Fritz Leverenz

Kon-Tiki auf dem Murmelsee


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noch andere Aufregungen, als nur die Suche nach seinem entlaufenen Vater. Seit er mit seinen Großeltern im Neubauviertel Amselwerder wohnte, war er täglich auf der Suche nach Abenteuern. Denn Abenteuer, das muss ich euch nicht sagen, sind ja ebenso wichtig, wie die Schule. Aber das braucht ihr nicht eurer Lehrerin oder Eurem Lehrer zu sagen. Sie könnten meine Worte missverstehen und euch in komplizierte Gespräche verwickeln. Es kann nämlich sein, dass sie sich an ihre Kindheit gar nicht mehr erinnern, entweder haben sie vergessen, dass sie selbst einmal Kind waren, oder sie hatten sie aus Bequemlichkeit einfach abgelegt, wie eine noch brauchbare aber nicht mehr moderne Jacke, oder sie war ihnen wie eine ihrer ersten Krakelzeichnungen hinten runtergerutscht, ganz nach hinten unten, hinter die unterste Gedächtnisschublade. Vielleicht stoßen sie einmal darauf, wenn die anderen Schubladen klemmen, weil sich das Holz verzogen hat oder die Kügelchen aus dem Gleitlager herausgefallen sind. Sind sie dann noch ein klein wenig neugierig, ziehen sie das Schubfach heraus, knien sich hin, greifen weit nach hinten und halten ein zerknautschtes, zusammengeschobenes vergilbtes Papier in der Hand. „Mein Gott“, werden sie dann zu sich sagen, oder „du lieber Himmel“, falls sie über ihre Herkunft weniger nachdenken, „ach, du liebe Zeit“. „Dieses Häuschen mit der Wiese und dem Baum davor, und die blauen Wolken. Weshalb hat mir damals niemand gesagt, dass Wolken weiß oder grau aussehen. Ja,...und dann waren wir rausgegangen und sind auf den Baum geklettert. Eine Kiefer war es, oder...? Wie lange ist das her. War das überhaupt einmal? Ach, ja, unsere kleinen Abenteuer. Sie hätten ruhig größer und viel mehr sein dürfen...“ Und diese Abenteuer hielten Tim so sehr in Bewegung, dass er darüber beinahe die Suche nach seinem Vater vergaß.

      Das erste Kapitel erzählt

       von der Idee eines Wellensittichs,

       vom Foto eines Bärtigen,

       davon, dass ein Müllschlucker außer Gerüche, noch andere

       schlimme Nachrichten verbreitet,

       und dass eine wichtige Beratung verschoben wird.

      Die erdfarbene schneelose Zeit, die noch immer Winter genannt wurde, ging vorüber. Mit kräftigen Flügelschlägen flogen drei Schwäne das Krumme Fließ entlang zum Murmelsee. Es war ein regnerischer Tag und die Leute blickten misstrauisch aus ihren warmen Hochhausfelsennestern in die graugrüne Landschaft. Auch Tim Brausewetter war an diesem Nachmittag zu Hause. Er lag ausgestreckt in seinem Zimmer auf dem Fußboden und las in einem Buch. An spannenden Stellen stupste er mit der flachen Hand seine Stupsnase in die Höhe, oder wühlte aufgeregt in seinem dunklen Haar, das sich in zerzausten Girlanden um seinen Kopf ringelte. Was ist mit dem Jungen bloß los?, dachte Großmutter, die aus der Küche herüber sah. Liegend kannte sie Tim nur abends im Bett. Er wird doch nicht krank sein? Vielleicht war das Aprilwetter zu kühl. Ich weiß nicht, was ich dem Bengel bei diesem Wetter anziehen soll. Morgens Schneeflocken, mittags Frühlingssonne, nachmittags Herbstregen. “Möchtest du warmen Tee trinken?”, fragte sie Tim. “Hmm, ja, nur nicht zu krümelig.” “Wie bitte? Krümelig? Der Pfefferminztee?” Großmutter blickte besorgt. Es wird doch nichts Ernstes sein. Sie kannte ihren Enkel. Wenn der sich erkältete, dann richtig. Fieber. Husten. Tagelang im Bett. Doch seit einigen Wochen hatte Tim ein Fieber gepackt, das sie noch nicht kannte, eine Unrast, die ihn nicht einmal im Schlaf zur Ruhe kommen ließ. Es kribbelte Tim in Kopf, Händen und Füßen, sobald er aus der Schule kam. Selbst jetzt, während er las, schwebten seine Gedanken außerhalb des Buches wie ein Netz, in dem sich Abenteuerideen verfangen sollten. Tim hätte es nicht sagen können. Er suchte unbestimmte, überraschende, verblüffende Einfälle. Er sah die Welt voll der unglaublichsten Wunder und buntschillernder Dinge. Er wollte das Leben so sehen, dass ihm am Morgen beim ersten Augenaufschlag das Herz rascher klopfte, die Füße wie von selbst aus dem Bett sprangen und sein Gesicht jede aufkommende Schlechtwetterwolke verscheuchte. Er brauchte eine Idee, die Tobi begeisterte. Sollte er weiße Mäuse mitnehmen zu Tobis Meerschweinchen? Nein, das hatten sie schon probiert. Das gab kein bisschen Aufregung. Mäuse und Meerschweinchen vertrugen sich blendend. Eine Katze? Nee, das brachte Ärger. Sollten sie Knallplätzchen knallen lassen vor der Tür des dürren Herrn Zauselnies? Auch Quatsch! Knallplätzchen zischten bloß, davon erschrak sich Herr Zauselnies in zehn Jahren nicht. Tims Blicke glitten durchs Zimmer und blieben am hellblauen Wellensittich Jacki hängen. Jacki müsste ein Raubvogel sein. Er kramte Papier und Bleistift aus seinem Basteltisch und zeichnete eine erregende Jagdszene: Ein Riesenwellensittich stürzt sich mit harkenähnlichen Krallen auf ein Tier, das einen Fuchs darstellte. “Sieh, mal, Oma!” Tim lief mit dem Zeichenblatt wedelnd auf den Flur und schlug die Zimmertür hinter sich zu. Frau Neumann guckte erstaunt über den Rand ihrer Brille. “Der Vogel Greif? Wie kommst du darauf?” Vertieft in seinen fehlgedeuteten Raubvogel, ging Tim zurück in sein Zimmer. Da hörte er es rascheln. Neugierig warf er sich hin und blickte auf dem Boden umher. Jacki tippelte vor der Tür hin und her, vergeblich bemüht, mit einem Papierschnipsel durch den dielenfreien Spalt zu gelangen. Tim lag auf dem Bauch und sah dem Vögelchen interessiert zu. Er stupste sich einige Male gegen die Nase und schnitt ein Gesicht, als stünde er kurz vor einer wichtigen Entdeckung. “Ich hab’s!”, rief er plötzlich, “ich habe es!” und sprang auf. ”Ich rufe nur rasch Tobi an.” Seine Augen glänzten, als er ans Telefon ging. Großmutter atmete auf, als sie ihren Enkel munter wie immer sah. “Bitte, wenn es so dringend ist.” Tobi, Tobias Krumbiegel, war Tims bester Freund und saß in der Schule eine Bank vor ihm. Grafik 2

