Thomas Pfanner

3 Tage im Juli


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Frau hört mich nicht. Ihre Augen werden von einer glitzernden Feuchtigkeit überzogen, sie macht einen Schritt auf mich zu und trifft alle Vorbereitungen, mir um den Hals zu fallen: »Gustav, ich habe mir Sorgen gemacht. Du warst so lange weg.«

      Ich stehe da wie angewurzelt und bin zu keiner Reaktion fähig. Was hat die Frau? Erkennt sie nicht, dass sie mich noch nie in ihrem Leben gesehen hat? Oder sehe ich jemandem ähnlich? Das kann doch nicht sein. Ihre Enkel wird sie wohl aus nächster Nähe kennen und ihre gleich alten Verwandten sollten sich schon etwas von mir unterscheiden. Da huscht ein Arm an mir vorbei. Erhard fällt Frau Schulenburg in die Parade, drängt sich zwischen uns und drückt die alte Frau mehr oder weniger sanft zurück, bis sie gezwungen ist, auf dem Bett Platz zu nehmen.

      »Ist schon gut, Oma Schulenburg, das ist nicht der Gustav. Das ist unser Praktikant. Und wir müssen jetzt gehen. Tschüss, ihr Leute.«

      Wieder sehe ich mich in der Situation, an einer Art Flucht teil zu nehmen. Diesmal bin ich direkt betroffen. Es steigert sich also. Noch ist alles offen, die Wahrscheinlichkeit steigt aber deutlich, dass meine Befürchtungen eintreffen werden.

      Ich kann meine Gedanken noch nicht in Worte fassen, einfach zu schweigen vermag ich hingegen auch nicht. Bleibt nur noch eine einfache Frage, eine naheliegende: »Mehr muss bei den Leuten nicht gemacht werden? Ich meine, müssen die Leute nicht gebadet werden oder so was?«

      Ich habe ja selbst keine Ahnung und der Ablauf der Dinge hier trägt nicht zu einer besseren Information meinerseits bei. In der Fülle der völlig neuartigen Eindrücke kommen mir viele Dinge nicht nur fremdartig, oder auch irgendwie... falsch vor. Düster schwant mir, dass es bessere Möglichkeiten gibt als das, was sich mir hier darstellt. Am offenkundigsten, weil am ehesten mit den richtigen Leben vergleichbar, springt mir die Waschung der alten Leute ins Gesicht. Erhard handhabt dies uneinheitlich und bestenfalls flüchtig. Gut, ich selbst wasche mich auch nicht übermäßig gründlich und bestenfalls unregelmäßig. Ich halte mich jedoch für einen Sonderfall, denn zum einen ist mein Immunsystem so gut, dass ich erst nach mehreren Tagen und dann ganz sanft zu müffeln beginne. Zum anderen gibt es zur Zeit niemanden, der mir so nahe käme, dieses Müffeln neben dem allgegenwärtigen Gestank wahrzunehmen. Außerdem bin ich depressiv und stehe kurz vor dem endgültigen Versagen, warum sollte ich auf Körperhygiene achten? Die alten Leute aber entwickeln definitiv einen starken Geruch, da wäre eine ordentliche Behandlung mit Wasser, Seife und duftenden Essenzen wahrlich angebracht. Erhard ist anderer Ansicht und er verkündet diese gänzlich unaufgeregt in jovialer Gestik: »Nein, gebadet wird nur einmal in der Woche. Freitags, bevor die Verwandten kommen. Unter der Woche kriegen die nur eine Sichtreinigung«.

      Er lacht, er lacht tatsächlich, im Stile eines Geheimagenten, der seinem Lehrling die besten Tricks beibringt, fügt er hinzu: »Nur für den Fall, dass Angehörige kommen und nachsehen. Angehörige sind nämlich die Pest, wirst schon sehen, glaube mir. Die gucken dann, ob Oma Schlafkruste unter den Augen hat und dann machen die eine große Welle beim Vorstand, deshalb kriegen die Leute alle das Gesicht abgeledert. Ist eigentlich nicht nötig, werden ja alle gebadet, das ist mehr, als die in ihrem ganzen Leben an Reinigung abgekriegt haben. Die hatten doch früher nichts als einen Zuber mit Wasser. Und jetzt wollen sie jeden Tag durch die Waschstraße. Nicht mit mir, verarschen können die einen anderen. Die alten Leute leben ganz gut, ohne zu viel waschen. Ist sogar gesünder. Wirst schon sehen. So, komm, wir müssen weiter.«

      Ich bin verwirrt. In dieser Welt ist alles anders, sogar das unbeliebt machen funktioniert nicht mehr. Aus dem Vortrag des Pflegers entnehme ich, dass er mir meinen Einwand nicht krumm nimmt, ja sogar fast dankbar die Gelegenheit ergreift, ein paar Erklärungen abzugeben. Er redet munter weiter mit mir, wodurch ich der Höflichkeit halber gezwungen bin, ihn ins Bad zu begleiten, wo er zum wiederholten Mal die Wäsche wechselt, ohne die Schüssel zu wechseln:

      »Wirst schon sehen, die Leute hier sind alle bekloppt, die Alten sind bekloppt, die Angehörigen, sogar die Ärzte. Guck nicht so, da in dem Zimmer, die Schulenburg, die ist völlig neben der Schnur, die weiß nicht mal mehr, wer wir sind. Die weiß gar nichts.«

      Mir schien sie mir gar nicht bekloppt zu sein, nur etwas verwirrt. Sie hat mich verwechselt. Vielleicht gibt es dafür einen guten Grund? Das müßte der Pfleger doch besser wissen als ich.

