Gregor Kohl

Zwei Klare auf den Weg


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müssen auch Sonntags unterwegs sein, müssen arbeiten! Aber du wärst hier. Diesen Satz nicht ausgesprochen. Die Antwort ist bekannt. Mir ist es aber langweilig mit euch; ich weiß ja gar nichts mit euch anzufangen; jetzt kann ich noch nicht mal mit dem Auto abhauen und muss mit euch hier entlang gehen. Ich finde es aber schön, sage es aber nicht; trau' mich nicht es zu sagen. Der Papa muss arbeiten, der ist jetzt müde, der will seine Freunde treffen, unter der Woche, da muss er wieder usw.

      Ja, da muss er wieder die da oben treffen, unterwürfig sein, gehorchen, folgen, geführt werden, sich führen lassen, Aufträge abarbeiten.

      Wofür? Um Eitelkeiten zu bedienen. Um Macht zu kämpfen, die keiner haben möchte. Um diese Oberflächlichkeiten, die glatter werden, wenn der Preis steigt. Attitüde. Ja, aber nicht kostenlos. Kostet Schlaf und Nerven, kostet Wahrhaftigkeit.

      Das ist es, dieser Begriff. Jetzt ist er. Die Finger haben ganze Arbeit geleistet. Jetzt ist er da. Ist sichtbar, lesbar und ich greife ihn. Begreife ihn. In diesem Moment, der im nächsten schon wieder verloren sein kann, wird klar, was alles aufzugeben ist.

      Die Metzgerin ist ihre beste Kundin. Die Finger sind gar nicht mal wurstig, was bei jeder Beschreibung doch zu erwarten wäre. Hier sind sie dick, lang, rosa wie Fleischwurst. Die Haare stehen nach oben ab, der etwas längere Igelschnitt, Mittelscheitellänge, die obere Hälfte ist rot, unten werden sie schwarz. Sind die so gefärbt? Sicher, was sonst. Die Schürze zur Verbesserung des Identifikationsgrads des Fleischfachhandels und Zunftmitglieds spannt an zwei Stellen. Üppiger Busen und vorstehender Bauch fordern die Knöpfe heraus ihr Bestes zu geben. Die Brille rutscht etwas, die leicht glänzenden Finger rücken sie nach oben, der Glanz erinnert noch an den letzten Kunden, der einen halben Ring Leberwurst mitgenommen hat. Einen halben Ring? Geräuchert. Jetzt im Herbst ist mir klar, was passiert. Der wird für die Meute gebraucht, die mit Eimern bewaffnet in den Weinberg läuft, Trauben schneidet und nach zwei Stunden bereits an den Hunger denkt. Butter unter der Leberwurst? Immer, und dann einen Schnaps zum verdauen.

      Woher kenne ich den nur. Nicht bekannt, unwichtig, er braucht noch Fleischwurst und Schwartenmagen. Fleischwurst aus der Hand, Schwartenmagen in Scheiben, große Fleischstücke drin, sieht gut aus. Jetzt kommt der Opa in den Laden, die Verkäuferin und drei andere Kolleginnen werden unruhig. Der Opa möchte helfen, hält damit alle auf, fragt nach den neuen Waagen, fragt nach dem Abkassieren, verschätzt sich bei der Grammzahl, rundet großzügig auf. So wurde die Metzgerei groß, verdiente Geld mit nicht verkaufter Wurst. So wurden drei Filialen aufgemacht, eine wieder zu und der Sohn in die Lehre geschickt. Die Wurst läuft, der Laden verkauft Wurst wie warme Semmeln. Reich werden sie, reich sind sie, mit Blut und Schweiß. Tierblut. Schweiß und Tränen.

