Holger Wendelken

Erweiterte Reflexionslogik


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dann ist es identisch mit A, jedoch nicht mit B. Und: Es gilt eine äquivalente Argumentation im Vergleich von AB mit A oder B.

      Antinomien und Unvollständigkeit

      Ich möchte dieses Kapitel mit einem Begriff beginnen, der uns im vorigen Abschnitt bereits begegnet ist, und über den man eine sehr einfache Antinomie konstruieren kann: die Neutralität. Wenn man die Frage nach der Existenz oder der Identität der Neutralität stellt, so muss man feststellen, dass diese Frage gar nicht eindeutig beantwortet werden kann. Also: Existiert die Neutralität bzw. das Nichts? Wenn wir diese Frage mit »Ja!« beantworten, so werden sofort einen Widerspruch riskieren, denn dem Neutralitätsaxiom nach existiert das Nichts nicht. Wenn wir die Frage allerdings mit »Nein!« beantworten, wird es uns keinen Deut besser ergehen, denn die Neutralität ist zumindest in unserem logischen System eine existente Kategorie. Wenn also das Nichts nicht existiert, dann erfüllt es alle logischen Voraussetzungen um als existente Kategorie anerkannt zu werden. Doch wenn es existiert, dann wird das Axiom dieser Kategorie massiven Einspruch erheben und geltend machen, dass es neutral ist, und daraus folgend nicht existent.

      Um dieses Paradoxon aufzuheben – um gleich dem Einwand zu begegnen, dass die Reflexionslogik schon wegen des Neutralitätsaxioms widersprüchlich wäre – sei angemerkt, dass die Reflexionslogik in keinem Bereich auf die Antwort nach der Frage, ob die Neutralität existiert, angewiesen ist. Die Neutralität ist tatsächlich keine essentielle Kategorie der Reflexionslogik, sondern lediglich eine Schranke außerhalb der Reflexionslogik, in einer Region also, in der die Frage nach Existenz oder Identität reflexionslogisch völlig bedeutungslos ist. Aus einer anderen Perspektive argumentiert ist die Frage nach der Existenz des Nichts schon deshalb bedeutungslos, da eine solche Existenz oder Identität der Neutralität nichts am System verändern würde, weder existierend noch nicht existierend – denn es ist ja neutral. In dieser Lesart könnte man das Neutralitätsparadoxon als ein verschwindendes Paradoxon bezeichnen. Abgesehen davon werden wir noch einen mächtigen Operator kennenlernen, der diese und alle anderen Antinomien auflösen können wird.

      Eines der ältesten Paradoxa ist das Lügnerparadoxon, welches in seiner komprimiertesten Form lautet: »Dieser Satz ist unwahr.« Anhand dieses Paradoxons lässt sich sehr schön verdeutlichen, welch wichtige Rolle der Begriff der Identität bei der Erzeugung von Antinomien spielt.

      In seiner ursprünglichen Form wird dieses Paradoxon dem im 6./7. Jahrhundert v. Chr. auf Kreta und in Athen lebenden Philosophen Epimenides zugeschrieben, und es handelt sich dabei um eine Aussage, wonach alle Kreter Lügner sind. Streng genommen ist diese Aussage keine Antinomie, oder wenn, dann allerhöchstens eine schwache, denn Epimenides macht (zumindest in diesem Fragment der Überlieferung) keine Aussage darüber, dass speziell diese Aussage, alle Kreter seien Lügner, eine Lüge ist. Epimenides ist Kreter, also liegt der Schluss nahe, dass das, was er sagt, gelogen ist, allerdings liegt uns keine Aussage darüber vor, ob alle Aussagen von Kretern Lügen sind; es wäre immerhin möglich, dass Kreter manchmal die Wahrheit sprechen, also wäre es möglich, dass dieser Satz des Epimenides wahr ist, ohne dass er eine Antinomie erzeugt.

      In seiner komprimierten Form allerdings lässt das Lügnerparadoxon keinen Interpretationsspielraum – es ist eine echte Antinomie. Der wahre Satz nämlich, der eine Aussage der Lüge bezichtigt, ist identisch mit eben dieser Aussage, die der Unwahrheit bezichtigt wird. Wenn also dieser Satz wahr ist, dann ist er eine Lüge. Doch wenn dieser Satz eine Lüge ist, dann ist es zweifellos ein wahrer Satz.

      Eine Konstruktion wie das Lügnerparadoxon muss uns sehr künstlich und reichlich sinnlos erscheinen; diese Aussage des Epimenides ist tatsächlich ja als nichts anderes zu verstehen als ein selbstironischer Scherz. Daher ist es kaum denkbar, dass wir damit rechnen müssen, solchen Antinomien in einer ernsthaften und exakten Wissenschaft wie der der Mathematik zu begegnen. Doch es ist so: Die moderne Mathematik, die natürlicherweise immer mehr an die Ränder ihres Wirkungsbereiches vorstößt, wird genau hier ständig mit solchen Antinomien konfrontiert, die sich von der Konstruktionsart nicht von der des Lügnerparadoxons unterscheiden.

