ja, den hätten wir brauchen können. Jude. Stimmt. Aber wenn wir dem doch gesagt hätten, du Albert, bleib doch da. Spare die tausend Mark für die Passage, für die Flucht nach England, in die Schweiz, nach Marokko, nach Amerika. Behalte die und baue hier doch was auf. Bleib hier. Bleibt alle hier. Es wird schon nicht so schlimm.

      Außerdem, wer denkt denn an die anderen Völker, die wollen doch auch lieber unter sich sein. Das geht doch nicht und gerade die Juden, ja, sieht man ja was sie davon haben, von ihrer Diaspora. Vom Abhauen. Sind doch immer schon abgehauen. Jetzt hocken sie da unten und können immer noch keinen Frieden halten. Sieht man doch. Und jetzt, meinen Alfred und Edith, jetzt, heute, siebzig Jahre nach dem "Kriesch", wo alles so schön wieder aufgebaut ist, wo wir uns doch längst für alles entschuldigt und so haben. Jetzt kommen die in unser Land, die anderen, kommen hierher und wollen von dem leben, was wir vom Tisch fallen lassen. Neenee. Bleibt mal schön da wo ihr herkommt. Wir helfen schon genug. Zwei Lose bei der Aktion Sorgenkind. Brot für die Welt, Flutopfer im Osten, Tsunamiopfer. Mensch, was hat die Kleine geweint, als sie da so saß, in den Trümmern, keine Mutter. Das arme Kindchen, die hat uns aber wirklich Leid getan, die hätten wir dann doch aufgenommen, mit den schönen dunklen Kirschenaugen. Da muss man doch, das geht doch nicht anders. Im Fernsehen. Aber hierher? Nee. Rudolf und Hildegard wollen so weit dann doch nicht gehen. Eine Spende für ein paar Hühner, für ein paar Gänse und Enten. Oder vielleicht so eine Ziege? Ist doch die Kuh der Armen! Dort ist es auch wärmer. Das Geld nur nicht für die Schleuser. Sonst machen die hier wieder Feuer im Zimmer. Hat man doch schon gehört, die sind nicht zivilisiert. Fackeln alles ab. Wenn mit Fackeln, dann doch lieber wir selbst. Wer ist von denen denn noch dort, wenn wir dort Urlaub machen wollen. Wovon dann erzählen, wenn die doch hier sind. Wer glaubt uns denn noch den netten Afrikaner? Den gepflegten Ägypter und so weiter. Kann doch nicht an jeder Ecke ein Chinese-To-Go. Geht nicht.

      Anonym. Alles anonym. Anonymes Geschreibsel von überlebten Alten, von Überlebenden. Kein Bild - nur Kinderbilder aus harten Zeiten. Vorwürfe über die späte Geburt, dazu, dass selbst nichts geleistet, nichts aufgebaut, nie gehungert, nichts entbehrt, nicht um den Vater, den Onkel, die Oma getrauert. Nie was gefehlt, immer gehabt, nie gefroren, nie die Scholle bearbeitet, keine Hasen geschlachtet, nie das Gefühl gehabt, wieder wer zu sein, neun Jahre nach dem letzten Schuss, nichts gehabt, den Ami im Haus, den Franzosen, den Engländer, nicht zu reden vom Ivan. Nie um Kaugummi gebettelt, nie Schläge vom Lehrer bekommen, nie nasse Füße gehabt, immer eine Mütze auf, immer mit Nivea gecremt, sie aber keine Butter auf dem Brot, nix Nutella, nix Kinderschokolade. Fleisch, einmal die Woche, wenn es hoch kommt. Das größte immer der Vater. Dann erst der kleine Alfred, die kleine Edith. Puppen ohne Augen, nie Fußball, immer nur Dosen. Säuberlich ausgekratzte Dosen, nie was übrig geblieben. So war das. Sonntags in die Kirche. Sich geschworen, dass es weiter gehen wird. Immer weiter, mit den eigenen Händen alles aufgebaut. Schuldfrage? Ja, die auch noch beantwortet. Schuld, aber nicht so viel. Nie nix gewusst. Ja, da Stand eine Moschee, nein eine Synagoge, jaja, die Zeiten. Die hat gebrannt. Jetzt steht ein Gedenkstein. Und? Wir mussten doch alle, das mussten wir doch. Vater verraten, Mutter denunziert, Kinder geschenkt, Russinnen beaufsichtigt. Immer gut zu ihnen. Wo die dann hin sind? Woher sollen das Alfons und Hildegard, Josefine und Josef, Siegfried und Sigrid denn wissen?

      Wir hatten Entbehrungen. Wir wären auch gerne weg. Woanders hin, wo schon alles fleißig aufgebaut war. Wer hätte die nur genommen? Welches Land war nicht zerstört? Wer hätte die Menschen aus dem Volk des Völkerhasses haben wollen? Darauf wird es keine Antwort geben. Sie wird nicht gestellt. So langsam mutieren die Kinder der Täter zu Opfern, jedenfalls in diesen Briefen. Ich schreibe keinen Leserbrief mehr.