      »Sie schien mir gar nicht so ungewöhnlich. Sie hat mich nur Gustav genannt. Ansonsten wirkte sie ganz normal.«

      Unbeholfen, unbeholfen, was soll ich sagen? Ich versuche nur, den Faden nicht abreißen zu lassen. Ich muss mehr wissen und wenn mir dieser Pfleger nichts sagt, dann bin ich aufgeschmissen. Er läßt sich nicht hängen, vielleicht ist er froh, jemanden zum reden zu haben. Ob er sonst immer und immer allein auf dieser Etage ist?

      »Ach Jung’, man merkt, dass du neu bist. Die weiß nicht mal mehr, wie sie selbst heißt. Die nennt jeden jungen Mann Gustav. War ihr Mann, der ist im Krieg vermißt. Da sie zu bekloppt ist, ihr eigenes Alter zu kennen, denkt sie, sie wäre noch jung, der Adolf lebt noch und Gustav muss bald nach Hause kommen. Würde mich nicht wundern, wenn die noch an den Endsieg glaubt.«

      Er lachte meckernd und fügte augenblinzelnd hinzu: »Vor ein paar Monaten hat hier eine Russlanddeutsche als Putzfrau angefangen. Am Ende der Schicht hat ihr Mann sie abgeholt. Die haben dann ein paar Worte auf dem Flur gequatscht. Auf Russisch. Da hat die den Ausraster gekriegt. Um Hilfe hat sie geschrien wie eine Wilde. Hat sich danach Tagelang nicht anfassen lassen. Ich sage dir, hier boxt der Papst im Kettenhemd.«

      Das denke ich auch, allerdings aus anderen Gründen. Matt frage ich: »Hat man die Frau deshalb hier eingeliefert?«

      Gönnerhaft ergreift Erhard die Gelegenheit, mir, dem Frischling, die bösen Nachrichten zu unterbreiten:

      »Das ist noch gar nichts. Wirst schon sehen. Sind immer die gleichen Gründe, warum Angehörige ihre Leute bei uns abgeben.«

      Er beginnt mit den Fingern aufzuzählen: »Mann und Frau müssen arbeiten, die Oma stellt nur Dummheiten an, also ab ins Heim. Das sind dann unsere verwirrten Schätzchen.

      Alte Rechnungen werden beglichen. Oma oder Opa war das ganze Leben lang ein verdammtes Arschloch, in dem Moment, in dem sie die Fäden nicht mehr in der Hand haben, werden sie ins Heim gebracht. Passiert meist nach Krankenhausaufenthalt. Geht auf die Art wohl leichter. Na ja, die benehmen sich hier natürlich auch wie Arschlöcher, leider sind die Kinder nicht besser, du weißt schon, großes Ei und kleines Ei.

      Geld-Gier. Oma hat das Häuschen an ihren Augenstern überschrieben und zack, wird sie abgeschoben. Kam früher nicht so oft vor, aber seit die Pflegeversicherung da ist, steigt das immer weiter an. Komischerweise sind gerade das die Angehörigen, die auf jeden Scheiß achten, ob ihr wertvolles Geld, das ja gar nicht ihres, sondern das der Versicherung ist, wenn man es mal genau nimmt, auch ja richtig eingesetzt wird und nicht etwa für uns einen Gewinn abwirft. Die alten Leute sind richtig arme Schweine, versuchen, lieb zu sein und alles richtig zu machen, werden aber immer unglücklicher.

      Na, und dann gibt es noch die Leutchen, die gar keine Angehörigen mehr haben. Werden vom Sozialamt oder auch mal von den Vermietern zu uns geschoben. Die sind ganz unterschiedlich.

      Wirst schon sehen, ist aber gar nicht so schlimm, gewöhnst dich dran, ich habe mich auch dran gewöhnt. Ich war früher Maurer, und jetzt mache ich das schon 17 Jahre. Komm, nun müssen aber wirklich weiter machen.«

      Spricht´s und öffnet die nächste Tür. Ich zögere etwas, ziemlich viel Informationen für den kurzen Moment, ich gewinne den Eindruck, in diesem Panoptikum in einer Stunde mehr zu lernen als in vier Jahren Studium. Hier tobt das Leben, und ich habe es nicht gewußt. Die Informationen muss ich unbedingt überprüfen, einiges daran kommt mir seltsam vor. Was aber kein Maßstab ist in einem Altenheim, in dem mir alles merkwürdig vorkommt. Vielleicht bin nur ich derjenige, der merkwürdig ist? Wundern würde mich das nicht. War bei der Bundeswehr auch so. Überlegungen helfen nicht weiter. Ich muss den Durchblick kriegen. Und mich nicht abhängen lassen. Deshalb mache ich ein paar entschlossene Schritte und dann stehe ich dem nächsten Raum, sehe Erhard beim Befüllen der Schüssel, sehe, dass der Raum kleiner ist als die anderen Zimmer, sehe, dass hier auch nur eine Frau wohnt oder schläft oder was auch immer, und dann sehe ich sie mir genauer an.