Charlie Meyer

Mörderische Schifffahrt


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schon eine historisch verbürgte Persönlichkeit - während der Klettenkönig ...« Er brach ab, zuckte abwertend die Achseln und konzentrierte sich dann auf seine Strumpfhosen, die auf halbem Oberschenkel festsaßen.

      »Verstehe.« Der Banker zog mit schlanken, gebräunten Fingern den Reißverschluss seiner Hose herunter. Er mochte um die vierzig sein. Seine blond gesträhnten, welligen Haare waren aus dem schmalen braunen Gesicht nach hinten gekämmt, und der breite Goldring an seinem Finger ein Vermögen wert.

      Mit dem goldenen Löffel im Mund geboren, dachte Dickie Blume neidisch. Ein Ferrari in der Garage, eine Villa am Stadtrand, und in der Bank lässt er arbeiten und betreut allerhöchstens VIP-Kunden. Zu allem Überfluss war er von Adel, ein Baron oder Graf oder so. Wie auch immer. Jedenfalls fuhr er eines Morgens bei der Tourist-Information vor und ließ sich ihn, Dickie, den Aushilfsrattenfänger, der zufällig gerade anwesend war, vorführen. Vom Chef der Tourist-Information persönlich, dieser arrogante Arsch. Als Erstes war Dickie die leise, kultivierte Stimme aufgefallen, ein Produkt Jahrhunderte währender Stammbaumplanungen, als Zweites der Name unter dem Kontrakt.

      Ein von und zu, der sich zwei Minuten Zeit nahm, um Dickies Eignung für den Job zu überprüfen. Gott, wie er solche Arschlöcher hasste. Er verkniff sich die Frage, ob dem Herrn seine Charter denn gefalle, die Antwort glaubte er ohnehin zu kennen. Ein Pfau, der sich für einen Abend unter die Hühner mischte, aber in ihrem Rücken kalt lächelnd ein Rad schlug.

      Kalt, dachte der Rattenfänger, genau so ist sein Lächeln hinter der Fassade. Und kalt sind auch seine Augen. Genauer gesagt waren sie grau – stahlgrau. Eines strahlten sie mit Sicherheit nicht aus: Wärme. Oder Herzlichkeit oder irgendetwas anderes, das einen willkommen hieß, wenn man den Kerl ansah.

      »Ich geh dann mal wieder«, murmelte er, weil ihm nichts Besseres einfiel, und konnte sich einen letzten Blick auf den aristokratischen Penis nicht verkneifen. Er lächelte. Weder blau noch verziert, sondern rot und schrumpelig wie sein Eigener, und es sprudelte auch kein flüssiges Gold aus ihm, sondern, genau wie bei ihm, stinkender Urin.

      »Herr Blumenthal!«

      Dickie stoppte. »Blumenthal-Röder.« So viel Zeit musste sein. »Ja?«

      »Sie planen aber noch nicht, sich für heute zur Ruhe zu setzen, nicht wahr?«

      Wie er sie hasste, diese leise kultivierte Stimme, die Kehle, aus der sie kam, den Körper, zu dem die Kehle gehörte und diese ganze arrogante Aristokratie. »Nein«, erwiderte er forsch, ohne sich umzudrehen. »Ich mache lediglich die von der Gewerkschaft der Sagen- und Märchenfiguren vorgeschriebene Pause. Unser Vorsitzender, der Herr Rübezahl, reagiert ein wenig eigen auf die Nichteinhaltung gewerkschaftlicher Vorschriften.«

      Felix von Hohenroth lachte, aber es war kein nettes Lachen. Es hallte dem Rattenfänger noch immer in den Ohren, als er in der Schiebetür dem Kahlkopf in der Admiralsjacke auswich, der seinem Tischnachbarn beim Pinkeln wohl Gesellschaft leisten wollte. Schwul, dachte Dickie voll Abscheu. Beide höchstwahrscheinlich stockschwul. Igitt.

      Er zwängte sich hastig an dem Kahlköpfigen vorbei und verzog das Gesicht, als ihre Arme sich streiften. Ganz hinten im Schiff, noch hinter der Eisentreppe zum Oberdeck, gab es eine Glastür, die auf ein kleines Achterdeck führte. Am Glas klebte ein Schild: Zutritt ausschließlich für Personal. Dickie sah sich verstohlen um. Als die Luft rein war, stieß er die Tür schnell auf, schlüpfte hindurch, schloss die Tür hinter sich und trat rasch einen Schritt zur Seite. Raus aus der Lichtschneise, nicht, dass ihn gleich noch die Pummelige in einer verbotenen Zone erwischte. Er stand auf einem halbrunden Minideck, keine zwei Meter lang, auf dem, am Rand der Lichtschneise, ein uralter Grill vor sich hinrostete. Unter dem Grill stand ein grün verschmierter Farbeimer. Auf dem Grillrost lag ein grün verschmiertes Messer mit schwarzem Griff und langer Klinge. An der hinteren Reling, die erst zur Hälfte gestrichen war, hing ein Rettungsboot, nur unwesentlich größer als ein Schuhkarton.