      David Hilbert (dt. Mathematiker, 1862-1943) verkündete, sinngemäß, in den zwanziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts, er glaube an eine Mathematik, in der jeder Satz entweder beweisbar oder widerlegbar wäre. Kurt Gödel (österr. Mathematiker, 1906-1978) konterte etwas später, 1930, mit seinen Unvollständigkeitssätzen, die die Vorstellung von dieser reinen und widerspruchsfreien Mathematik Hilberts auf den Boden der Tatsachen zurückholte. Bereits um die Jahrhundertwende des 19./20. Jahrhunderts war einigen Mathematikern mit ausgeprägtem Hang zur Philosophie auf der Basis der damaligen Mengenlehre die Konstruktion von Objekten gelungen, die genauso sinnlos wie verstörend auf die mathematische Welt wirkten, beispielsweise die von Georg Cantor (dt. Mathematiker, 1845-1918) aufgezeigte Antinomie von der Allmenge, oder die Menge aller Mengen, die sich selbst nicht enthalten, von Bertrand Russel (brit. Philosoph und Mathematiker, 1872-1970). Insbesondere Kurt Gödel deckte mit seinen Unvollständigkeitssätzen den Zusammenhang von einer immer komplexer werdenden Mathematik und Logik mit dem Auftreten von unentscheidbaren Sätzen, Antinomien, innerhalb dieser komplexen Systeme auf.

      Die Gödelschen Unvollständigkeitssätze lauten (sinngemäß):

      1. Jedes hinreichend mächtige formale System ist entweder unvollständig, oder es enthält unentscheidbare Sätze (Antinomien).

      2. Kein hinreichend mächtiges formales System kann die eigene Konsistenz (innerhalb seiner selbst) beweisen.

      Mit der Formulierung »hinreichend mächtig« meinte Gödel konkret ein System, das zumindest eine Arithmetik der natürlichen Zahlen enthält. Diesen Begriff der Mächtigkeit eines Systems werden wir im nächsten Kapitel verallgemeinern auf die Existenz eines sogenannten Dominanten Operators, welcher ganz allgemein in der Lage ist, sich selbst zu abstrahieren und damit geordnete, mathematische Räume zu erzeugen, unter anderem auch Zahlenmengen, wie die der natürlichen Zahlen.

      Eine Mengenlehre, die die Mächtigkeit des Systems der natürlichen Zahlen enthält, ist nach Kurt Gödel also in jedem Fall unvollständig bzw. unentscheidbar in Bezug auf die Russel-Menge (und diversen anderen Antinomien). (In diesem Fall beziehe ich mich auf die von Georg Cantor initiierte sogenannte naive Mengenlehre, im Gegensatz zur modernen axiomatischen Mengenlehre – der Kontrast sei hier genannt, doch auf ihn einzugehen wäre zu kompliziert und soll nicht Gegenstand dieser Betrachtung sein.) Diese Russel-Menge ist definiert als die Menge aller Mengen, die sich selbst nicht enthalten. Auch dieses widersprüchliche Objekt ist eine echte Antinomie, genau wie die komprimierte Form des Lügnerparadoxons: Wenn die Russel-Menge sich selbst nicht enthält, dann genügt sie gerade ihrer Definition, um Element ihrer selbst zu sein; doch dann, wenn sie sich selbst enthält, verbietet ihr die Definition, sich selbst als Element ihrer selbst zu betrachten. Aus diesem Dilemma gibt es standardlogisch keinen Ausweg. Beide Sätze, »Die Russel-Menge enthält sich selbst.« und »Die Russel-Menge enthält sich selbst nicht.« sind (standardlogisch) äquivalent, da der Standardlogik nach aus gegenseitiger Implikation eine Beziehung der Äquivalenz folgt.

      In der Standardlogik ergibt ein Paradoxon immer eine Äquivalenz aus einem Satz und seiner Verneinung: Satz A ist wahr ⇔ Satz A ist unwahr. Doch nicht jede Äquivalenz eines Satzes und seiner Verneinung ist ein Paradoxon, was was man bereits daraus herleiten kann, dass nur die Identität eines Satzes mit seiner Negation eine Antinomie hervorrufen kann, denn zwei unterscheidbare Objekte können durchaus äquivalent sein, ohne dass sie identisch sind. Fast jede mathematische Gleichung drückt diesen Sachverhalt aus, denn eine Gleichung wie a + b = c beschreibt die Äquivalenz zweier eindeutig nicht identischer Ausdrücke, ohne ein (offenes) Paradoxon auszulösen. Und ob tatsächlich bei einer Antinomie eine Äquivalenzbeziehung (im Sinne der Reflexionslogik) besteht, ist eine Frage, der wir im nächsten Kapitel detailliert nachgehen werden.

      Antinomien werden in der Standardlogik verworfen, weil sie über standardlogische Operationen nicht aufgelöst werden können. Das ist insofern ein geradezu tragischer Irrtum, weil hinreichend mächtige, formale Systeme, die eine Antinomie enthalten, über genau diese Antinomie nicht nur erzeugt und gesteuert werden, sondern