Benedict Dana

Mo Morris und der Staat der Flüchtlinge


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und Sofia blinzelten beim Verlassen des Wagens müde in die tief stehende Sonne, die in diesem Moment die letzten Strahlen über die Berggipfel schickte. Es lag ein langer und ereignisreicher Tag hinter ihnen, der sie nach einer Reihe von Gesprächen in Genf auf den Weg nach Italien geführt hatte. Ihr Ziel, ein ehemals dünn besiedeltes Seitental, das in unmittelbarer Nähe des Mont-Blanc-Tunnels begann und sich nach einigen Kilometern in nordöstlicher Richtung wie eine große Sackgasse an den Ausläufern mächtiger Alpengipfel verlor, hatte seit der Gründung der UN-RN einen beispiellosen Aufschwung erlebt. Die schmale Straße, die noch vor wenigen Jahren ins Nirgendwo geführt hatte, war auf ihrer gesamten Länge eine Baustelle, da die vielen Flüchtlingsbusse und der Ausflugsverkehr neugieriger Touristen eine Verbreiterung dringend nötig gemacht hatte. Die großen, blauen Schilder mit dem UN-Symbol, auf denen in regelmäßigen Abständen „UN-City in the UN-Refugee Nation“ mit einer Kilometerangabe abzulesen war, wirkten wie die Vorboten einer gänzlich anderen Welt; es war eine Welt, die in dem schmalen, von gewaltigen Bergmassiven umschlossenen Talkessel ein geschütztes Refugium mitten im Herzen Europas gefunden hatte. Die geographische Lage war ideal, auch wenn die sich ringsherum auftürmenden Berge und die auf ihren Gipfeln verlaufende französische und schweizerische Grenze die „UN-City“ zu einem abgeschirmten und eingeschlossenen Ort zu machen schienen.

      Sie schlenderten den großen, bekiesten Parkplatz des Berghotels hinunter und schauten sich neugierig die herumstehenden Autos an, die vor allem italienische, französische, schweizerische und deutsche Kennzeichen trugen. Das Hotel, das ein beliebtes Ausflugsziel war, lag auf 1600 Meter Höhe etwas abseits von der sich durch das Tal schlängelnden Hauptstrasse am Fuß eines bis zu halben Höhe bewaldeten Bergmassivs und erlaubte einen weiten Panoramablick. Es war der letzte Gasthof auf italienischem Gebiet, bevor man in etwa zwei Kilometern auf die Grenze der UN-RN traf. Es hatte die Architektur eines typischen Bergchalets, dessen untere beide Stockwerke aus massiven Felssteinen bestanden, während das holzverkleidete Obergeschoss von einer aufwändigen Dachkonstruktion aus dicken Balken und schweren Schieferplatten gekrönt wurde.

      Sofia sah in ihren zierlichen Schuhen und ihrem schlichten, grauen Kostüm noch immer genauso aus, wie während ihres zweitägigen Aufenthaltes in Genf. Die Verwandlung, die sie beide zu zwei Flüchtlingen machen würde, hatte noch nicht stattgefunden, aber stand nun unmittelbar bevor. Sie beklagte sich stöhnend über die Kälte und blieb dann plötzlich vor einem weißen Mercedes-Geländewagen älteren Baujahres mit Genfer Kennzeichen stehen, der einen großen, blauen UN-Aufkleber auf seiner Kofferraumklappe trug.

      „Das muss Gregs Wagen sein!“, rief sie freudig aus und beschleunigte ihren Schritt in Richtung des Hoteleingangs. Mo verzog missmutig seine Miene. Die Art, wie sie die ganze Zeit von „Greg“ sprach, nervte ihn bereits jetzt. Auf der Fahrt hatte sie ihm voller Enthusiasmus den gesamten Werdegang des Engländers erzählt und unablässig über seinen unermüdlichen Einsatz für die Belange der Flüchtlinge und den Aufbau von „Unity“ geschwärmt. So wie sie es dargestellt hatte, war er quasi ein Heiliger, dem die meisten anderen Menschen nicht im Mindesten das Wasser reichen konnten. Überhaupt störte ihn der Ton inniger Vertrautheit, mit dem sie von Anfang an über andere UN-Mitarbeiter sprach, so als formten sie alle eine große, weltweite Familie - eine Familie, der er natürlich nicht angehörte.

      Sie gingen um eine Hausecke und erreichten den vorderen Teil des Parkplatzes, von dem sich ihnen mit einem Mal die gesamte, unbeschränkte Aussicht bot, die dem Hotel seinen Namen gab: „Albergo di panorama“. Erst jetzt blieben sie für einen Moment stehen und schenkten der wunderschönen Landschaft die Aufmerksamkeit, die sie verdiente. Sie blickten über das dünn besiedelte, von Tannen bewaldete Tal, das auf der gegenüberliegenden Seite von den felsigen Hängen kleinerer Berge und im Hintergrund durch die Schnee bedeckten Gipfeln einiger zur Mont-Blanc-Gruppe zählender Viertausender begrenzt wurde. Am Rand der Hauptstraße glänzten hin und wieder die brandneu aussehenden Hallen verschiedener kleinerer Betriebe in der Sonne, die sich außerhalb des Gebietes von „Unity“ angesiedelt hatten. Mo beobachtete noch eine Weile einen großen französischen Reisebus, der in diesem Moment seine aus dem Hotel strömenden Passagiere aufnahm, und betrat dann hinter Sofia die rustikal mit Holzbalken und -verkleidungen eingerichtete Lobby.

