Fritz Leverenz

Kon-Tiki auf dem Murmelsee


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und noch einmal und schluckte an einem Kloß. Der dritte Mann von links hieß – Brausewetter. Sollte dieser vollbärtige Mann, der seine Kollegen um Kopfeslänge überragte, sein Vater sein? Tim zitterten die Hände. Stimmte es, sah er seinen Vater jetzt zum ersten Mal. “Mein Vater”, flüsterte er. „Vater“. Wie ungewohnt das Wort klang. Er drückte seine Nase beinahe ans Foto, um dem bärtigen Brausewetter in die Augen zu sehen. Doch das Foto war unscharf, und der Mann verbarg seine Augen hinter einem Grauschleier. Tim wollte das Foto gut aufbewahren. Vielleicht kam er irgendwann einmal zur Getränkefabrik. Nur Tobi wollte er das Foto zeigen. Tim schreckte aus seinem Nachdenken. O, je, die Schule. Wie lange saß er schon hier unten? Tobi würde sich bereits freuen. Er blickte auf die Stahltür. Hoffentlich ging es hier auch so glatt, wie zur Probe an seiner Zimmertür. Er nahm die ausgebreitete Zeitung und schob sie durch den Spalt unter der Tür, bis nur noch ein schmaler Rand hervor sah. In der Stille hörte er sich selbst atmen. Da, mit einem Mal ein Höllenlärm im Müllschacht. Scheppernd und polternd, wie Gespenster mit schweren Ketten, stürzte es aus der Höhe und zerschellte klirrend im Stahlcontainer. Tim presste sich erschrocken an die Tür. Jetzt hörte er Männerstimmen. Sie schallten dumpf, als steckten die Männer kopfüber im Schacht. Tim verstand jedes Wort. Nahe der Öffnung die knarrende Stimme gehörte Herrn Zauselnies. Der also warf Flaschen in den Müll, dieser Knausel. Jetzt rückte die zweite Stimme näher, und Tim erkannte die Stimme von Herrn Piepenbusch. Dieser ungemütliche Dicke. Da haben sich die beiden Richtigen getroffen, dachte er. Sie wohnten einander gegenüber in der dritten Etage. Erneut rauschte eine Ladung in den Container. Diesmal eine leisere. “Wissen Sie ... unerhört ... bodenlose Frechheit ... Zum dritten Mal in dieser Woche keine Zeitung. ... aus dem Briefkasten ... Ventile aus den Fahrradreifen ... “ Herr Piepenbusch stöhnte entrüstet. “Wer weiß”, knarrte die zweite Stimme, “ wie viele Briefe schon entwendet worden sind ... nichts ... der heutigen Jugend heilig ... dieser Tim Brausewetter ... dieser andere Lümmel ... dieser ...” “Tobias”, ergänzte Herr Piepenbusch. “ ... sagte ich ... gestern zu meiner Frau ... Hildchen, sagte ich, wenn das nicht dieser Tim Brausewetter ... stiftet noch unseren Hans-Martin an ...”

      Oben schlug dumpf die Klappe zu, und Tim hörte nur noch unverständliches Gemurmel. Sprachlos und zornig lehnte er an der Tür. So eine Gemeinheit. Na, denen würde er es noch zeigen. Er guckte auf seine Taschenuhr. “Ach, du liebe Zeit ...” Nun käme er wohl doch verspätet. Hastig fummelte er aus seiner Hosentasche eine Drahtrolle, bog ein Stück davon gerade und stocherte damit im Schlüsselloch den Schlüssel in die richtige Lage. “Sachte! Sachte! Fall‘ bloß nicht neben die Zeitung!”, redete er dem Schlüssel leise zu. “Bitte, Bitte! Sonst muss ich hier im Gestank schmoren, bis Tobi mir großmütig die Tür aufschließt, und die ganze Klasse wird mich auslachen.“ Tim ächzte vor Anstrengung und drückte schließlich den Schlüssel mit leichtem Stoß aus dem Schloss, der mit leisem Klirren in den Kellergang fiel. Tim hielt den Atem an. Die Postfrau, die eben Zeitungen in die Briefkästen steckte, hielt inne. Vorsichtig zog Tim die Zeitung unter der Tür zu sich und atmete erleichtert auf: Fein säuberlich lag der Schlüssel darauf. Rasch steckte er die Zeitung wieder ein und schloss erleichtert die Tür auf.

      Indessen hatte Tobi siegesgewiss im Klassenraum von einem zum anderen schlendernd geheimnisvoll verkündet, er ahne, was Tim beträfe, heute noch Unangenehmes. Zumindest würde Tim einige Unterrichtsstunden schwänzen, wenn er sich heute überhaupt noch sehen ließe. “P! Tim schwänzt nie”, rief Katja entrüstet, und blickte Tobi verächtlich an. Sie konnte es nicht leiden, dass Tobi so von ihrem Freund sprach. Jetzt kam er ihr zwar nicht mehr so nahe. Schade! Seit sie in der ersten Klasse oft mit Tim Hand in Hand nach Hause gegangen war, nahm sie ihn, wo sie konnte, in Schutz. Tobi setzte sich rechthaberisch auf seinen Stuhl und sagte: “Na, ihr werdet ja sehen!” Noch war Tims Stuhl hinter ihm leer.

