Victoria M. Castle

Joayna


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sie die Augen, rannte zu dem Körper, der eine große, klaffende Wunde am Brustkorb trug, und schlang direkt ihre Arme um das weiße Hemd des muskulösen Körpers, ehe sie diesen mühelos zu sich heranzog, als wäre es nur der Körper einer Puppe, und an den ihren presste.

      „Nein, lass mich nicht auch noch allein!“, hallte ihre eigene Stimme in ihrem Kopf wieder und wieder, doch entwich ihren Lippen kein einziger Laut. Wie eine Spieluhr, die man aufgezogen hatte, welche immer wieder ihre Arbeit vollführte, bis auch sie ihren letzten Ton hervorgebracht hatte, zu müde um aus eigenem Antrieb sich erneut ins Leben zu rufen.

       Die Asche währenddessen, die sich um sie herum auf dem Boden befand, schien wie in Zeitlupe auf entgegengesetztem Wege von der Erde zum Himmel zu regnen und hüllte die leeren, toten Körper um sie herum in tiefe Schwärze und erneut schien sich die Dunkelheit langsam auszubreiten. Sie presste den Körper in ihren Armen noch enger an sich, wollte ihn nicht loslassen.

       Wieder und wieder hallte der Satz in ihrem Gedächtnis und mit jeder Silbe zog sie den Körper noch enger an sich heran, ehe die Asche ihre Sinne benebelte, den Körper in ihren Armen einhüllte, ihre Arme um diesen schwärzten und sich schließlich auch auf ihre Augen legten. Grau wurde ihr Blickfeld, die Asche brannte in ihren Augen, ehe sie gezwungen war, diese zu schließen, und die Dunkelheit erneut von ihrer Umgebung Besitz ergriff.

      Lindsay fuhr erschrocken auf, ihr Atem raste.

      Mehrmals blinzelte sie, um die Asche, welche sich auf ihre Netzhaut gelegt hatte, hinab zu wischen.

      „Verdammt!“, entwich es ihren Lippen, viel zu laut, viel zu grell. Sie verkrampfte ihren gesamten Körper, kniff ihre Augen sofort wieder zusammen, schlang ihre Arme um den eigenen Körper und krallte sich mit ihren Fingern in ihre Oberarme, auf denen schnell blutige Schrammen entstanden, die sich jedoch binnen weniger Sekunden zu schließen begannen, um sich schließlich erneut durch ihre Berührungen zu blutigen Spiegeln ihrer Seele zu bilden.

      „Linds. Linds, beruhige dich“, sprach eine Stimme neben ihr, die ihr in diesem Moment im Vergleich zu ihrer eigenen Stimme so unglaublich ruhig und entspannt vorkam, vertraut und gleichzeitig weit entfernt.

      „Linds!“, sagte die Stimme nun noch mit ein wenig mehr Nachdruck und sie spürte die rauen Berührungen auf ihren Unterarmen, harte Finger, die sich um ihre Handgelenke schlossen und sie mit Gewalt zwangen, von ihren Oberarmen abzulassen.

      „Sieh mich an“, befahl die Stimme neben ihr und Lindsay zwang sich dazu, langsam ihre Augen zu öffnen, um in ein tiefes Meeresblau zu blicken.

      Mehrmals blinzelte sie, hätte sie schwören können, das Grau noch einen Moment wahrnehmen zu können, doch alles was sie nun sah, war das tiefe Blau von seinen Augen. Langsam entspannten sich ihre Muskeln und sie lockerte ihren Griff, ließ ihn die eigenen Hände von ihrem Körper ziehen, ehe sie sich zu einem matten, schiefen Lächeln zwang.

      „Entschuldige, Schatten“, sagte sie leise, ehe sie ihre Hände erneut von ihm wegzog und sich augenblicklich von ihm wegdrehte.

      Mit einem Schlag war sie wieder im Hier und Jetzt.

      Lindsay war mit übernatürlicher Schnelligkeit und Leichtigkeit von einem überdurchschnittlich großen, weichen Bett gesprungen, welches in einem breiten Oval geformt war und aus einem sanften, seidenen, beinahe schon papierartigen Stoff bestand, der so unglaublich fein wirkte, als könnte er mit wenig Widerstand zerreißen, jedoch in Wahrheit so widerspenstig war, dass selbst Lindsay Mühe hatte, diesen zu zerreißen, was – so hatte Shadow es ihr gesagt – so einiges zu bedeuten hatte.

      Für sie waren es Worte gewesen, die sie hingenommen hatte, auch wenn sie bisher nie wirklich verstand, was er ihr hatte damit sagen wollen.

      Ganze zweihunderteinundneunzig Tage war sie nun schon hier, wohnte in seinem Haus und war darauf angewiesen, dass das, was er ihr erzählte, der Wahrheit entsprach.

      Lindsay durchschritt mit schnellen Schritten den großen Raum, welcher auf drei großen Podesten, die aufeinander aufgebaut waren, geteilt worden war und so beinahe schon eine Art Bühne bildeten, auf der das Bett sich befand. Das Zimmer war ansonsten vollkommen leer, enthielt es doch keine weiteren Möbelstücke.

