Thomas Pfanner

3 Tage im Juli


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dran sind. Habe ich gerade >leben< gedacht?

      Erhard kippt die Schüssel im Waschbecken des kleinen Kabuffs aus, in dem auch die ganze Wäsche lagert. Nicht uninteressant finde ich in dem Zusammenhang die Frage, warum er im Zimmer der alten Leute den Urin ins dortige Becken kippt, nicht aber das Waschwasser. Rituale werden wohl erst durch ihre Unverständlichkeit richtig schön. Wie ein Ölgötze mitten auf dem Flur stehend beobachte ich seine Handlungen, sehe, wie er an mir vorbei zu dem zweiten Zimmer geht, wie er stockt, weil ihm einfällt, dass er vielleicht doch neue Handtücher braucht und fluchend wieder an mir vorbei marschiert, um Nachschub zu holen. Ich freue mich ein bißchen, weil ich zum ersten Mal im voraus weiß, was als nächstes nötig ist. Dabei handelt es sich um reines Raten. Hätte ja auch gut sein können, dass er die gleichen Handtücher öfters benutzt als das Waschwasser. Was weiß ich denn schon? Viele Leute lehnen diese Tätigkeit kategorisch ab, mit den Worten >das könnte ich nie<. In diesem Augenblick bin ich selbst der festen Überzeugung, es nie zu können.

      Und doch, es gibt einen kleinen aber entscheidenden Unterschied zwischen mir und den anderen Leuten: ich habe keine Wahl! Ich muss hier meinen Job machen, komme da, was da wolle. Wird es wohl auch. Erhard stapft wieder an mir vorbei in Richtung Pflegezimmer, und endlich komme ich in den zweifelhaften Genuß, die nächsten zwei alten Damen kennen zu lernen. Seit ein paar Jahren ist mir bekannt, dass es immer etwas Schlimmeres gibt als das augenblicklich Erlebte. Nun entdecke ich langsam, dass zwischen der theoretischen Erkenntnis und dem praktischen Erleben Welten liegen.

      Auf dem Landratsamt-Schild steht diesmal >Maria Kadner< und >Maria Gaccia<. Kurze Zeit später wünsche ich mir, auf dem Schild wäre statt dessen oder zusätzlich eine deutliche Warnung verzeichnet gewesen. Es beginnt einigermaßen harmlos, obwohl es mir in diesem Moment nicht so vorkommt, erst im nachhinein wird mir in der rückwärtigen Betrachtung der ersten Eindruck von diesem Zimmer als geradezu läppisch erscheinen. Beim betreten fällt mir zuerst nur der Geruch auf, besser gesagt, der Gestank. Er ist gänzlich anders als im ersten Zimmer. Es riecht diesmal nicht furchtbar nach Kot und Urin, diesmal riecht es furchtbar nach Verwesung, Fäulnis, mithin nach allem, was ich bisher nur aus wochenlang vernachlässigten Bio-Tonnen kannte. Ja, das trifft es ungefähr, auch diese Erkenntnis hilft mir nicht unbedingt. In dem Zimmer sieht es ansonsten ebenso harmlos und trist aus wie in dem anderen mir bereits bekannten Raum. Zwei alte, verdorrte Frauen liegen parallel zueinander in ihren Betten und rühren sich nicht. Auch sonst wirkt das Zimmer wie geklont, jedes Detail stimmt exakt mit dem anderen Zimmer überein, wenn es diese Schilder nicht gäbe, man könnte sich verlaufen. Sind möglicherweise alle Zimmer gleich? Sehen alle alten Leute in diesem Etablissement gleich aus?

      Tun sie nicht, aber anders als erwartet. Die Zimmer mögen gleich sein, die Frauen gleich aussehen, in der gleichen Position still im Bett liegen, sogar die Lage der Bettdecke ist identisch, die Wahrheit befindet sich unter dieser Decke. Erhard schlägt in nun schon gewohnter Entschlossenheit bei der ersten Frau die Decke weg, der Gestank wird schlimmer, viel schlimmer. Gut, dass ich nichts gegessen habe. Auf die Seite drehen, Windel runter, das flüchtige waschen, ich bleibe auf meiner Beobachtungs-Position, sicher ist sicher, ich möchte den Grund für den Geruch wirklich nicht erfahren, schon mal gar nicht mit eigenen Augen sehen. Der Pfleger denkt anders darüber. Er lächelt mich versonnen an und ich erkenne den Grund für sein langes suchen im Bad. Aus der Waschschüssel holt er eine Vielzahl von Einzelteilen hervor, alles medizinischer Kram, Salben, Tinkturen, Verbände. Er nimmt sie, sieht mich an, er sieht mich tatsächlich an, gerade in diesem Zimmer kann ich darauf gut verzichten, denn es kommt wie es kommen muss: er winkt mich heran:

      »Hier, kannst dir das ansehen, mir was helfen.«

      Wie man sieht reichen auch einsilbige Erklärungen, um einen Schrecken auszulösen. Das Grauen lauert in diesem Bett, ich ahne es, ich spüre es. Wenn ich auch sonst nicht sonderlich sensibel bin, hierbei schlagen meine dürftigen Sinne Alarm. Die Möglichkeit der Flucht ist aber sein fünfzehn Minuten per du. Ich gehe also heran, schön langsam, vielleicht schlägt ja der Blitz ein und wir müssen schnell noch ein Feuer löschen. Am Fußende angekommen erkenne ich noch einen Unterschied. Diese Frau schließt die Augen nicht, sie hat sie im Gegenteil weit aufgerissen. Ob sie wirklich etwas bestimmtes ansieht, bleibt jedoch fraglich. Ich stelle mich neben Erhard, die Frau wendet das Gesicht ab, was meinen Blick freigibt. Von unsichtbarer Hand geleitet, fast unter Zwang, gleitet er tiefer, hin zu ihrem Gesäß, da ist etwas, was mich magisch anzieht. Ein Loch, ein rotes, lebendes Loch. Über der Gesäß-Falte, dort, wo das Steißbein sitzt, dort sitzt immer noch das Steißbein. Nur, bei dieser Frau kann ich es sehen. Keine Haut, kein Fleisch, blanker Knochen. Unwillkürlich drängt sich mir das Bild eines abgenagten Eisbeins auf. Nur, um mich von der mich schlagartig anspringenden Übelkeit abzulenken, sinniere ich eine Sekunde darüber, dass die Kids sich doch besser dies hier anschauen sollten. Die blutigen Ballerspiele am PC würden von der Realität, echter gesehener und gerochener Realität, vollständig in den Schatten gestellt. Dann würden sie es nicht mehr cool finden, Leute in Stücke zu ballern. Eine Runde kotzen und alles wäre im Lot. Kotzen, gut ich habe fast nichts gegessen, die Relevanz dessen schwindet angesichts der Details. Dieses Loch ist tief, es ist rot, es ist eitrig, es ist blutig, es... lebt! Ich sehe zweimal hin, mein erster fahriger Eindruck hat also nicht getrogen. Ich brauche eine Erklärung, sonst glaube ich noch, in einem Film zu spielen.

      »Ähm, Erhard, Herr Viertel, ich glaube, da sind Würmer drin. Kann das sein?«

      Der schaut mich verkniffen an, nicht überrascht, genervt vielleicht. Auch ein wenig lauernd. Wie ein Blitz kommt mir der Verdacht in den Sinn, dass sich an diesem Bett entscheidet, wer zum Pfleger taugt, und wer nicht.

      »Klar sind das Würmer. Haben sich durch den Darm gefressen und fressen nun das Fleisch. Kann man nichts machen.«

      »Wie, durch den Darm? Kann man die nicht umbringen, mit Antibiotika oder so was?«

      Ich habe keine Ahnung, was man machen könnte, aber die Angestellten hier, dieser Kerl hier, dass sind doch die Profis, die wissen doch, was man machen kann, die können doch nicht zusehen und die Achsel zucken. Sie können.

      »Geht nicht. Sie ist so geschwächt, dass es sie umbringen würde. So warten wir, lindern den Schmerz und irgendwann hat sie es hinter sich gebracht. Die Würmer selbst bringen sie nicht um, nicht in der Wunde. Irgendwann werden die inneren Organe befallen, das ist dann das Ende. Da können wir aber nicht machen. So, jetzt hör auf zu quatschen und hilf mir.«

      So einfach ist das also. Erhard vermittelt den Eindruck eines gänzlich uninteressierten Menschen. Insofern doch ein Profi? Profis sind doch kühl und berechnend, sachkundig und unsentimental, fachlich Spitze und menschlich ein Wrack. Scheint zu stimmen. Um nicht aufzufallen, unterdrücke ich jede Änderung meines Gesichtsausdruckes. Verstohlene Seitenblicke brennen auf meiner Haut. Erhard überprüft tatsächlich, ob mich die Würmer aus der Bahn werfen. Wenn ich jetzt kotzen gehe, kann ich wahrscheinlich anschließend meine Sachen packen. Das darf nicht geschehen. Also spiele ich den Harten, assistiere dem Pfleger in vorgeblicher stoischer Ruhe. Ich halte Tücher aus Zellstoff, während er eine klare Flüssigkeit über die Wunde der Frau schüttet, die bei Kontakt mit der Haut zu schäumen beginnt, was die Frau mit schrillem Schreien quittiert und sich mittels aufbäumen der Prozedur entziehen will. So viel zu der Erklärung, Erhard wolle nur die Schmerzen bekämpfen. Auch den Würmern geht es an den Kragen, ihre kleinen weißen Leiber beginnen zu zucken und mit der Flüssigkeit in meine Tücher zu fallen. Nicht alle Würmer, für mich jedenfalls genügend. Ich verstehe jetzt, warum die Frauen in den Horror-Filmen so entsetzlich schreien, wenn sie von finsteren Gestalten verfolgt werden. Ich fühle mit ihnen. Leider kann ich mir im Augenblick nicht erlauben zu schreien. Träumen werde ich hingegen ganz sicher von dieser Stunde. Wahrscheinlich ziemlich oft. Mir wird heiß und kalt, noch nie habe ich Tücher mit solcher Sorgfalt zusammengefaltet, um bloß von keinem Wurm berührt zu werden. Die Vorstellung überfällt mich, ein kleiner weißer Wurm fällt auf meine Hand und bohrt sich in die Haut, um am nächsten Tag aus meinem Rücken zu wachsen, mit tausend Kumpels. Wie reißfest sind eigentlich diese Tücher? Kalt prickelt der Schweiß auf meinem Rücken, die Nackenhaare stellen sich auf. Mit einem Hauch von Panik frage ich: »Wo werfe ich das hin?«

      »In den Mülleimer, hier unter dem Tisch.«

      Wie?