      Oder - nächstes Mal einen Leserbrief zu Yoga-Jane, zu den Vorzügen der freien Körperkultur, zu Schönheitsoperationen, Schönheitswettbewerben, zu Germany's Next Top Model, zu Miss World und Wet-T-Shirt-Party. Dann soll ich wieder Post bekommen, wieder mit Bildern, nur Bilder, nur Frauen, nur positives, nur Schönheit, Sex, Rock'n'Roll. Auf diesen Samstag freue ich mich. Das wird ein Fest. Morgen nicht vergessen Ordner zu kaufen, keine Schnellhefter, dann das Thema thematisieren. Bei der Zeitung, beim Redakteur mal vorfühlen. Selbst das Thema bringen. Kommt nicht eine dieser Schnittchen in das Bierdorf? Zeigt Straps und Oben-Ohne und bekommt dreitausend Euro. Positiv berichten. Wie toll das und so weiter.

      Der Samstag ist doch noch gut geworden. Damit kann man leben. Das ist ein Ausblick auf eine bessere Zukunft. Jetzt wird das Zimmer auch wieder wärmer. Ich hatte mit Alfred und Edith doch den Mangel mitgemacht und angefangen zu frieren. Ich musste niesen, um den Staub vom Bombenschutt aus der Nase zu bekommen. Jetzt nicht wieder von vorne. Kaffee wartet, echter Kaffee, keinen Malzkaffee. Ja, ich entbehre nichts.

      "Ich bin der gute Hirte und kenne die Meinen, und die Meinen kennen mich, wie mich mein Vater kennt, und ich kenne den Vater. Und ich lasse mein Leben für die Schafe."

      So hat das Einer gesagt und der Eine hat das ernst gemeint. Das sollte danach doch keinem mehr passieren. Unsere neuen Hirten wechseln die Herde, aber erst wenn die alten Schafe geschoren sind. Die Schäfchen werden auch nicht mehr ins Trockene geführt, die lässt man schön im Regen stehen, Auf, auf zu neuen Ufern. Nach mir die Sintflut und alle Mann bleiben an Bord, nur ich gehe. Der Kapitän hat doch eigentlich nur getan, was die Kapitäne von Wirtschaftstankern schon seit Jahren tun. Was soll also der Vorwurf. Er ist einer von uns. He's one of us. You're not one of us.

      So geht's Business, wie der Monaco-Franz uns schon vor dreißig Jahren, oder mehr. Wir stehen auf der richtigen Seite, haben Moral und kommen auch ins Himmelreich.

      An der Ecke bleibe ich stehen. Eine Bettlerin sitzt auf der kalten Erde, auf dem Asphalt, zwei Frauen stehen daneben, entrüsten sich, dass man doch nicht so auf der kalten Erde sitzen kann, sie werde sich erkälten, krank werden oder noch schlimmer. Sie geben ihr nichts, laden sie nicht auf eine Tasse Kaffee ein. Ich gehe zum Blumenstand, der ist da auch noch im tiefsten Winter. Die Blumen müssten doch erfrieren hier. Ich kaufe eine Rose, rot, lasse mir den Stiel abschneiden, nehme den geschlossenen Blütenkopf, laufe zurück, lege ihr mit ihrem gebeugten Haupt die Rose in die ausgestreckte Hand, sie schließt die Hand, sie hebt den Kopf, ich schaue in alte Schildkrötenaugen. Ist es die Weisheit dieses Tieres oder doch eher die Hilflosigkeit dieser Art im Wettrennen mit dem Zeitgeist? Am nächsten Tag ist sie nicht mehr da.

      Und ich? Ich werde nicht mehr krank. Die Wochenenden halten mich gesund, der Likör, das Bier, der Schnaps. Damit wird das Blut gereinigt, das vegane Wochenende mit fleischlosen Spirituosen hilft mir immer auf die Beine. Die Eintracht spielt dieses Mal Freitag.

      Auf der Suche nach dem Sinn des Lebens. Farbe bekennen, nichts unbeantwortet lassen, reagieren und agieren, das Tempo aufnehmen. Der Sinn des Lebens? Nicht danach suchen, der findet dich. Und wenn nicht. Dann gibt es keinen, für den Moment, für dich, für deine Umgebung, deine Mitmenschen, das neueste Handy, Smartphone, Tablet. Einen Spruch aus der Bibel, aus dem Koran, der Tora, Konfuzius sagt, der Gesellschaftskritik, dem Kaugummiautomaten, der Literatur, aus Google, Yahoo, GMX. Nichts gefunden und alles verfügbar. So läuft's Business. Noch jemand, der einem auf die Nerven gehen kann?

      Alles ändert sich. Alles fließt. Oh nein, da ist der Satz. Streichen, weg damit. Über die Straße gehen, den Satz mit sich führen und überfahren lassen. Autofreier Sonntag. Jetzt hat Papi für mich Zeit. Spaziergang, die Ampeln sind aus. Es gibt Rollschuhfahrer auf der Straße, Menschen spazieren über die Straßen. Fahren Fahrrad. Ganze Familien, Familienclans sind unterwegs.