Jens Becker

Drehbuch-Tool


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Aspekte wie Geschlecht, Alter, Haarfarbe, körperliche Gestalt, subjektive Schönheit und so weiter. Zweitens hat die Figur einen sozialen Gestus. Dieser äußert sich in Gestik, Mimik, Kleidung, Bildung, Beruf, Statussymbolen und so weiter. Ich werde diese beiden äußerlich sichtbaren Komponenten einer Figur ein bisschen vernachlässigen, weil sie vom Autor leicht zu erschaffen sind und mich hier vor allem auf die unsichtbare Seite der Figur konzentrieren – ihren Charakter.

      1.1. Vom Problem der Glaubwürdigkeit

      Als Autor kommt man beim Schreiben manchmal an einen Punkt, den man Schreibhemmung nennt. Nichts scheint mehr zu stimmen – die Figuren handeln planlos oder gar nicht, der strukturelle Faden geht verloren und die Charaktere sind einfach nicht glaubwürdig. Dieser Moment tritt genau dann ein, wenn wir unsere Figuren noch zu wenig kennen. Würden wir sie tatsächlich kennen, dann wüssten wir genau, wie sie handeln sollen. Die Zuschauer folgen den Handlungen der Figuren jedoch nur dann, wenn sie glaubhaft sind. Aber wie schafft man als Autor glaubwürdige Charaktere und Typen?

      Anders gefragt: Gibt es kausale Zusammenhänge zwischen den Eigenschaften einer Figur, nach denen ein Charakter mit der Eigenschaft A auch wahrscheinlich die Eigenschaften B und C aufweist, aber eher nicht D und E? Unsere Lebenserfahrung sagt uns, dass es genau so ist. Aber Lebenserfahrungen sind natürlich verschieden und subjektiv. Und wir suchen nach möglichst objektiven Zusammenhängen.

      Welche Möglichkeiten haben wir Autoren denn? Wir können Figuren nach unseren eigenen Erfahrungen formen, aber dabei besteht die Gefahr, dass sie uns alle gleichen oder zumindest ähnlich sind. Wir können Figuren an reale Menschen anlehnen, die wir gut genug kennen. Bei dieser Methode kann man Freunde verlieren, die sich wieder erkennen, außerdem bewegen auch wir uns in einem begrenzten sozialen Umfeld und in anderen Umfeldern nicht. Wir können an einer Drehbuchaufstellung teilnehmen – wenn wir daran glauben und wenn wir dafür Geld bezahlen wollen. Wir können recherchieren. Das ist immer gut. Aber es ist auch aufwendig und wir müssen erst das Vertrauen mehrerer fremder Menschen gewinnen, damit diese von sich erzählen. Aber werden sie uns auch die Wahrheit sagen? Werden sie ihre tiefsten inneren Konflikte preisgeben? Können sie das überhaupt oder verhindert ihr Selbstbild nicht geradezu die Objektivität, die wir gern hätten? Sinnliche Erfahrungen können wir durch Method Writing gewinnen, indem wir uns selbst in die Situation der Figuren begeben und fühlen, was sie fühlen würden. Das ist auf jeden Fall ein Gewinn, aber wieder führt der Weg nur über uns selbst. Die Figur würde das gleiche Erlebnis vielleicht ganz anders werten oder ganz anders handeln.

      Tja, wenn es doch ein Modell gäbe, ein Werkzeug, ein Instrumentarium, um die Glaubwürdigkeit der Charaktere zu überprüfen. Nehmen wir einmal an, ein Autor schriebe ein Stück mit dem Titel DER GEIZIGE. Dieses Werkzeug müsste ihm helfen weitere Eigenschaften zu finden, die eine vor allem geizige Figur höchstwahrscheinlich hat und es müsste ihm abraten von Eigenschaften, die für eine solche Figur eher unglaubwürdig sind …

      1.2. Wissenschaftliche und esoterische Ansätze

      Was müsste denn ein solches Modell konkret leisten? Es sollte möglichst viele Aspekte zweckmäßig ordnen. Dabei müsste es einerseits möglichst umfangreich und feinsinnig sein, andererseits soll es aber auch leicht handhabbar und übersichtlich sein. Es muss uns gezielt das Wesentliche der Figuren enthüllen. Wir wollen neue Informationen bekommen, die unsere Fantasie anregen, aber das Modell sollte unsere Fantasie auf keinen Fall einengen. Solche Modelle gibt es – sie heißen Typenlehren.

      Alle Typenlehren versuchen der Erfahrung Rechnung zu tragen, dass Menschen zwar verschieden sind, dass es aber zugleich Menschen gibt, die sich in ihren Eigenschaften und Verhaltensweisen auffallend ähneln.

      Wenn die Typenlehren also Ähnlichkeiten herausstellen, haben sie natürlich zugleich die Tendenz in sich, die Einmaligkeit des Individuums zu vernachlässigen. Für die Anwendung auf Menschen ist dies sehr einschränkend, aber was Figuren betrifft, so sind sie ja von Natur aus nie so ausdifferenziert wie Menschen. Eine Typenlehre, die uns nützlich sein könnte, muss also nur fein genug sein.