      Geht das nicht etwas zu weit? Ich wollte nur 100 Gramm Lyoner kaufen. Mehr nicht. Sonst nichts. Herr Rossi ist noch vor mir. Er kauft ungarische Salami, nein, nicht die Mailänder. Lachen. Länger darüber nachgedacht. Muss ein Witz gewesen sein. Herr Rossi kauft für zwei Wochen Leberkäs’. Was hat eigentlich der andere mit der Hausmacher Wurst angestellt? Stimmt, er macht Herbst, sammelt, nein liest Trauben und verkauft sie an die Winzergenossenschaft. Macht keinen eigenen Wein. Schmeckt nicht, zu groß der Aufwand. Herr Rossi hat bald Geburtstag, kauf und kauft. Gäste kommen. Er muss noch Schnaps kaufen gehen. Guten. Den gibt es in der Stadt, in der Fußgängerzone. Feines Stöffchen, ordentlich gebrannt. Den braucht er auch, den Schnaps, für die viele Wurst. Hilft Schnaps wirklich beim Verdauen? Nur wenn es keine Brause ist. Bei Brause rebelliert er. Ich komme dran. Kaufe Lyoner. Und einen Leberknödel, hier gibt es auch Sauerkraut, das also auch. Ist das zart? Klar. Feststellen werde ich es erst zu Hause. Ist ein bisschen mehr sagt mir der Opa. Wenn sie den Daumen von der Wage nehmen, dann passt es wieder. Nimmt den Daumen runter. Zwanzig Gramm gespart. Ich, nicht er.

      Bezahlt. Ich könnte noch beim Bahnhof vorbei gehen.

      "Wende dich zu mir und sei mir gnädig; denn ich bin einsam und elend."

      Wir sind getrennt. Gezählt habe ich die Tage nicht. Nur die Stunden und Minuten. Mit der Trennung kam das Alleinsein. Jedes Wort verlangt eine Antwort, aber es bleibt still. Diese schweigsame Stille. Das Ticken der Uhr, die Musik wird mir zu viel. Den Radio stelle ich ab, den Fernseher, der Computer sind mir zu viel. Beten hilft nicht. Nicht gegen Hunger, Durst. Ich laufe vor mir selbst weg, hole meinen Schatten immer wieder ein. Nichts, was mich weiter bringt. Das Hamsterrädchen dreht sich auch in der Wohnung weiter.

      Ich gehe wieder in den Supermarkt. Die Kühltheke ist reich gefüllt. Zwei Becher Eiscafé, ein paar Joghurt, Halsbonbons, Seife, noch mal dran riechen, Chips, zwei Singledosen Bohnensuppe, eine Pizza mit Gemüse, lieber doch die mit Thunfisch. Ist der aus nachhaltigem Fang? Ein blauer durchgestrichener Delfin scheint mir Segen genug, um die Pizza zu nehmen. Oder doch lieber mit vier Käsesorten? Nochmal außen herum gehen. Ein paar Bier. Mit Cola. Schmeckt nicht, aber ich brauche auch mal etwas Abwechslung. Saft, ich brauche Saft. Ein paar Twix und Snickers. Die kleinen, oder doch lieber die großen. Likör für zu Hause. Einen aus dem Kühlschrank, die große Flasche billiger als beim Heiko im Bahnhofskiosk. Was macht eigentlich der Hartwig?

