Charlie Meyer

Mörderische Schifffahrt


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und wir vergessen die Sache. Ich meine, ich weiß natürlich, dass es auf keinen Fall Ihnen gehören kann. Aber mir gehört es auch nicht, und einer muss es doch nehmen, damit es nicht in falsche Hände gerät. Ich jedenfalls will nichts damit zu tun haben, und ich wäre ausgesprochen dankbar, wenn sich irgendwo ein verantwortungsvoller Kerl fände, der ...« Seine Stimme erstarb mit einem Kicksen, und als er neu ansetzte, brachte er die Worte kaum über die Lippen. Sein ganzer Mund war urplötzlich staubtrocken. Außerdem wurde ihm vage bewusst, dass er Unsinn redete, nur aufhören konnte er nicht. Solange er redete und sich reden hörte, solange stürzte dieser schweigsame Kerl vielleicht nicht los, um Gott weiß was mit ihm anzustellen. Kopf einschlagen. Kehle durchschneiden. In Todesangst krächzte er weiter. »Sehen Sie, ich muss gleich wieder rein, ich bin nämlich der Rattenfänger von Hameln, und da drin auf dem Tresen, da liegt meine Klarinette. Ich meine, ich muss spielen, dafür werde ich schließlich bezahlt, und drinnen werden mich schon alle vermissen. Wenn Sie also so nett sein könnten, dieses blöde Päckchen zu nehmen und dann einen Schritt zur Seite zu treten, dann könnte ich vorbei und ...«

      Seine Stimme erstarb ein zweites Mal, und beinahe hätte er sich schützend die Hände vors Gesicht gerissen, als ihm sanfte Finger den Packen Fotos aus der Hand nahmen. Dickies Gedärme krampften sich vor Furcht zusammen und er schmeckte die bittere Magensäure im Mund. O Gott, das war bestimmt einer von diesen verfluchten Ausländern. Einer von der Russenmafia oder so, weshalb sich der Kerl auch nicht traute, den Mund aufzumachen. Nur für den Fall, dass er, Dickie, das Kehle durchschneiden überlebte und seinen Mörder anhand des Akzents identifizierte.

      Dickie erwartete keine Antwort mehr, aber er bekam eine. »Na, dann hopp. Da liegt übrigens noch etwas auf dem Boden, das mir haargenau wie die Narrenkappe des Rattenfängers aussieht.«

      Dickie Blume wäre vor Erleichterung um ein Haar ohnmächtig geworden. Er schloss kurz die Augen und atmete tief durch. Nie war es ihm schöner vorgekommen, eine bekannte Stimme zu hören. Kein Russe, kein Ausländer, noch nicht einmal ein Mafioso. »Mann o Mann, und ich dachte schon, die Russenmafia will mir die Kehle durchschneiden. Wie kann man jemanden dermaßen zu Tode erschrecken? Was, wenn mein Herz urplötzlich in Streik getreten wäre?« Er hätte immer so weiterplappern können, und eigentlich war er auch nicht wirklich böse. Im Gegenteil, am liebsten wäre er diesem Nichtrussen um den Hals gefallen, aus lauter Dankbarkeit, eben kein Russe zu sein. Der Kerl war jetzt so nah, dass Dickie die goldenen Knöpfe einer Uniformjacke schimmern sah.

      »So wie’s sich anhört, schlägt das Herz ja noch. Und Tschüss! Ab durch die Mitte.«

      Die Taschenlampe erlosch, und vor Dickies Augen schwirrten nichts als Sterne durch die Schwärze der Nacht. Noch immer gegen die Reling gelehnt, beugte er sich vor und tastete mit bebenden Fingern nach seiner Rattenfängerkappe mit den langen Pfauenfedern. Beschämt und glücklich zugleich. Herrjemine, was war er doch für ein Angsthase, aber gab es da nicht das Sprichwort: lieber ein lebender Feigling als ein toter Held? Und wer hätte sich nicht gefürchtet in dieser Situation? Superman vielleicht oder James Bond, okay, aber wie viele Supermänner oder James Bonds gab es denn auf der Welt? An dieser Stelle seiner Überlegungen bekam er eine der Pfauenfedern zu fassen.

      Gleichzeitig hörte er die hastigen Schritte. Instinktiv schoss er hoch, die Hände abwehrend ausgestreckt. Doch da waren andere, kräftigere Hände als die seinen, und ehe er sich versah, wirbelten sie ihn herum. Während ihn der Körper des Mannes gegen die Reling presste, bog ihm eine Hand in seinem Nacken den Kopf weit über das Wasser.

      Dickie trat und schlug nach hinten aus, doch als er das Gleichgewicht zu verlieren und ins Wasser zu fallen drohte, konnte er seine Finger nicht davon abhalten, sich Halt suchend an der Reling festzuklammern. Die fremden Hände drückten ihn tiefer und tiefer über die Reling. Die oberste Stange presste sein Zwerchfell zusammen und zwischen den Stangen hindurch starrte er keuchend auf sein eigenes Wams. Die linke Hälfte war rot mit einem grünen Ärmel, die rechte Hälfte lila und der Ärmel gelb. Es schüttelte ihn vor Ekel. Wie konnte er nur in so einem Aufzug herumlaufen?

