Hans Patschke - Herausgeber Jürgen Ruszkowski

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Sommerfrischlern erhalten Gestellungsbefehle zum Wehrdienst. Als Kind weiß man dann noch nicht so recht, warum die Mütter und Frauen auf einmal und schier unmotiviert so viel weinen müssen, weshalb Abschiednehmen so schrecklich sein muss, dass nun auch manche Kinder, die Mädchen zumindest, mit dem Flennen anfangen. Eigentlich ist es doch nun schade, dass man die Ferien in einem Paradies wie Försterei nicht mehr ganz auskosten kann. Für einen kleinen Jungen ist Krieg, den die Erwachsenen so schrecklich ernst zu nehmen scheinen, doch eine irgendwie forsche Angelegenheit ‚ jedenfalls oder zumindest nach den herrlichen Bildern aus Vaters Prachtbild-Bänden über den „Alten Fritz“ und die Befreiungskriege 1813/14. Siegreich marschiert sind die Deutschen übrigens auch 1870/71, nach den Bildern aus allen jenen Kriegen gibt es ja nicht nur Tränen, sondern sichtbar weitaus mehr Begeisterung und forschen Siegeswillen der ausziehenden Krieger. Dass dieser Krieg dann in der Folge nicht ganz so harmlos war, militärische Rückschläge die anfängliche Besserwisserei und Begeisterung bald erheblich dämpften und stiller Resignation Platz machten, dafür sorgten die ab Kriegsbeginn per Bahn, Flussschiffe und LKW einkommenden Verwundeten-Transporte und die sehr variablen Kriegsberichte in den Tageszeitungen. Die laufend sich verschlechternde Ernährungslage und die stetig anwachsende Zahl der Kriegsgefallenen ließen noch weniger Gedanken an eine rasche Beendigung und einen glücklichen Ausgang des Krieges keimen. Wir Kinder im militärischen Aufmarschgebiet Ostpreußen, nicht fern von der Grenze zu Russland hörten und sahen jede Menge vom Krieg und seinen Schrecknissen, vom Überleben und Sterben. Wir waren auch 1915, als die deutsche Offensive gegen die schnell kampfmüde gewordenen Russen einsetzte, viel unterwegs, um Kuchen und Früchte an unsere „Krieger“ und verwundeten „Helden“ zu verteilen, die an die Front fuhren oder von ihr her zurückkamen. Die Front war ja, zumindest in den ersten Kriegsmonaten, sozusagen in allernächster Nähe. Der Schulbetrieb lief anfänglich nach Kriegsausbruch der vielen eingezogenen Lehrer wegen ziemlich auf Sparflamme, die Schüler lernten trotzdem eine Menge, und die Ersatzpauker, Pensionäre oder Lehrerinnen, waren den Wissensdurstigen gegenüber keineswegs nachsichtiger und zarter, als deren frühere amtlichen, ausschließlich männlichen Vorgänger. Einen Schulausfall hatte ich nur im September / Oktober 1914, als Mutter mit uns Kindern - Vater kam später auch nach – zu Verwandten nach Oliva bei Danzig geflüchtet war. Wir entgingen damit der etwa dreiwöchigen Besetzung Tilsits durch die Russen. Auch nach Rückkehr aus Oliva war noch monatelang danach die Gefahr einer nochmaligen Eroberung der Stadt durch den „Feind“ sehr groß. Auf dem Memel-Nordufer befand sich nur ein schmaler Gebietsstreifen in deutscher Hand, der Russe hielt den ganzen Nordzipfel Ostpreußens, also auch das paradiesische Försterei - mit relativ starken Kräften besetzt. Es blieb uns allen Tilsitern unverständlich, dass damals im ersten Kriegswinter der russische „Moloch“ angesichts unserer schwachen Verteidigungskräfte nicht zum erneuten Angriff auf unsere Stadt überging. Tilsit wurde nicht einmal mit Artillerie-Beschuss konfrontiert. Die für die deutschen Armeen erfolgreiche Schlacht bei Tannenberg schien die Angriffsinitiativen der obersten russischen Heerführung entscheidend gelähmt zu haben, und der Deutschen Glaube an den Tannenberg-Sieger Hindenburg als Garanten für ihren Schirm und Schutz war so unerschütterlich, dass niemand der Tilsiter an ein nochmaliges Flüchten dachte. Im Übrigen hatten sich die russischen Eroberer seinerzeit in Tilsit sehr anständig und zurückhaltend gezeigt, wie es uns auch unser daheim gebliebener Großvater damals bestätigte. Ich entsinne mich zum anderen, dass wir den Anfang Dezember 1914 verstorbenen Großvater (mütterlicherseits) unter fern grollendem Geschützdonner zu Grabe trugen, über Memel im Übrigen einzelne in Brand geschossene Gehöfte vom höher gelegenen Friedhof aus zu sehen waren. Was Krieg heißt, hat sich also schon recht früh in mein Gedächtnis eingeprägt. Da ich zum anderen bei Kriegsbeginn noch sehr jung und unreif war, erlaubte mir das Gesehene noch keine Folgerungen hinsichtlich einer Beurteilung vom Ernst der Lage und darüber hinaus vom Krieg mit seinen Schrecken als solchem. Das wurde mir erst im weiteren Verlauf dieses Ringens um Sieg oder Niederlage á cto des stetig zunehmenden Darbens und Hungerns eindringlicher bewusst. Der für Deutschland unrühmliche Kriegsausgang 1918 musste bei mir als Kind, das in Elternhaus und Schule in zweifellos