      Und die übrigen hundertfünfzehn Banker und Bankerfrauen schwimmen hinterher, dachte Dickie, um Selbstaufmunterung bemüht, während er in der dunklen Ecke zwischen Schiff und Reling nach der dicken Taurolle tastete, von der er wusste, dass sie dort lag. Seufzend ließ er sich nieder. Wie tief war die Weser eigentlich? Zwei Meter? Oder drei? Und was für einen Tiefgang hatte das Schiff? Konnten sie überhaupt sinken? Der kleine Dicke mit der Fahne, der Schiffsführer aus dem Steuerhaus, hatte etwas von sechzig Zentimeter Tiefgang gesagt, wenn er sich richtig erinnerte und von einem platten Kiel, einem Flachgänger, was immer er sich darunter vorzustellen hatte.

      Ach was, wen interessierte das eigentlich? Schließlich fuhr er nicht auf der wirklichen Titanic und aller Wahrscheinlichkeit nach kam auch kein Eisberg die Weser heruntergeschwommen. Er kramte eine Schachtel Pall Mall und ein Feuerzeug aus dem grünen Filzbeutel an seinem Gürtel, schnippte gegen die Schachtel und zog mit spitzen Lippen eine Zigarette heraus. Sein einziges Laster, zurzeit jedenfalls und nicht mehr lange. Als erster Klarinettist würde er das Rauchen aufgeben müssen. Schade eigentlich.

      An dieser Stelle seiner Überlegungen fiel ihm ein, seine Klarinette auf dem Tresen liegen gelassen zu haben. Einen kleinen Moment lang spielte er mit dem Gedanken, das Instrument vor dem Bankerpöbel im Salon in Sicherheit zu bringen. Doch er blieb sitzen. Diese Klarinette war das Ehrfurcht gebietende Instrument des Rattenfängers, und wer bestahl schon den Rattenfänger? Nicht einmal Banker. Zudem musste jeder potenzielle Dieb an den Thekenschnepfen vorbei, und an der Sommersprossigen vorbeizukommen schien Dickie gefährlicher als ein Spaziergang über eine Weide, auf der Bullen mit den Hufen scharrten. O nein, seine Klarinette lag dort drinnen so sicher wie der Goldschatz in Fort Knox. Dazu noch im Warmen.

      Ihn hingegen fror. Im Sommer musste es Spaß machen, hier draußen auf der Taurolle zu sitzen und den Rauch in den Fahrtwind zu blasen. Ein lauer Abend, ein Glas Sekt, eine zutrauliche Möwe auf der Reling, Dickie Blume sehnte sich nach Wärme und Geborgenheit. Anfang Mai, um elf Uhr abends, war das zugige Achterdeck eine Strafe, die man notgedrungen über sich ergehen lassen musste, wenn die Sucht rief. Das neue Nichtrauchergesetz war schuld. In Gaststätten durfte nicht mehr geraucht werden, und der bewirtschaftete Salon eines Dampfers zählte als Gaststätte. Zwar handelte es sich bei den Chartergästen um eine geschlossene Gesellschaft, für die eigene Regeln galten, aber seit es dieses Nichtrauchergesetz gab, gingen die Nichtraucher viel radikaler zur Sache. Eine weitere dieser Zumutungen. Vom Oberdeck, zwei Meter höher, hörte er Füße scharren und jemanden halblaut fluchen. Noch so ein Süchtiger, dem vor Kälte die Knochen klapperten. Der Fahrtwind pfiff Dickie um die Ohren, das Wasser um ihn herum strahlte eine Kälte ab, die seine Zähne klappern ließ, und Möwen gab es keine weit und breit.

      Als er um neunzehn Uhr aufs Schiff gekommen war, hatte er als Erstes ein verstecktes, gemütliches Plätzchen gesucht, und um neunzehn Uhr war das kleine Achterdeck von den Temperaturen her tatsächlich noch ein gemütliches Plätzchen gewesen. Ein Rattenfänger durfte sich ganz einfach nicht in aller Öffentlichkeit eine Fluppe zwischen die Lippen stecken. Zumindest nicht kostümiert und im Dienst. Er repräsentierte schließlich die Stadt und nicht zuletzt die Jahrhunderte des Mythos vom bunten Vagabunden, der Hameln von einer Rattenplage befreite, von den Stadtvätern um seinen Lohn betrogen wurde und aus lauter Rache die Hamelner Kinder entführte. Wohin auch immer. Darüber stritten sich die Gelehrten bis heute, und genau dies, das Mystische, Geheimnisvolle, das offene Ende der Sage, lockte die Touristen, auf den Spuren des Rattenfängers durch die schmalen Gassen der Altstadt zu wandeln.

      Der Rattenfänger von Hameln, ein Serienkiller?, fragte sich Dickie plötzlich milde erheitert. Oder ein Kinderschänder? Vielleicht sogar beides? Verheimlichten die Stadtoberen möglicherweise diesbezügliche Forschungsergebnisse, um keine Touristen zu vergraulen? Im Jubiläumsjahr 725 Jahre Rattenfängersage hatte es sogar eine neue Werbekampagne zum Thema mystisch-magisch gegeben. Riesige Plakate in schwarz und weiß mit überdimensionalen Ratten, von unten mit gebleckten Zähnen fotografiert. Darunter dann die Schrift: Schatz, wo sind unsere Kinder geblieben? Eine Umfrage hatte in Bezug auf bunte, wie Narren herumspringende Rattenfänger gewisse Ermüdungserscheinungen ergeben. Rückläufige Besucherzahlen. Vielleicht, so schienen sich die Stadtmanager überlegt zu haben, kamen die Touristen ja wegen der Ratten zurück, auch wenn sie der Fänger zu langweilen begann. Ignoranten, alle miteinander.