Benedict Dana

Mo Morris und der Staat der Flüchtlinge


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schon gedacht. Sie haben irgendwie so etwas an sich… Ich selbst bin übrigens schon seit vier Jahren Witwer, aber ich habe meiner Frau bis heute die Treue gehalten. Obwohl es natürlich manchmal schwer fällt, vor allem wenn man sich in der Gegenwart einer Frau wie Sofia befindet!“

      Mo lachte oft und gern, aber in diesem Moment konnte ihn nichts dazu bewegen, seine Mundwinkel auch nur einen Millimeter zu verziehen. McGregor war 20 bis 25 Jahre älter als Sofia und hätte mit seinem schlohweißen Bart und seinem faltigen Gesicht in seinen Augen niemals zu der schwarzhaarigen Schönheit mit persischen Ursprüngen gepasst. Er betrachtete das erste Mal die Kleidung seines Gegenübers genauer und kam sofort zu dem Schluss, dass er ein unangepasster, zum Individualismus neigender Mensch sein musste. Durch seine naturfarbene Baumwollhose und sein zerknittertes weißes Leinenhemd, das einen weiten Ausschnitt mit Schlaufen besaß und zur Hälfte mit einer Kordel zugeschnürt war, sah er definitiv nicht wie ein hochrangiger UN-Funktionär aus. Er wirkte eher wie ein lockerer, spirituell angehauchter Zeitgenosse, der mit aller Welt auf vertraulichem Fuß stand. Zu diesem allgemeinen Eindruck trug auch die silberne Kette an seinem Hals bei, an der ein kleines Ying-und-Yang-Zeichen hing.

      „Ich denke, wir sollten uns alle duzen. Nennt mich einfach Greg. Wir haben die große Gemeinsamkeit, perfektes Englisch zu sprechen. Das kann man von vielen Leuten hier in der Gegend leider nicht behaupten, obwohl es offiziell die erste Amtssprache in Unity ist.

      Also, was wollt ihr bestellen? Ihr seid selbstverständlich meine Gäste. Am besten esst ihr euch noch mal richtig satt, denn in Unity werdet ihr nur noch eine bestimmte, tägliche Ration von Lebensmitteln erhalten, die ihr euch in eurer kleinen Wohnung selber zubereiten müsst. Falls ihr noch ein letztes Glas Wein trinken wollt, solltet ihr jetzt ebenfalls die Gelegenheit dazu ergreifen. In Unity gibt es nämlich keinen Alkohol. Damit nehmen wir nicht nur Rücksicht auf den hohen Prozentsatz der muslimischen Flüchtlinge, sondern wollen auch die üblichen Probleme vermeiden, die mit Alkoholkonsum zusammenhängen.“

      Beim Erscheinen der Kellnerin gab „Greg“ die Bestellung in einem fließenden Italienisch auf, womit er einigen Eindruck auf sie machte. Dann begann er sie über ein paar wesentliche Dinge aufzuklären.

      „Ihr wollt bestimmt eine Menge von mir wissen, aber wir müssen ja nicht gleich alles am ersten Abend besprechen. Kommen wir erst einmal zu dem unmittelbar bevorstehenden Teil: Ihr werdet die heutige Nacht hier im Hotel verbringen. Wir haben für euch ein Zimmer unter dem Namen reserviert, unter dem ihr morgen nach Unity einreisen werdet. Ihr seid ein englisch-syrisches Ehepaar und tragt den Doppelnamen Bailey-Hemidi. Morton lebt bereits seit zwanzig Jahren in Syrien und ihr beiden stammt direkt aus einem Kriegsgebiet. Unter unseren Angestellten wird es nicht weiter auffallen, dass er kein Wort syrisch oder arabisch spricht, weil sie es bis auf ein paar Wenige selber nicht verstehen. Bei diesen Wenigen handelt es sich um ein paar ehemalige Flüchtlinge, die heute bei der UN angestellt sind. Ihr werdet in einem Wohnblock einquartiert, in dem ihr den betreffenden Personen selten begegnen werdet.

      Ihr solltet den restlichen Abend dazu nutzen, langsam in eure neuen Rollen zu schlüpfen. Am besten geht ihr nachher direkt auf euer Zimmer und lasst euch nirgendwo mehr sehen. Man weiß nie, wer sich alles in diesem Hotel herumtreibt. Es ist dabei, sich zu einem immer merkwürdigeren Ort zu entwickeln. Vor ein paar Jahren war es noch eine unbedeutende Herberge, aber jetzt wird es mehr und mehr zu einer Art Umschlagplatz zwischen Unity und Italien. Nicht nur viele Busse mit Touristen halten hier, sondern häufig auch welche mit Flüchtlingen. Leider gibt es Indizien dafür, dass sich hier hin und wieder einige der Kriminellen treffen, die versuchen ihre krummen Geschäfte vor den Toren Unitys zu etablieren. Es hat zum Beispiel immer wieder Versuche gegeben, einen Drogenhandel hier im Tal zu organisieren. Bisher konnten wir diese Versuche weitestgehend unterbinden, indem wir allen Flüchtlingen, die Drogen kaufen oder verkaufen, mit dem Entzug des Bleiberechts drohen. Vor kurzem hat es einige Fälle gegeben, bei denen mit Hilfe korrupter UN-Angestellter Prostituierte nach Unity eingeschleust wurden. Ich könnte euch noch mehr Geschichten in der Richtung berichten, aber ich möchte uns das Abendessen nicht verderben. Wir werden uns übermorgen in der Stadt wieder sehen, sobald ihr euch etwas eingelebt habt. Dann werde ich euch mehr erzählen.“