nur einseitiger und z. T. überspitzter patriotischer Denkungsart ausgerichtet und erzogen war, daher naturgemäß einen bitteren Beigeschmack hinterlassen. Noch heute steht mir im Übrigen im Vollzug der Umwandlung des Althergebrachten 1918 das lebhaft vor Augen, was in Tilsit diesem Prozess in Form von Plünderung und Verwüstung der örtlichen Geschäfte und Kaufläden durch den Mob vorausging. Es stellte umgekehrt des Pöbels Hass gegen die gute alte Ordnung und das Militär als deren Garant sehr in Frage, als er mit seinen inzwischen zahlreich gewordenen Sympathisanten seinen lauthals propagierten Widerstand gegen die heimkehrenden Reste der beiden Tilsiter Regimenter schlichtweg vergaß. Schließlich zogen die Truppen wider das Veto des hiesigen Soldatenrates in geschlossener Formation und mit klingender Marschmusik vom Bahnhof her zu den Kasernen. Die in vier Kriegsjahren „brutalisierten“ Soldaten hätten unter Umständen ja schießen können - wahrscheinlich hatten die Männer nach erfolgter Kapitulation und Auflösung der kaiserlichen Wehrmacht überhaupt keine Munition mehr bei sich -, aber, wie dem auch sei, Krieg und Revolte sind recht eigentlich eben nur schön ohne das Risiko eines „Helden“- oder „Märtyrer“-Todes, dabei zu sein ist vielleicht gut, zu überleben ist besser, hinterher gegebenenfalls etwa vorhandene Rosinen aus dem Kuchen zu picken, ist am besten. Von den Schuljahren 1914-1918 gibt es sonst aus dem persönlichen Bereich wenig zu berichten. Ostern 1916 wurde ich in die Sexta des Tilsiter Realgymnasiums als hoffnungsvoller Anwärter auf spätere Würden übernommen, meine gute Versetzungs-Rangnummer der letzten Vorschulklasse (Septima) ließ wohl diesbezüglich einiges erwarten. Das heißt jedoch keineswegs, dass inzwischen bei mir eine Art Liebe für die Schule als solche aufgekeimt war. Nichtsdestoweniger war ich auch weiterhin auftragsgemäß fleißig und begriff in allen Fächern das Dargebrachte recht rasch. Heute meine ich, dass meine jeweiligen Pauker mit vielleicht ganz wenigen Ausnahmen auch gute Pädagogen waren. Frühzeitig entwickelten sich überdies Deutsch, Erdkunde und Geschichte zu meinen Lieblingsfächern, für die ich zweifellos sowohl in den Schulstunden als auch zu Hause gerne gelernt und gearbeitet habe. Dem auf Sexta beginnenden Französisch galt meine Sympathie nicht. Dank meines erwähnten Fleißes sowie „Gottes und des Nebenmannes“ Hilfe kam ich im Unterricht jedenfalls gut voran, fand bei Lehrern und Kameraden die etwa gebührende Anerkennung, aber blieb wohl auch als Schüler ein, wenn auch nicht kontaktarmer, so doch etwas „reservierter“ Junge mit einiger Neigung zu gedanklicher Abwesenheit und Träumerei. Was oder wen ich aber mochte, das oder den mochte ich ohne Vorbehalt und treuer Anhänglichkeit, gar Bewunderung und gegebenenfalls Hilfsbereitschaft meinerseits konnte der „Auserwählte“ sich bewusst sein. Was den Sport anbetraf, war mir im Übrigen das Wasser als Betätigungsfeld lieber, als das Land. Trotz kleinkindlicher Wasserscheu lernte ich frühzeitig schwimmen und erwarb bereits als Zwölfjähriger den „Toten-Schwimmer-Schein“. Boote und Schiffe wurden mir mit zunehmenden Altersjahren immer sympathischere Fortbewegungsmittel, in natura sowohl als auch in gedanklicher Konzeption und Vorstellung. Führte beim Spiel mein größerer Bruder die „Landmacht“ an, so fuhren unter meiner Regie aus allen möglichen Bauelementen erstellte Handels- und Kriegsschiffe, und als beliebteste Lektüre beanspruchten zunehmend Bilderbände oder Bücher mit maritimen Darstellungen oder Inhalten mein Interesse. Konnte genannter Lesehunger aus dem ziemlich reichhaltigen Bücher-Reservoir des Vaters anfänglich noch gestillt werden, so war das für den Magen des Heranwachsenden 1917/18 leider nicht mehr möglich.

      Kriegsende durch Novemberrevolution 1918 – Weimarer Republik

      Bei Kriegsende sah ich jedenfalls nach aller Ersatz- und Schmalkost wie ein bloßer Strich in der Gegend aus. Ansonsten empfanden die Eltern und ein Großteil der erwachsenen Deutschen die durchgestandenen Ernährungsmängel der Kriegsjahre wahrscheinlich weniger gravierend und schmerzlich, als den ihnen unverständlichen politischen Umschwung in ihrem Vaterland. Die Kinder und Jugendlichen stiegen dagegen trotz aller ererbten politischen „Vorbelastung“ und einstweilen noch immer leerer Mägen nach Verlust von „Kaiser und Reich“ und abklingender Revolutionswirren ziemlich rasch und nahtlos - und vielleicht auch mit einiger Neugierde - in die neuen historischen Verhältnisse ein. Dem Trend der Zeit verhaftet, stellte selbstverständlich auch jede Schulklasse einen keineswegs irgendwie geforderten „Schülerrat“ zusammen. Letzterer war zwar vollkommen bedeutungslos, er hatte bei den Lehrern absolut nichts