      „Greg erwartet uns in der Panoramastube“, raunte ihm Sofia verschwörerisch zu, so als hätten sie ein hochkarätiges Geheimtreffen vor sich. Neben dem breiten Durchgang zum Restaurant und einer nach oben zu den Hotelzimmern führenden Treppe befand sich eine dicke, mit Holzschnitzereien versehene Tür, die mit dem Schild „Sala Panorama“ versehen war. Schon als Sofia sie öffnete, erkannte sie sofort Greg, der am anderen Ende der Stube vor einer großen Fensterscheibe saß. Die übrigen Plätze waren mit Touristen voll belegt, was der großen Zahl der draußen parkenden Wagen verschiedenster Herkunft entsprach. Der Raum war vollständig mit Holz verkleidet und strahlte zusammen mit dem gold-gelben Licht der hereinfallenden, untergehenden Sonne und den auf den Tischen verteilten Bier- und Weinkrügen die üppige Gemütlichkeit einer typischen Berggaststube aus.

      Als Greg McGregor, der bekannte und beliebte Leiter von „Unity“, sich erhob und ihnen ein Zeichen des Erkennens gab, musste Mo sich widerwillig eingestehen, dass der Engländer alles Andere als unsympathisch aussah. Er hatte einen dichten, weißen Vollbart und halblanges, schlohweißes Haar, was ihm zusammen mit seinem Vertrauen erweckenden, tief zerfurchten Gesichtszügen alle Attribute verlieh, wie sie einer gütigen Vaterfigur entsprachen. Die Art, wie sich Sofia ihm auf den letzten Metern mit ausgebreiteten Armen näherte, signalisierte ihm genau, dass ihre früheren Begegnungen nicht bloß flüchtig gewesen sein konnten. Nachdem die Beiden ein paar innige Wangenküsschen nach französischer Art ausgetauscht hatten, wurde er selbst durch ein einnehmend freundliches Lächeln und einen kräftigen Händedruck begrüßt.

      „Ich hoffe, Sie hatten eine gute Fahrt! Solch illustre Gäste aus New York kann ich hier leider nur selten begrüßen. Ich bin wirklich froh, dass Sie und Sofia den Weg hierher gefunden haben!“

      McGregor stimmte ein höflich-einvernehmliches Lachen an und wies ihnen einen Platz auf der bequemen, rings um den Tisch verlaufenden Sitzbank zu, wonach er sich sofort wieder an Mo wandte.

      „Waren es wirklich Sie, der letztes Jahr die Hintergründe des großen Internetblackouts in den USA aufgeklärt hat, oder ist das nur ein Mythos?“

      „Es stimmt schon, aber ich war natürlich nicht allein daran beteiligt. Wir waren ein Team und es ist mir manchmal etwas peinlich, dass mir am Ende die gesamte Ehre zufiel.“

      „Na, na, mal nicht so bescheiden, mein lieber Dr. Morris, man hat ja oft genug in der Zeitung über Sie gelesen. Sie wundern sich vielleicht, warum Sofia und ich so vertraulich miteinander stehen. Wir kennen uns aus ihrer Genfer Zeit und sie hat die UN-City in den ersten Monaten nach ihrer Gründung im Rahmen ihrer Tätigkeit beim UNHCR regelmäßig besucht.“

      Mc Gregor gab der Kellnerin einen Wink und so bekannt wie sein Gesicht im ganzen Tal war, eilte die junge Italienerin sofort herbei und nahm die Bitte um eine Speisekarte mit besonderer Freundlichkeit auf.

      „Ich wusste gar nicht, dass Miss Merizadis Besuche in Unity so zahlreich waren. Halten Sie es wirklich für klug, gerade sie undercover in die Stadt einzuschleusen? Ihr Gesicht könnte doch einigen UN-Mitarbeitern immer noch gut bekannt sein.“

      Mos Einwand wog offenbar nicht sehr schwer, da McGregor zunächst gar nicht richtig darauf reagierte und für einen Augenblick mit verträumter Miene in Sofias attraktives, tiefbraunes Gesicht vertieft war. Obwohl der dicke goldene Ring an seinem Finger es sehr wahrscheinlich aussehen ließ, dass er verheiratet war, schien er etwas mehr als nur freundschaftliche Empfindungen für sie zu hegen.

      „Die UN hat keine andere Wahl, da ihr langsam die Leute für solche Sondereinsätze ausgehen. Außerdem sahen damals nur wenige unserer Mitarbeiter Miss Merizadi, da sie meistens nur zu Besprechungen in unserem Direktoriumsgebäude war. Viele von ihnen sind schon gar nicht mehr hier, da bei der UN die Fluktuation im Allgemeinen sehr hoch ist.“

      Da Mo seinen Blick noch immer auf den goldenen Ring gerichtet hielt, legte McGregor ein vieldeutiges Lächeln auf und fragte:

      „Sind Sie verheiratet, wenn ich fragen darf?“

      Mo schüttelte wie