      Es klingelte zur Stunde. Die Tür ging auf und alle starrten, wer da wohl eintreten werde. Fräulein Kreidemeier trat in den Raum. Tobi schnitt Katja eine Grimasse. Die warf ihren Kopf zurück und machte: “P!” Die Lehrerin nahm das Klassenbuch und fragte, noch hatte sie den leeren Platz nicht entdeckt: “Wer fehlt?” Tobi hob die Hand. Da klopfte es und Tim trat ein. Tobi hob sich halb vom Stuhl und sperrte Mund und Augen auf. “Weshalb kommst du verspätet?” fragte Fräulein Kreidemeier. “Ja”, antwortete Tim zögernd, “ich bin in den Keller gegangen, wollte alte Zeitungen bündeln ... Da habe ich meinen Vater getroffen – und ... mich verspätet.” “Deinen Vater? Im Keller?” Tim nickte, zog die Zeitung aus seiner Hosentasche, entfaltete sie und zeigte der Lehrerin das Foto. “Hier, der Dritte - mit dem Bart.” Fräulein Kreidemeier sah Tim gütig an und strich ihm übers Haar. “Ist gut. Setz’ dich, bitte!” Noch halb in der Kniebeuge starrte Tobi auf Tim, als sei ein Geist erschienen. Der drückte ihm den Kellerschlüssel in den Rücken und zischte: “Du wolltest mich doch befreien.”

      In der Pause fragte Tobi Tim: “Eh, Alter, wie bist du so schnell aus dem Müllraum gekommen? Hat dein Vater dich rausgelassen?” Tim zeigte ihm das Zeitungsfoto. “Hier, das ist mein Vater.” Tobi las die Bildunterschrift: “ ... Brausewetter ...” “Mensch, Tim! Du hast einen Vater.” “Klar. Das wusste ich schon vorher.” “Besuchst du ihn?” “Ich weiß ja nicht, wo er wohnt.” “Du musst ihn suchen. Vielleicht sucht dein Vater dich auch und weiß nicht, wo du wohnst. - Und – wer hat dir die Tür aufgeschlossen?” Tim verzog nur ein wenig die Lippen, als er sagte: “Das bleibt mein großes Geheimnis.” “Ich kann es mir denken.” “Wenn du es rätst, schenke ich dir mein Fernglas.” Dieses Angebot wog stärker als ein Schwur. Tobi schwieg beeindruckt. Dann bettelte er leise: “Tim, sag’s mir, ich quassel’s auch nicht weiter.” “In zehn Jahren vielleicht”, sagte Tim. Sollte Tobi in seiner Neugier schmoren. “Zauberer verraten ihre Tricks auch nicht, sonst würde sie nämlich niemand mehr bewundern. – Ich habe eine andere Idee.” Und er erzählte seinem Freund, von dem Gespräch, das er sich durch den Müllschlucker hatte anhören müssen. Tobi war empört. “Das ist gemein von diesen Heinis, uns so laut zu verdächtigen.” “Seit der großen Schneeballschlacht, weißt du, bei der Peter Knispel ein blaues Auge bekam, kann mich Zauselnies nicht mehr leiden”, sagte Tim. “Das werden wir deinem Großvater erzählen, damit er mit den beiden mal richtig schimpft.” “Nein, der regt nur unnötig sein krankes Herz auf, und außerdem gibt es Streit im Haus, und Herr Piepenbusch und Herr Zauselnies knallen tagelang mit den Türen. Die Beleidigung werden wir ihnen zurückzahlen. – Pause. – “Donnern und Knallen! – Tobi, ich glaube, ich habe eine Idee.” Tobi überlegte noch und sagte dann: “Eigentlich haben sie dich gar nicht angesprochen. Du hast nur gelauscht.” “Hmm.” Tim sah seinen Freund unsicher an und antwortete dann heftig: “Nee, Tobi! Piepenbusch hat’s dem Zauselnies gepetzt. Und der quatscht den Verdacht jetzt von der ersten bis zur elften Etage hoch, Piepenbusch erzählt es seiner Frau, dann hört es Pflaume, und schon weiß es die halbe Schule. Das genügt. – Weißte, wir müssen denen was Neues zu quatschen geben. Ich weiß auch schon, was.” Hinter ihnen tauchte Hans-Martin auf, und sie verabredeten, die Beratung ihres Schlachtplanes zu verschieben. Die Kellergeschichte war bald vergessen, und die Tage schleppten sich wieder gleichförmig dahin wie das träge Wasser vom Krummen Fließ.

      Das zweite Kapitel erzählt

       von einem Wort, an dem sich Kopf und Zunge stoßen,

       wie Tim und Tobi von der Schatzsuche auf Bäume geraten,

       von einer Jagd beinahe in Seenot

       und wie schwer es ist, eigenen Träumen zu glauben.

      An einem sonnigen Apriltag, an dem es einen wirklichen Jungen nicht in der Wohnung hielt, bummelten Tim und Tobi, die Hände in den Hosentaschen vergraben, die Humboldtstraße entlang, die vom Sportplatz in den Stadtforst führte. Sie blickten suchend auf das Kopfsteinpflaster, als wollten sie die Steine zählen. “Verstehst du,” fragte Tim, “was Fräulein Kreidemeier meinte mit Dipli ... Dip..., mit – Diplizin?” “Nee.“ „In meinem Heft steht auf jeder Seite dreimal: ‚Tim muss dipli..., displizinierter sein!’” “Bei mir noch öfter. Ich glaube, diese dämliche Displizin fällt mir deshalb so schwer, weil ich das Wort gar nicht aussprechen kann.” “Dieses