Thomas Pfanner

3 Tage im Juli


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Radio sachte zu dudeln. Das muss zusammen mit dem Holz der Wandverkleidung gekauft worden sein, die massiven Drehknöpfe finden sich seitdem an keinem Gerät innerhalb Europas mehr wieder. Ich verliere kostbare Zeit durch meine umständliche Art des Pinkelns im Sitzen. Es muss sein. Ich bin von Mönchen erzogen worden, da läuft manches anders ab als im richtigen Leben.

      Nach getaner Verrichtung verlasse ich das Gebäude, treppab gewinne ich den nötigen Schwung für eine angemessene Marschgeschwindigkeit. Die verdammten Vögel zwitschern um die Wette. Ob die sich über mich lustig machen? Was sie sich wohl gegenseitig zurufen? Schaut mal, da läuft der Versager seiner letzten Chance nach? Sie haben Recht, wenn auch auf andere Weise. Heute ist der erste Juli. Der Tag wird heiß werden, keine Wolke läßt sich am Himmel blicken. Auch sonst wird sich heute niemand blicken lassen, auf den ich zählen könnte. Meine Laune sinkt weiter, so langsam wie der Klumpen in meinem Bauch, aber stetig und unaufhaltsam. In dem Maße, in dem ich nunmehr wirklich wach werde, gesellt sich ein weiterer Klumpen hinzu. Angst. Gut, ich habe oft Angst, sei es wegen realer Gefahren oder durch unsachgemäßes Nachdenken bedingte reine Hirngespinste verursacht. Ich bin ein Routinier in Sachen Angst. Leider hilft mir das jetzt kein bißchen. Ich habe schlicht und ergreifend Angst vor allem Neuen. Neue Menschen, neue Situationen, neue Fahrscheine. Heute nun wird es zum Äußersten kommen. Heute ist alles neu, wirklich alles. Noch dazu wird der heutige Tag extrem wichtig werden, eine Schlüsselstelle in meinem Leben einnehmen. Deshalb wird mein Klumpen zu ganz neuen Dimensionen anwachsen. Ich weiß es genau. Hilft mir aber überhaupt nicht, die Zukunft zu kennen, diese spezielle Zukunft. Weil ich weiß, dass mich die Angst packen wird wie ein Tiger ein Kätzchen, konzentriere ich mich auf die aufkommende Angst und versäume es, Schutzzäune dagegen zu errichten. Natürlich bemerke ich ganz nebenbei bei derart intensiver Nabelschau, wie ich es versäume, Schutzgitter zu errichten. Diese Erkenntnis lähmt mich zusätzlich, ich sage mir: »Guck an, nicht mal wehren kann ich mich«.

      Wundervoll, nun befinde ich mich in einer perfekten Spirale des Schreckens. Natürlich bemerke ich es, wodurch ich mich veranlasst sehe, über die sofortige Umkehr nachzudenken. Bei leichten bis mittelschweren Fällen hätte ich das auch getan, aber die Vögel haben ganz recht: ich bin auf dem Weg zu meiner letzten Chance. Ich kann nicht umkehren, hinter mir befindet sich der Abgrund und er verfolgt mich. Das verstärkt die Angst zusätzlich. Ich betrachte mich selbst und halte mich nun selbst für einen Versager. Ich hätte leicht zum Arzt gehen können. Ein paar Pillen gegen die Angst verschreiben lassen. Leider, leider lese ich sehr viel und zu meinem unendlichen Bedauern vergesse ich nie etwas. Ergo weiß ich, dass diese Pillen abhängig machen. Die Angst beherrscht mein Leben, die Angst vor einer Sucht übertrifft alles andere jedoch bei weitem. Ich weiß, dass ich ein schwacher Mensch bin, für mich gäbe es aus einer Sucht kein zurück mehr. Deshalb rauche ich nicht, trinke keinen Alkohol und mache um Medikamente und Drogen weite Bögen. Ich bin ein Held. In Sachen Vorbeugung, und auch das nicht durchgängig.

      Ich muss meine Gedanken kurz unterbrechen, der Abstieg in die U-Bahn erfordert unbedingte Aufmerksamkeit. Dann stehe ich auf diesem Bahnsteig, auf dem ich in meinem früheren Leben öfters ausgestiegen bin. So gegen 9.00 Uhr, zusammen mit den anderen Studenten. Jetzt, gegen 5.40 Uhr, ist der Bahnsteig fast leer, auf jeden Fall frei von Studenten jeder Art. Nur zwei weitere Jammergestalten bewegen sich unruhig über den genoppten Gummibelag. Eine übernächtigte Frau, die erkennbar den falschen Begleiter für die letzte Nacht erwischt hat, und nicht weit von ihr ein Mann, der erkennbar die falsche Menge Bier genossen hat. Und ich. Bevor ich mich übermäßig darüber freuen kann, unter den Blinden der Einäugige zu sein, erscheint die Bahn. Mit dumpfem Poltern kommt sie kurz zum Stillstand und nimmt tatsächlich mich mit. Der Klumpen wird größer. Die Erkenntnis, dass andere Zeitgenossen unter Umständen auch nicht besser dran sind als ich, hilft also nicht wirklich. Ich lasse es wie gehabt in großzügiger Willenlosigkeit zu, dass meine Gedanken wieder in das fruchtlose Verfolgungsrennen der Erkenntnis der Angst mit den Ursachen der Angst eintreten und beobachte dabei die Betonwände der Tunnelröhre. Kurz darauf schwingt sich die Bahn aus dem Untergrund empor und so beobachte ich eben den spärlichen Verkehr der Bundesstraße. Aus der U-Bahn ist eine Straßenbahn geworden, die auf dem Streifen zwischen den Fahrbahnen jedes Wettrennen gegen die Autos verliert. Noch ein Leidensgenosse. Ich versuche es mit Atemtechnik. Dumm nur, dass ich keine Ahnung von Atemtechnik habe. Nun ist mir auch noch schwindelig und ich debattiere mit mir selbst, ob der Schwindel von meinen Atemübungen herrührt, oder doch nur eine Nebenwirkung der sich ständig verstärkenden Angst ist.