      An der Kasse alles auf das Band legen, Cornflakes vergessen. Schnell nochmal los, spurten, den strafenden Hausfrauenblick im Nacken aushalten, zwei Liter Milch, Zucker und die Flakes noch auf das Band gerettet. Was schaut sie mich so an? Hallo! Hallo! Nicht gleich erkannt. Jetzt wieder erkannt. Aus der Schulzeit. Ich kenne sie, als ich in die Schule ging, ging sie auf eine andere. Dennoch kennen gelernt. Waren befreundet. Sieht gut aus, sah mal nicht so gut aus. Jetzt wieder besser. Ob sie? Nein, ist sie nicht. Sie erzählt von ihrem Sohn, von ihrem Mann, vom nächsten Urlaub auf Mallorca, Ibiza oder der Türkei. Wie lange das dauert, bis sie alles eingeräumt hat und ich bezahlt habe. Wartet auf mich. Wir gehen zusammen nach draußen. Wo habe ich denn? Ich bin zu Fuß. Soll ich dich mitnehmen? Ja, gerne. Schwarze Strumpfhosen unter kurzem Rock. Sieht gut aus, ich fühle meinen Puls im Hals. Ob sie vielleicht, zu einem Kaffee oder so. Ich könnte sie ja fragen. Ganz einfach nur so. Es gibt kein „nur so“. Ich frage nicht, navigiere sie durch die Stadt, zu meiner neuen Wohnung. Wir könnten ja mal. Ja, könnten wir. Vielleicht nächste Woche. Ja, warum nicht. Handynummern werden ausgetauscht. Ich werde nicht anrufen. Vielleicht doch. Ich lebe getrennt. Ob sie das weiß? Sie fährt weiter. Schönes braunes Auto. Klein. Nur zwei Sitze. Ob man da nicht auch? Ich gehe nach oben. Drei Treppen, vier. Die Tür öffnen, der Kühlschrank brummt. Sonst ist alles still. Mit was zuerst? Die Cornflakes. Zucker drauf. Weißen, der braune soll ja eigentlich besser, aber ich habe den gegriffen. Die Schüssel bis oben voll, den Fernseher an. Fernsehgarten. Nein, der kommt erst morgen wieder. Was anderes dann eben. Wie spät? Ist nicht wichtig. Was wohl passiert, wenn ich sie jetzt gleich anrufe? Ob sie dran geht? Sie lebt nicht alleine, oder vielleicht doch verhört? Die Zahlen eintippen. Bei der letzten wieder halt machen. Auflegen. Lieber noch was trinken. Die Weinhandlung hat noch offen. Ich habe noch Campari. Doch noch was anderes? Ich werde mich heute alleine betrinken, Alleinsein kann süß sein.

      Alles besorgt, es wird langsam dunkel, ganz gut für den Winter. Ich schenke mir ein. Rede laut einen Satz. Noch einen. Lese mir laut etwas vor. "Er setzte sich in den sonnigen Innengarten..." woher habe ich diesen Handke? Nie verstanden. Muss an mir liegen, wo doch so viele den lesen. Nochmal laut vorlesen. Sieben Worte. Geht noch, ich kann noch anrufen. Ich erkenne die Schrift noch, meine Stimme ist noch klar, deutlich. Nochmal aufnehmen und abspielen lassen. Geht noch. Geht gut. Ich höre mich ab. Ich könnte ein Band aufnehmen und abspielen, gehe in der Zeit spazieren, habe Zeugen; wenn ich eine Absage bekomme, kann ich es nicht gewesen sein. Ich war draußen. Im Hof. Ich rufe an. Es klingelt. Auflegen geht nicht mehr. War früher einfacher, jetzt erkennt man die Nummer und kann zurückgerufen werden. Nie gefunden, wo man die Nummer unterdrücken kann, wegdrücken kann. Es klingelt, jetzt bin ich an der Angel. Ab wann kann ich wieder auflegen? Nach dem zweiten Mal? Zu früh. Das dritte Mal, das vierte Mal. Jetzt ist sie dran. Das war ja echt nett, dich mal wieder. Und so die alten Zeiten. Ja, war nett. Ob wir vielleicht mal. Ja, können wir. Nächste Woche? Nächste Woche, ja. Jetzt schon einen Tag? Ja, warum nicht. Mittwoch? Mittwoch, ja geht. Wirklich? Ja, geht. Wollen wir noch etwas jetzt vielleicht. Geht jetzt nicht. Enttäuschung. Nach dem Warum fragen. Nicht getraut. Stimmen im Hintergrund? Vielleicht wenn wir. Ja, ich rufe dich an.

      Warum