Harald Skrobek

Waisenjunge


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gehen, mich zieht es zurück zu den Kriegern.“

      Nur Dave, der wusste, dass Jonny ein Halbblut-Indianer war, erkannte an dieser Stelle die Doppelbedeutung des Wortes ‚Krieger‘. So ironisch hatte er Jonny noch nie erlebt.

      Peters Augen leuchteten auf. „Das nenne ich eine gute Nachricht,“ platzte es aus ihm heraus.“ Er bekam vor Aufregung einen Hustenanfall und als er wieder Luft bekam: „Schade, dass Du, Jonny, nicht mitkommst. Aber, wenn ich mir das genau überlege, hat die Sache sogar etwas Gutes. Zu dritt wäre es in meiner Jagdhütte etwas eng geworden. Lasst uns zusammen den Tag feiern!“

      Das Feiern musste auf den Nachmittag verschoben werden. Jonny wollte nämlich am nächsten Morgen in aller Herrgottsfrühe aufbrechen und brauchte etwas Zeit für die Vorbereitungen.

      „Als erstes kaufe ich mir zwei Indianer-Ponys, die sind schneller als unsere Mulis. Peter, kannst Du zwei Maultiere gebrauchen oder soll ich sie in Zahlung geben?“

      „Gib alle vier in Zahlung, wir fahren mit dem Kanu,“ sagte Peter.

      „Dave, überlass mir bitte das Fernglas. Ich denke, ich werde es brauchen. Stattdessen kannst Du Robins Taschenkompass, seine Taschenuhr und die indianische Landkarte haben, damit Du Dich in der Gegend zurechtfindest,“ feixte er.

      „Ebenso hätte ich gern Pfeil und Bogen; meine Büchse werde ich nämlich auf dem Packpferd verstauen.“ Und als er ihre fragenden Blicke sah: „Na ja, Bisons will ich nicht schießen und von einem Präriehund bliebe nach einem Gewehrtreffer nicht mehr viel übrig.“

      Jonny war ausgesprochen gut aufgelegt und musste über seinen Witz herzlich lachen.

      Gegen Mittag war Jonny mit seinen Vorbereitungen fertig. Sie verschlangen auf Peters Rechnung je ein riesiges Steak mit Bratkartoffeln. Im Saloon war noch nicht viel los. Sie tranken drei Biere. Ein schon etwas betrunkener Barpianist klimperte lustlos auf dem bedenklich verstimmten Klavier herum. Erst als Peter seine Mundharmonika aus der Tasche holte und sie im Duett flotte Dixi-Songs anstimmten, kam Stimmung auf. Bis zum Abend brachte es jeder auf fünf Pints Bier. Ein gesteigertes Interesse an 1-Dollar-Mädchen hatten sie jetzt nicht mehr.

      Dave begleitete Jonny am nächsten Morgen aus dem Ort. Jeder hatte ein Kloß im Hals. Ihre Gedanken waren wie mit feuchten Tüchern verhangen. Sie brachten kein Wort heraus. Als die Prärie offen vor ihnen lag, stiegen sie von ihren Reittieren ab und umarmten sich. Trauer sprach aus ihren Augen. Jonny gab Dave sein restliches Geld. „Dort, wo ich hingehen, brauche ich es nicht. Lass es Dir gut ergehen!“

      Er stieg auf. Die beiden Pferde setzten sich von allein in den für Ponys typischen Zotteltrab. Dave schaute wehmütig hinterher. Als der Reiter am Horizont kaum noch auszumachen war, hielt er an und winkte. Dave winkte zurück. Jonny stieg ab und wechselte die Kleidung. Er sah jetzt aus wie ein Indianer und war es auch.

      Jonny erreichte eine Woche später seinen Stamm. In der Folgezeit schloss er sich dem Häuptling Geronimo an. Er hatte einen entscheidenden Anteil an dessen erfolgreichem, jahrelangen Widerstand gegen die mexikanische und amerikanische Armee. Er starb durch eine verirrte Sprenggranate, die vor ihm einschlug und detonierte, gerade als er sein Pferd besteigen wollte. Er war auf der Stelle tot.

      *

      Peter und Dave gewöhnten sich eine Woche aneinander, was erstaunlich gut funktionierte. Sie stellten fest, dass sie ähnlich dachten, beide ein hervorragendes Gedächtnis besaßen und beide gern lachten. Sie nutzten die Zeit, um Dave eine Trapper-Ausrüstung für das Überleben in Schnee und Kälte anzuschaffen: Filzstiefel, warmes Unterzeug, wattierte Hosen, wattierte Jacke, Fellmütze, Fellhandschuhe, Schneeschuhe, Schneebrille. Decken und Regenumhang besaß Dave bereits. Außerdem musste der Proviant ergänzt werden. Sie kauften unter anderem Mehl, Bohnen, Zwieback, Räucherspeck und Äpfel ein. Hinzu kamen Sauerkraut und Zwiebeln gegen Skorbut. Draht, verschiedene Schnüre, Nägel, Nähzeug, Seife und so weiter hatte Peter schon vorher besorgt.