      Das bringt zwar nichts, verbraucht jedoch ein paar Minuten, in denen ich nicht auf die Angst an sich achte. Dann kommt die Station >Rheinallee< und der Klumpen wird zu Eis. Hier muss ich raus. Irgendwie schaffe ich es sogar, die Bahn zu verlassen. Nur noch neun Minuten bis zu meinem Ziel. Halb bewußtlos komme ich in Bewegung. Jetzt nicht darüber nachdenken, sonst verlangsame ich meine Schritte und dann komme ich zu spät. Nichts ist schlimmer für mich, als zu spät zu kommen. Außer vielleicht, süchtig zu werden. Ich bin noch nie zu spät gekommen. Wenn ich es nicht mehr schaffte, früher, bin ich ohne Umschweife auf der Schwelle umgekehrt. Lieber gar nicht kommen als zu spät. Ist vielleicht auch eine Art von Sucht. Oder eine Art von Wahnsinn. Oder ein Erkennungszeichen für Versager.

      Mit Zynismus läßt sich der Klumpen auch nicht besiegen. Mißmutig stapfe ich durch die Fußgängerzone. Auf einem Friedhof herrscht mehr Leben als in dieser Einkaufszone. Alles tot und verlassen, sanft fächelt der Wind den Müll über die roten Ziegel, die der Städtebauer in seiner persönlichen Variante von Wahnsinn für das geeignete Material gehalten hat. Wäre es roter Lehm, die Szenerie würde zu einer verlassenen Western-Stadt passen. Was auch wiederum besser mit meiner Stimmung korrespondieren würde. Der Held auf dem Weg zum entscheidenden Duell, ohne Colt, ohne Geld, ohne Reiserücktrittsversicherung.

      Glücklicherweise protzt die Fußgängerzone nicht gerade mit Größe, nach drei Minuten bin ich durch. Nun noch den Berg hoch, an einem echten Friedhof vorbei. Tatsächlich, hier klimpern drei alte Frauen geschäftig mit Gießkannen. Ich kann mir ein ohnmächtiges Lächeln nicht verkneifen. Es verfliegt sogleich wieder. Nun wird es ernst. Noch ernster als bisher. Der Klumpen vibriert nun im hastigen Takt meines Herzklopfens. Ein paar Häuser hinter dem Friedhof, ein weiteres Stück den Berg hinauf, dort steht es. Das Haus des Schicksals. Der Satz klingt mördermäßig bedeutungsschwanger in meinem Kopf nach, kitschig, aber treffend. Dabei habe ich überhaupt keine Ahnung, was mich erwartet. Ich weiß gerade so viel, dass es für ein nebulöses Bild der herannahenden Katastrophe reicht.

      Nun jedoch wird aus der Sache ein lebendes Bild. Wie so oft kommt der Schrecken ganz beiläufig und unauffällig daher. Zum Beispiel als flacher, langgestreckter Bau, schon etwas angejahrt aber modern, schön angestrichen, kleine viereckige Fenster in regelmäßigen Abständen, gepflegte Rabatten, ein Eingang wie bei einem ganz normalen Mehrparteienmietshaus und ein nicht übermäßig großes Schild neben diesem Eingang. Es ist weiß und rot und von innen beleuchtet und mit schwarzer Schrift steht der Name des Gebäudes darauf: >Sankt Maria. Alten- und Pflegeheim<. Der Klumpen will mich niederstrecken. Wieder versuche ich ein paar kontrollierte Atemzüge. Vergebens. Ich schaue auf die Uhr, obwohl ich die Anzeige bereits kenne. Unter Druck kann ich die Uhrzeit aus dem Gefühl heraus auf zwei Minuten genau bestimmen. Noch so eine geniale Fähigkeit von mir, genial und völlig unnütz. Wie erwartet ist es soweit. Ich muss da rein. Damit fangen die Probleme erst richtig an.

      Normalerweise mache ich ein wenig Aufklärung, bevor ich mich in Unbekanntes stürze, zum Beispiel so etwas wie eine neue Stelle. Ich hasse es, ins Unbekannte zu laufen. Um einen Zipfel von Sicherheit zu erhaschen, gehe ich für gewöhnlich ein paar Tage vorher hin, sehe mir alles an und bin auf diese Weise im Bilde, wohin und auf welchem Wege ich mich zu wenden habe. Vordergründig bilde ich mir ein, Fluchtwege auszukundschaften. Ich leide schon an einigen Paranoia, bei dieser handelt es sich um eine sarkastische Paranoia. Normale Menschen würden messerscharf analysieren, dass ich mir was vormache. Ich hasse es aber, wenn ich mir was vormache. Ich wälze nicht umsonst Tonnen von Gedanken, um alles und jedes zu bedenken. Da paßt Selbstbetrug nicht ins Bild. Vermutlich mache ich mir gerade vor, mir nichts vorzumachen. Mein Problem löse ich dadurch nicht. Zu meinem Unglück konnte ich mir dieses Haus und seine Fluchtwege, um bei meiner Paranoia zu bleiben, diesmal nicht ansehen. Ich habe mich schriftlich beworben, was ich bereits unmittelbar nach Einwurf in den Briefkasten bereute, und gestern erst kam die Zusage, ebenfalls