      An jeder der vier Wände stattdessen ging eine prächtige Tür ab, welche aus Wurzeln eines großen Baumes geformt zu sein schienen, die sich nun in dicken Strähnen zu einer runden Öffnung bewegen ließen. Die Tür an der linken Seite des Bettes führte nach draußen in den kleinen Innenhof des Hauses, welcher vollkommen von Blättern des Baumes, in dem das Haus sich befand, bedeckt war, durch welche die Sonne als rotes Schimmern hindurch erschien und dem kleinen, moosbewachsenen Platz eine gewisse Ruhe und Romantik verlieh.

      Die zweite Tür führte in ein geräumiges Badezimmer, das an der Wand geradeaus eine große, dicke Wurzel aus der hölzernen Mauer kommend besaß, die sich bis über den Boden erstreckte und welche eine tiefe Einkerbung hatte, groß genug für einen Halbdrachen. Durch die Einkerbung floss klares, hellgrünes Wasser, das aus der Wurzel kam und immer eine solch angenehme Temperatur hatte, dass es entspannend war, darin zu baden.

      An der rechten Wand befand sich eine aus ähnlichen Wurzeln stammende Toilette, welche auf ähnliche Art und Weise funktionierte, ohne dass man irgendwelche Knöpfe betätigen musste, was Lindsay in so manchen Momenten durchaus merkwürdig, suspekt und unangenehm erschien, wo auch immer all ihre Hinterlassenschaften hin transportiert wurden und sie wagte nicht eine Sekunde zu glauben, dass der Baum, in dem sie wohnten, durch eben dies so kräftig und stark geworden war.

      Bei diesem Gedanken huschte ihr doch tatsächlich ein Grinsen über die Lippen, hatte sie Shadow immer und immer wieder mit dieser Vermutung zur Weißglut gebracht und er verzieh es ihr nur mit Mühe, dass sie als Fremde in Tiéfwâas mit diesen Umständen nur schwer vertraut war und sich vielleicht sogar niemals daran gewöhnen könnte, welche Wunder die Natur doch für sie bereithielt, wenn sie auch zugab, dass diese stets nett anzusehen waren.

      Lindsay jedoch hatte sich dagegen entschlossen, durch eine der beiden Türen zu verschwinden, missachtete auch die dritte Tür, welche sie bisher nie betreten hatte, war dies doch allein Shadows Reich, und ging stattdessen gegenüberliegend des Bettes durch die Wurzeltür hinaus in den kleinen Flur, um diesen mit nur wenigen Schritten zu durchschreiten, um anschließend zu einer großen Tür zu treten, die nach draußen führte, als Shadow auch schon zu ihr gekommen war.

      „Du brauchst nicht zu gehen“, sagte er ihr mit ruhiger Stimme und sie drehte sich langsam zu ihm um, das gewohnte schiefe, matte Lächeln auf den Lippen.

      „Die Elfen beim Talbrunnen brauchen noch eine Hand. Der Drachentrupp von gestern hat einige Wurzeln hinabgedrückt und ich habe ihnen bereits zugesagt, dass ich ihnen beim Wiederaufbau helfen werde“, hatte Lindsay mit schnellen, festen Worten geantwortet ohne ihn dabei wirklich anzusehen, ehe sie augenblicklich die Hand erhob, um Shadow daran zu hindern, etwas zu entgegen.

      „Du hast nun anderes zu tun“, fügte sie noch schnell hinzu, ehe sie ihr Lächeln für einen Augenblick etwas breiter werden ließ, ihn für den Bruchteil einer Sekunde ansah, um ihren Worten mehr Nachdruck zu verleihen, als sie auch schon ihre Schulter, auf dessen immer noch seine Pranke lag, leicht kreisen ließ, um diese abzuschütteln. Dann drehte sie sich erneut von ihm weg und drehte auch mit flinken Fingern die knaufartige Ausbuchtung der Wurzel, um die Tür zu sich heranzuziehen.

      Shadow hatte langsam Luft geholt. Er hatte es früh aufgegeben, mit ihr zu diskutieren oder sie gar bei ihren Vorhaben zu hindern. Er wusste, sie brauchte die Zeit für sich, war dies doch auch nicht verwunderlich gewesen.

      Eine Gänsehaut überkam ihn bei dem Gedanken daran, wie es wohl sein würde, würde sie sich eines Tages endlich wieder erinnern können.

      Lindsay durchschritt die kleinen Gassen hinter dem Baum, der sie in das dunklere Dickicht eines Waldes führte. Das weiche Moos unter ihren Füßen fühlte sich angenehm warm an, trug sie doch nicht einmal Schuhe.

      Das war auch eine der Dinge, die sie in Tiéfwâas angenommen hatte. Wenn sie auch nicht so naturverbunden war, wie es die Bewohner des Tales waren, so genoss sie doch