Thomas Pfanner

3 Tage im Juli


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nimmt eine Art Nullstellung an, sie entspannt ihre Züge, schließt die Augen und keine Regung läßt sich mehr erkennen. Fast sieht es aus, als stürbe sie nun wirklich, oder sie will damit zeigen, dass sie nun bereit ist, für was auch immer. Oder ist es nur wie beim Zahnarzt, Augen zu und durch? Der Pfleger nimmt die Hand vom Gesicht weg zur Decke, schlägt sie gar nicht mehr sanft mit einem Ruck auf und beginnt ohne Halt, der Frau das Nachthemd auszuziehen. Dies gelingt ihm erstaunlich unproblematisch, denn es handelt sich um kein richtiges Nachthemd, es wirkt mehr wie ein Laken mit Ärmeln, welches am Hals verknotet werden kann, jedenfalls liegt es nur auf der Frau und nicht unter ihr und kann einfach so weggenommen werden. Auch das habe ich noch nie gesehen.

      Ich beobachte die Szene, die sich mir bietet, fast glaube ich zu träumen, so unwirklich erscheint mir alles. Die Frau in dem anderen Bett schläft, die hier tut so, als schliefe sie, während sie von einem großen Mann nackt ausgezogen wird. So erlange auch ich freie Sicht auf ihren ausgemergelten Körper, dessen Haut die gleiche Pergament-ähnliche Tönung aufweist, sehe einen Waschlappen über sie hinweg wischen, regellos und wirkungslos. Die Frau ist am ganzen Körper faltig, wie bei einer Magersüchtigen, die sich in kurzer Zeit vom Kugelblitz zur Bohnenstange hungert. Die Haut reicht aus, um das doppelte Volumen zu ummanteln. Erhard wischt stoisch über den Körper, aber keine der zahllosen Falten glättet sich bei der Prozedur und den Lappen verläßt dabei kein Tropfen Wasser. Den Pfleger interessiert dies offensichtlich nicht, er sieht gar nicht richtig hin. In diesem Zimmer scheint jeder für sich zu existieren, keiner nimmt den anderen richtig wahr. Und doch, mich fasziniert das Geschehen, es hat etwas völlig fremdartiges an sich, etwas unwirkliches, ich tauche hier in eine Welt, von der ich nicht gewußt habe, dass sie überhaupt existiert. Vielleicht hilft es, dass ich begeistert Fantasy-Romane lese. Und dieser Welt scheint es umgekehrt völlig egal zu sein, dass es mich gibt. Der Pfleger beachtet mich nicht, sieht sich nicht nach mir um, spricht nicht mit mir, er spricht auch nicht wirklich mit der alten Frau, im Grunde führt er Selbstgespräche, abwesend gemurmelte Standard-Sätze. Ausschließlich wiederholt er in verschiedenen Varianten, dass das alles ja nicht so schlimm sei. Ich selbst finde indes sehr wohl, dass sein Handeln und die Begleitumstände ziemlich schlimm sind. Ich kann nicht genau definieren, warum ich das alles schlimm finde, schließlich sehe ich zum ersten Mal ein Altenheim von innen, mein Gefühl legt mir von innen einen Pelz an. So pelzig wie kurz vor einem unvermeidlichen Erbrechen, bei dem man auch nicht weiß, wieso das jetzt sein muss. Die andere Frau, Frau Leute wohl, teilt offenbar diese Meinung, denn gerade in dem Moment, in dem sie erwacht, beginnt sie auch schon mit entsprechenden Äußerungen. Als sie anfängt, leise und schnell lauter werdend eine Art wehklagenden Dauerton zu produzieren, beschleunigt der Pfleger seine Bemühungen bei Frau Mager, die Prozedur mit grimmigem Gesicht verkürzend. Er wischt rasch noch ein wenig über die Beine, dreht die Frau mit Schwung auf die Seite, wobei sie an das mir zugewandte Bettgitter gedrückt wird, ihr Gesicht verbiegt sich etwas an dem Gitter. Eigentlich müßte sie mich jetzt ansehen, ihr Gesicht befindet sich genau vor meinem Bauch. Ihre Augen sind beharrlich geschlossen, sie will offenbar nicht anwesend sein. Erhard wechselt derweil die Windel. Einigermaßen fasziniert sehe ich mir dieses Schauspiel an, so große Windeln an so erwachsenen Menschen. Dieses Verfahren ist mir gänzlich neu. Was erwarte ich auch, in einer neuen Welt ist eben alles neu, nicht nur die Optik. Demnächst werde ich das also auch machen, Omas auf die Seite schmeißen und ihnen eine Pampers der zwei-Kilo-Klasse verpassen. Erhard jedenfalls beherrscht die Handgriffe, die einzelnen Handgriffe erfolgen so schnell aufeinander, dass sie nicht genau zu verfolgen sind. Auch die Trägerin dieser Windel bemerkt nicht viel, hoffentlich. Als sie erschreckt >ah< ausruft, etwas verzerrt, der Mund wird durch eine eiserne Stange dieses Gitters behindert, bleibt lediglich übrig, die neue Windel zu schließen. Erhard wirft die benutzte Windel achtlos und nicht verschlossen auf den Boden vor dem Bett, so dass seinen Praktikanten beinahe augenblicklich die daraus entweichende Wolke intensiven Geruchs erreicht. Bemerkenswert, auch ein monströser Gestank läßt sich beliebig verstärken.

      Unmittelbar darauf liegt die Frau wieder auf dem Rücken, trägt wieder das Fähnchen, welches nicht auf den Rücken reicht und liegt wieder gut verstaut unter der Decke.