      Es gibt grundsätzlich zwei sehr verschiedene Arten von Typenlehren – esoterische und wissenschaftliche. Der Begriff „Esoterik“ hat bis heute eine starke Wandlung durchgemacht. In der Antike war die Esoterik eine philosophische Lehre, eine Geheimwissenschaft, zu der ursprünglich nur wenige Menschen Zugang hatten. Sie hat einen starken mystischen Aspekt, den ich sehr spannend finde. Die Sternzeichen sind eine esoterische Typenlehre, ebenso das Tarot. Der Psychologe Carl Gustav Jung hat sich in seiner Schrift TAROT ALS LEBENSWEISE damit auseinandergesetzt, dass das Tarot mit seinen Symbolen Archetypen abbildet und damit einen universellen Weisheitsschatz darstellt. Ähnliches trifft auf die Astrologie zu. Jedoch haben esoterische Typenlehren einen entscheidenden Nachteil, der sie für unsere Zwecke ausschließt – sie sind Glaubenssache.

      Bei den wissenschaftlichen Typenlehren denkt man natürlich sofort an die „Vier Temperamente“ des Hippokrates, die jedoch viel zu allgemein sind, um uns hier wirklich weiter zu helfen. Dann ist es nahe liegend, die Psychoanalyse näher zu betrachten. Siegmund Freud hat sich in der klassischen Psychoanalyse mit der Psychodynamik des Unbewussten beschäftigt. Aus seinen Ansätzen entwickelten sich verschiedene Schulen der Tiefenpsychologie und Therapieformen. Aber hier sehe ich ein grundsätzliches Problem: Die Psychoanalyse setzt sich mit dem kranken Menschen auseinander. Der kranke Mensch ist jedoch in seinem Wesen nicht frei, er ist Zwängen unterworfen, die seinen Charakter einschränken. Das kann natürlich auch mal auf eine Figur zutreffen, aber in der Regel brauchen wir ein Modell für Charaktere, die sich frei entscheiden. Außerdem sehe ich ein weiteres Problem in der starken Fixierung der Psychoanalyse auf die Kindheit. Sicher wird die Persönlichkeit des Menschen in der Kindheit entscheidend geprägt, aber gleichermaßen beeinflusst das soziale Umfeld den Menschen und es ist Ausdruck seines freien Willens, damit so oder so umzugehen.

      Nun gibt es auch andere Zweige der Psychologie, die sich nicht so stark auf die Analyse eines Krankheitsbildes oder auf Kindheitsmuster konzentrieren, sondern einfach nach geeigneten Lösungen für ein Problem suchen. Eine solche Methode ist die ILP, die Integrierte Lösungsorientierte Psychologie. Sie unterscheidet Menschen nach Typen, wie dem Sachtyp, dem Handlungstyp und dem Beziehungstyp. Das ist für unsere Zwecke tatsächlich interessant, aber wenn wir es seriös anwenden wollten, dann müssten wir es aufwendig studieren. Das ist der entscheidende Nachteil aller wissenschaftlichen Typenlehren – wir können sie nur anwenden, wenn wir sie tatsächlich seriös studieren. Und in der Regel wollen wir nicht Psychologen werden, es reicht uns schon, Autoren zu sein.

      Die Soziologie bringt uns auf der Suche nach einer für unsere Zwecke brauchbaren Typenlehre einen großen Schritt weiter. Dr. Meredith Belbin hat sich in seinem Buch MANAGEMENT TEAMS: WHY THEY SUCCEED OR FAIL mit der Rolle einzelner Persönlichkeiten in Teams auseinandergesetzt. Seine empirischen Untersuchungen nach einer optimalen Teamzusammensetzung sind auch bekannt als „Belbin Team Roles“. Dabei hat er 3 Hauptorientierungen von Individuen herausgearbeitet, die jeweils 3 verschiedene Teamrollen umfassen:

      3 HANDLUNGSORIENTIERTE ROLLEN

      Shaper (Macher), Implementer (Umsetzer), Completer (Perfektionist)

      3 KOMMUNIKATIONSORIENTIERTE ROLLEN

      Team Worker (Mitmacher), Co-Ordinator (Organisator), Resource Investigator (Wegbereiter)

      3 WISSENSORIENTIERTE ROLLEN

      Specialist (Spezialist), Plant (Stratege), Monitor-Evaluater (Beobachter)

      Also insgesamt 9 verschiedene Rollen, deren Stärken und Schwächen er so genau beschreibt, dass man sie als Charaktere ansehen kann. Belbins soziologische Studie ist erstaunlicherweise in ihrem Ergebnis deckungsgleich mit einer empirischen Typenlehre aus vorchristlicher Zeit, die lange nur einem kleinen Kreis von Eingeweihten bekannt war – dem ENNEAGRAMM.

      Nach meiner Kenntnis hat jedoch noch niemand das Enneagramm für die Entwicklung von Figuren angewendet. Genau das werden wir