      Als Greg sich zurücklehnte und so tat, als wäre das Wichtigste bereits geklärt, beschwerte sich Sofia aufgebracht:

      „Soll das etwa bedeuten, wir erfahren immer noch nicht, worum es genau geht? Wir haben heute Mittag in Genf mit Rick van de Loo gesprochen. Er hat uns so gut wie nichts Neues erzählt, weshalb wir uns das Treffen auch hätten sparen können. Und jetzt fängst du genauso an! Wozu sind wir überhaupt hergekommen?“

      Sie schlug ihre langen, schwarzen Haare resolut hinter ihre zierlichen Schultern zurück und schaute ihren alten Bekannten vorwurfsvoll an. Ihre Erregung schien eine besondere Wirkung auf ihn zu haben, da für einen Moment die Selbstsicherheit aus seinem Wesen wich und er kleinlaut zugab:

      „Ich verstehe, dass euch diese Verzögerungstaktik nervt, aber natürlich hat sie ihre Gründe. Die Angelegenheit muss streng geheim behandelt werden, da womöglich auch UN-Mitarbeiter an den betreffenden Machenschaften beteiligt sind. Das erklärt zumindest van de Loos Verhalten. Meines hat noch andere Gründe. Ich will euch nämlich nicht gleich zu Anfang erschrecken, indem ich mit zu vielen Infos auf einmal herausrücke. Ich werde jetzt nur einmal ganz vorsichtig das Wort organisiertes Verbrechen in den Mund nehmen, was in einem Land wie Italien natürlich einen ganz besonderen Klang bekommt. Ich hoffe, das wird euch nicht in Angst und Schrecken versetzen.“

      Greg schaute sich mit finsterer und misstrauischer Miene um, so als befürchtete er, irgendwer von den übrigen Gästen im Raum könnte heimlich mithören.

      „Sie meinen, wir hätten es mit der Mafia zu tun?“, sprach Mo das böse Wort offen aus.

      „Du, wir hatten uns auf das Du geeinigt“, hielt sich Greg ausweichend an einer Nebensächlichkeit fest, so als wäre eine direkte Antwort hierauf zu schmerzlich für ihn. Dann atmete er schwer aus, als wäre er von einer schweren Last geplagt und seufzte:

      „Manchmal denke ich, wenn man etwas Gutes und Lichtvolles in der Welt realisieren will, ruft es mit besonderer Macht auch die Gegenkräfte hervor. Das Licht zieht die Dunkelheit wie ein Schwamm das Wasser an. Für Schmuggler, Schwarzhändler, Agenten, Mafiosi und Kriminelle aller Art scheint Unity ein regelrechter Magnet zu sein. Vielleicht liegt es daran, dass wir nur ein paar Ordnungskräfte haben, aber keine richtige, eigene Polizei. Leider haben wir es nicht nur mit einigen kleineren und größeren Vergehen hier vor Ort zu tun, sondern mit einem sehr viel weiter gespannten, internationalen Netzwerk, das das Geschäft mit den Flüchtlingen auf vielfältigste Weise im großen Stil organisiert.“

      Greg wurde unterbrochen, weil die Kellnerin einen großen Weinkrug und Gläser brachte; danach blickte er sich ein paar Mal um und sprach mit einer erheblich leiser werdenden, vertraulichen Stimme weiter:

      „In einigen Ländern werden Menschen geradezu überredet zu fliehen, obwohl sie es gar nicht unbedingt nötig hätten. Die Kosten für die Reise und Überfahrt nach Europa werden ihnen dann in Form eines Darlehens von den Schlepperbanden vorfinanziert. Sie werden dazu verpflichtet, es von dem Geld zurückzubezahlen, das sie in den Betrieben der UN-RN oder irgendeinem europäischen Land verdienen. Aus diesem Grund wendet man sich bevorzugt an junge, kräftige, gesunde Männer, die arbeitsfähig sind. Dies wiederum hat zur Folge, dass die Zahl der Frauen, Alten und Kinder unter unseren Flüchtlingen mit der Zeit zurückgegangen ist. Einige junge Männer, die eigentlich gar keine echten Flüchtlinge sind, halten unsere Kontingente besetzt und hindern uns daran, diejenigen aufzunehmen, die es wirklich dringend nötig hätten. Ein Skandal, der Sofia als Frauenrechtlerin besonders aufregen wird. Hier findet ein Verdrängungsprozess derjenigen statt, die nicht lukrativ genug für diese Art von Geschäft sind. Ein anderer, noch viel erschreckender Skandal betrifft das Thema Mädchenhandel. Es gibt ein organisiertes Verbrechen, das junge, hübsche, afrikanische Mädchen, die sich als Flüchtlinge ausgeben, zu Zwecken der Prostitution nach Europa einschleust.“

      Greg hatte ihnen plötzlich das Wesentliche auf einen Schlag erzählt, obwohl er sich zuerst so zurückhaltend gezeigt hatte. Das Thema schien ihn so zu belasten, dass er sich mit mehreren großen Schlucken Rotwein beruhigen musste. Seine Enthüllungen