      Der Pfleger verliert keine Zeit, dreht sich um die eigene Achse und steht so auch schon vor Frau Leute. Hier wiederholt sich alles auf wundersame Weise bis ins kleinste Detail. Auf die “ist schon gut”-Ansprache hin stellt die alte Frau tatsächlich das Gejammer ein und erträgt in gleicher Weise wie ihre Zimmer-Genossin die Tätigkeiten des waschens und windelns. Ein kleiner Unterschied läßt sich aber doch feststellen. Frau Leute trägt zwar auch eine Windel, jedoch hängt an ihrem Bett ein Beutel, gefüllt mit gelber Flüssigkeit, der von einem dünnen Schlauch beschickt wird, der vom Beutel bis zu ihrem Gesäß verläuft, unter dem er schließlich verschwindet. Da könnte ich was draus machen, ich bilde mir ja ein, von Technik mehr zu verstehen als von Gefühlen, obwohl mich bei dem einen wie bei dem anderen schwere Probleme plagen, aber egal. Hier kann ich zeigen, dass ich da bin. Auf eine Art, die es mir ermöglicht, mir die tatsächliche Konsequenz noch offen zu halten. Ich denke zuviel, daher räuspere ich mich, schließlich muss ich dem Pfleger deutlich machen, dass da ein lernwilliger Bursche steht, der Beachtung verdient. Ich mache also nichts anderes, als Erhard vorzuspielen, kein Versager zu sein. Was scheitern muss, da er wissen wird, dass es für einen jungen Mann mit Abitur keinen vernünftigen Grund gibt, hier für Gottes Lohn herumzustehen.

      »Ahm, was ist das da?«

      »Katheter, Blasenkatheter. Sie kann nicht mehr selbst pinkeln, gell, alte Leute«, brummt Erhard, wieder die Wange der alten Frau anfassend. Das muss so eine Art Standard-Geste sein. Dann nimmt der den Beutel, trennt ihn und ein Stück Schlauch ab, geht zum Waschbecken und entleert den Beutel dort. Als der Urin zu seiner Zufriedenheit plätschert, wendet er sich wieder mir zu. Offensichtlich fällt selbst ihm, dem abgefeimten Routinier, auf, dass er für sein Handeln eine Erklärung abgeben muss: »Die Pflegeversicherung zahlt nicht genug, weißt du. Die Ärzte verschreiben auch nicht genug, deshalb müssen wir die Beutel öfter verwenden. Ist auch nicht weiter schlimm, hat noch keiner eine Infektion bekommen.«

      Das sagt mir gar nichts, doch zerstreut seine Argumentation meine Bedenken nicht gerade. Kraft der Bemühungen der elterlichen Erziehung pinkelt man seit einigen Jahrzehnten nicht mehr ins Waschbecken. Warum sollte man eine Ausnahme machen, nur weil der Eigentümer die Suppe nicht mehr persönlich übergibt? Stellt sich nur noch die Frage nach dem wahren Grund. Erhard spült derweil ungerührt den leeren Beutel noch einmal kurz und unvollständig mit Leitungswasser durch und stöpselt ihn wieder an den Schlauch. Frau Leute scheint dies nicht so sehr viel auszumachen, sie verzieht dankbar das Gesicht, als sich die Decke wieder bis zum Kinn auf sie legt. Der Pfleger räumt die kaum feucht gewordenen Textilien zusammen, und schließt seine Aktivitäten in diesem Raum dadurch ab, dass er jeder Frau einen Schluck Wasser reicht, aus Gläsern, die bereits gefüllt waren, als wir diesen Raum betraten. Allerdings müssen sie ursprünglich deutlich mehr Flüssigkeit enthalten haben, ganz oben unterhalb der Ränder zeichnen sich wie Baumringe mehrere konzentrische Kreise mit kalkigen Ablagerungen ab.

      Dann stehe ich wieder draußen auf dem Flur. Erst hier kommt mir irritiert die Erkenntnis, dass der Pfleger das Waschwasser gar nicht gewechselt hat und sich darüber auch nicht den Kopf zerbrechen wird.

      »Na, war doch gar nicht so schlimm«, spricht mich Erhard unvermittelt an, ich schrecke aus meinen Überlegungen hoch. Er blickt mich gar nicht an, redet wohl mit mir in der gleichen abwesenden Weise wie mit den Frauen. Es bleibt keine Zeit, denn die nächste Tür ist nah. In diesem Moment zähle ich nach einem kurzen Rundblick zusammen und komme zu der Erkenntnis, dass wir sehr lange diese Arbeit werden tun müssen, denn der Flur ist verflucht lang, viele Türen warten noch darauf, geöffnet zu werden und außer uns beiden läuft niemand sonst hier herum. Wenn ich recht gesehen habe, dann besteht dieses Haus aus drei Etagen. Aufgeteilt auf die wenigen Leute, die heute morgen in dem kargen Aufenthaltsraum saßen, ergibt das ein ziemlich schlechtes Verhältnis. Ein Angestellter pro Flur. Mir schwant unvermittelt, dass ich mir die Arbeit des Pflegers sehr gut ansehen sollte. Es dauert bestimmt nicht mehr lange, dann stehe ich eines morgens mutterseelenallein auf so einer Etage. Upps, da schleicht sich doch ein optimistischer Gedanke in mein Hirn. Sofort verdränge ich ihn. Nach Lage der Dinge gilt es noch lange nicht als sicher, dass ich länger als diesen einen Tag hier überlebe.

      An meiner beschissenen Situation