       Tim ruft Tobias an

      Hatte Tim eine neue Idee, erfuhr Tobi sie zuerst. “Tobi? Du. Ich habe einen tollen Plan. Ja. Gleich morgen früh. Hole mich zehn Minuten früher ab als sonst. Unten an den Briefkästen, tschüs!”

      Den Rest des Abends beschäftigten Tim noch eine Reihe wichtiger Besorgungen: Ein Blick ans Schlüsselbrett, eine alte Zeitung, die er zu Heftgröße gefaltet in seine Gesäßtasche steckte und langes Kramen in seinem Basteltisch. Am nächsten Morgen klingelte Tobi wie verabredet. Tim begrüßte ihn stürmisch durch den Türlautsprecher, griff seine Schultasche und rannte die Treppen der acht Stockwerke mehr fliegend als laufend hinunter, um einiges schneller als der Fahrstuhl. Unten landete er außer Atem und mit gewichtiger Miene, als wüsste er ein Geheimnis und könne es nur schwer verbergen. Tobi blinzelte ihn an und fragte: „Na, was haste?“ Er ahnte Gewaltiges. Tim reichte ihm mit unbewegtem Gesicht einen schweren Schlüssel und sagte: “Komm’ mit in den Keller!” Tobi folgte ihm. Vor einer grauen Stahltür hielt Tim. “Schließ’ bitte auf!”, forderte er. Tobi schloss die Tür auf. Dumpfer Gestank drang ihnen entgegen. “Pfui, Teufel! Das ist der Müllraum”, rief Tobi und rümpfte enttäuscht die Nase. “Dafür bin ich zehn Minuten eher gekommen?” “Bitte, schließe mich jetzt hier ein“, sagte Tim unbewegt, „und geh‘ zur Schule. In zwei Minuten komme ich hinterher.” “Einschließen? – Aha, du hast einen zweiten Schlüssel.” “Nein, Ehrenwort, du kannst den Schlüssel ja außen stecken lassen.” Tobi glaubte nicht an Zauberei. “Willst du durch den Müllschlucker klettern?” “Bin ich ein Stinktier? – Außerdem, passe ich da nicht durch.” Tobi war sprachlos. Tim konnte sich doch nicht in Nebel verwandeln und wie ein Flaschengeist durchs Schlüsselloch kriechen. Mit gerunzelter Stirn schloss er Tim in den stinkenden Raum und klinkte probeweise. Ein wenig tat sein Freund ihm leid. “Soll ich wieder aufschließen?”, fragte er. “Nein!”, kam es von drinnen, “geh‘ endlich! Sonst kommen wir zu spät zur Schule.” Zögernd stieg Tobi einige Stufen hoch, blieb nachdenklich stehen und kehrte rasch um. “Ich weiß, wie du rauskommst. Du wartest, bis jemand in den Keller geht, und dann rufst du um Hilfe.” “Die Leute sind arbeiten, oder geht dein Vater so früh am Morgen in den Keller?” „Stimmt“, dachte Tobi, „so leicht kommt Tim bis zum Unterrichtsanfang nicht frei“. Im Müllraum raschelte es. “Kramst du in den Abfällen nach einem Schatz? Oder ... du wartest auf die Müllautos.” “Quatsch! – Reite endlich los!” “Na, schön. Wenn ich aus der Schule komme, schließe ich wieder auf”, tröstete Tobi seinen Freund und ging. Es wurde Zeit. Sollte Tim schmoren und den Unterricht versäumen.

      Tim lauschte den verklingenden Schritten, bis