      „Spielst Du zufällig ein Musikinstrument?“ Überrascht blickte Dave bei dieser Frage auf. „Die Tage, wenn man vor lauter Schnee und Sturm nicht aus der Hütte kann, können ganz schön lang werden. Und immer Karten spielen wird auf Dauer auch langweilig. Da bringt das gemeinsame Musizieren eine willkommene Abwechslung.“

      Dave musste an seine Flöte denken, die er bei seinem überstürzten Aufbruch auf der Savannah leider vergessen hatte. „Ich kann Flöte spielen, die ist mir aber abhandengekommen.“

      Sie fahndeten vergeblich nach einer brauchbaren Flöte und kauften stattdessen eine Mundharmonika und ein Banjo. Außerdem beschaffte sich Dave nach langem Suchen noch drei leere Tagebücher und Zeichenblocks sowie Bleistifte und Zeichenkohle.

      In der letzten Oktoberwoche brachen sie auf. Peters Kanu war geräumig. Dave staunte, wieviel man darauf unterbringen konnte. „Warte erst auf unsere Rückfahrt, wenn wir die Felle geladen haben,“ lachte Peter. Sie musste zunächst den Rio Grande dann den Jemez flussaufwärts paddeln. Dave hatte noch nie in einem Kanu gesessen. Peter erklärte ihm erst theoretisch, dann praktisch wie man paddelt. Nach einer Stunde klappte es schon ganz gut. Im Herbst führten die Flüsse nicht so viel Wasser, trotzdem mussten sie sich streckenweise ganz schön ins Zeug legen, um gegen die Strömung anzukommen. „Auf dem Rückweg geht es dafür umso leichter,“ bemerkte Peter trocken.

      Die unberührten Bergwälder, die sich hier im regenreichen Westen der Rocky Mountains-Ausläufer vor Urzeiten ausgebreitet hatten, nahmen sie auf. Das Wetter war seit Wochen trocken. Tagsüber schien die Sonne, aber nachts sanken die Temperaturen unter den Gefrierpunkt. Die Bäume waren noch bis weit in den Nachmittag in Raureif eingehüllt.

      Die Hütte lag oberhalb der Stromschnellen des Jemez auf einer versteckten Lichtung, an deren Rand eine muntere Quelle sprudelte. Nordwestlich erhob sich der Peak Redondo. Das hiesige Waldgebiet war reich an Bächen und Flüsschen, ein Eldorado für Biber, Nutrias und Fischottern.

      Im kleinen Ort Jemez Springs war ihre Reise zu Ende. Peter steuerte eine halbverfallene Hütte am Ufer an. Deren Eigner half ihnen beim Anlegen und begrüßte Peter herzlich. Froh ein bekanntes Gesicht zu sehen, verwickelte er diesen in ein längeres Gespräch, wie es ihm ergangen sei, was sein Husten mache, warum er einen neuen Partner habe, ob dieser Partner sein Sohn sei und derlei Dinge. Sie entluden das Kanu und schleppten es zu einem höher gelegenen Unterstand.

      *

      Jeden Abend ihrer Reise führte Dave Tagebuch. Aus dem Gedächtnis zeichnete er eine Karte. Sie enthielt Skizzen zur Topographie der Landschaft, dazu Vermerke über deren Besonderheiten. Da er zwar immer wieder die Richtung, in die sie fuhren, mit Hilfe des Kompasses in etwa bestimmt hatte, aber ihre Geschwindigkeit, mit der sie vorangekommen waren, nicht kannte, sie also anhand von Landmarken schätzen musste, war die Karte nicht maßstäblich. Als er sie nach einigen Tagen dem neugierig gewordenen Peter zeigte, war dieser trotzdem von dem Werk beeindruckt. „Woher kannst Du das in Deinem jugendlichen Alter?“

      *

      Sie mussten zwei Mal den Weg bergauf machen, bis sie alles Gepäck bei der Hütte hatten. Diese Hütte stand inmitten dicht an dicht wachsender kniehoher Baumschösslinge. Offenbar hatte sich die Natur beeilt, den leeren Platz wieder in Besitz zu nehmen.

      Die Hütte maß etwa zweieinhalb Meter mal dreieinhalb Meter. Sie war erstaunlich solide gebaut. Für die Wände hatten die Erbauer etwa acht Zentimeter dicke Baumstämme nach Art der Palisadenzäune nebeneinander in die Erde gegraben und festgestampft. Die Fugen waren mit runden, vier/fünf Zentimeter messenden Stangen ausgefüllt. In gleicher Weise wie die Wände war das etwa 45 Grad geneigte Walmdach ausgeführt. Dessen Ritze hatte man mit Lehm verschmiert. Das Dach stand beidseitig etwa ein Meter über und glich einem Beet für Gräser, Farne und Moose. Im hinteren Teil des Firstes befand sich ein gegen das Hineinregnen abgesicherter Rauchabzug. Die seitlichen Wände ragten um die zwei Meter aus dem Boden. Alle Wände wiesen je zwei Schießscharten aus, die auch für die Frischluftzufuhr sorgten. Auf der nach Süden zeigenden Stirnwand gelangte man über eine verschließbare Luke ins Innere. Der Boden der Hütte bestand aus gestampftem Lehm, das so genannte Mobiliar aus zwei einfachen Bettgestellen, die beidseitig der Längswände standen, sowie einem Tischchen und