      Dann plötzlich ließ ihn die Hand los. Doch, noch bevor er den Kopf hochreißen und gegen den Krach der Schiffsmaschinen anbrüllen konnte, traf ihn ein harter Schlag genau dort, wo ihn die Finger eben noch gepackt hielten. Etwas drang durch Haut, Fleisch und Knorpel, und kam ihm vorn aus der Kehle wieder heraus. Als er danach griff, schnitt er sich an der kalten Schneide eines Messers.

      Dickie gurgelte in Panik, während ihm das Blut in die Luftröhre floss. Mitten im Gurgeln aber, während seine Hände hektisch versuchten, die scharfe Messerspitze dorthin zurückzuschieben, woher sie gekommen war, fühlte er sich emporgehoben. Einen Moment lang hing er schwerelos in der Luft. Dann stürzte er über Bord, mit dem Kopf zuerst. Noch immer bei Bewusstsein durchstieß er die Wasseroberfläche und sackte am Schiffsrumpf nach unten. Auf dem Kopf stehend registrierte er den Rost und die Algen auf dem Eisen. Er sah sie von ganz nah, keine zehn Zentimeter entfernt. Rost und Algen. Immer weiter sackte er nach unten, während Unmengen kleiner Luftbläschen nach oben trieben. Er wehrte sich nicht. Kopfüber ließ er sich einfach nach unten sacken, die Ellenbogen neben den Ohren, während seine Hände den Griff des Messers im Nacken umklammerten, und es herauszuziehen versuchten. Kälte breitete sich in seinem Körper aus, und ihm war, als gefriere ihm das Mark in seinen Knochen.

      Dann plötzlich spürte er einen starken Sog, und Dickie Blume, der talentierteste Rattenfänger von Hameln, fand keine Kraft mehr, sich dem Sog zu widersetzen. Das Wasser um ihn herum begann zu brodeln.

      Nein, dachte er, noch immer jenseits der Grenze zur Bewusstlosigkeit. Nicht die Schiffsschraube. Bitte nicht die Schiffsschraube, lieber Gott ...

      2

      Privatdetektei Roderich, Hupe und von Rhoden stand in bunten Buchstaben auf einem handgefertigten Tonschild.

      Fred Roderichs Großvater hatte seine berufliche Karriere als armer Töpfer begonnen und als reicher Steuerberater beendet. Der Brennofen stand noch immer im Keller der Villa an der Klütstraße und half Fred Roderichs Freund Axel, seine Tage mit Anstand hinter sich zu bringen. Einer bezahlten Beschäftigung ging er nicht nach.

      Fred Roderichs Äußeres entsprach dem eines in die Jahre gekommenen Yuppies, sein Ego litt unter den verpassten Chancen, die ihm das Leben geboten hatte. In jungen Jahren hatte er Gott weiß was werden wollen – und können -, war aber an seiner eigenen Trägheit gescheitert. Die dreistöckige Villa hatten ihm seine Großeltern hinterlassen, als sie sich auf ihren Altersruhesitz in Kitzbühel zurückzogen. Wer weiß, mochten sie gedacht haben, vielleicht ist dieses Geschenk für unseren Versager von Enkel so etwas wie ein Fußtritt in den Allerwertesten, der ihn zu großen Taten anfeuert. Das war vor drei Jahren gewesen.

      Das Konzept ging seltsamerweise auf. Fred Roderich gab sich und seinem Leben einen entschiedenen Ruck nach vorn. Er vermietete die beiden oberen Etagen der Villa und – obgleich er von den Mieteinnahmen locker hätte leben können - eröffnete er im Erdgeschoss eine Privatdetektei. Detektiv schien ihm der geeignete Beruf für jemanden ohne Ausbildung, vor allem, wenn er sein eigener Herr sein wollte und ein einigermaßen interessantes Tätigkeitsfeld suchte. Preislich unterbot er die schon länger in Hameln ansässigen Privatdetekteien, und die Auftragslage erwies sich im ersten Jahr als unerwartet gut. Die Kriminalitätsrate stieg ebenso an wie die Scheidungsrate, und Nachbarschaftsstreitigkeiten mit nächtlichen gegenseitigen Attacken explodierten geradezu.

      Roderichs erster Fall, eine Frau, die ihren Mann der Untreue verdächtigte und für zweihundert Euro täglich den Privatdetektiven Fred Roderich in Anspruch nahm, löste sich quasi von selbst. Dem fremdgehenden Ehemann, Herrn Kaminski, fiel die knallgrüne Ente auf, die ihm den lieben, langen Tag folgte und es kam zu einer lautstarken Auseinandersetzung zwischen Detektiv und observierter Person, in dessen Verlauf Fred Roderich sich ein blaues Auge einfing und dankend auf sein Honorar verzichtete. Danach fuhr Herr Kaminiski nach Hause, gestand Frau Kaminiski nicht nur einen, sondern gleich drei Seitensprünge und reichte die Scheidung ein. Frau Kaminiski zeigte sich beeindruckt von diesem detektivischen Blitzerfolg, auch wenn sie sich gar nicht hatte scheiden lassen wollen.

      Obgleich er kläglich versagt hatte bei dieser seiner ersten Observierung, zog sie einen