Thomas Pfanner

3 Tage im Juli


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sich, ein kleiner Kopf hebt sich, kleine Augen mustern die Umgebung, bleiben an mir hängen. Eine unnatürlich helle Stimme näselt: »Ah, jemand neues, wie schön. Wer bist denn du?«

      Erhard verhindert durch schnelles Antworten eine Erklärung meinerseits: »Das ist der neue Praktikant, der schaut sich alles an. Wenn es ihm gefällt, bleibt er ein Jahr.«

      Das finde ich spannend. Zum einen, warum läßt er das nicht mich sagen? Zum anderen, wieso denkt er, es würde an mir liegen, ob ich bleibe oder nicht? Verhält es sich nicht üblicherweise so, dass der Arbeitgeber entscheidet, ob er einen neuen Mitarbeiter behält oder nicht? Jedenfalls habe ich das so immer gehört und durch persönliche Erfahrungen, also Mißerfolge, auch bestätigt bekommen. Andererseits, ich koste meinen Arbeitgeber auch nicht allzu viel, da kann man wohl nichts falsch machen. Und nach dem, was ich bis hierhin weiß, wäre eine zusätzliche Hand genau das, was fehlt. Nur, sieht das der Chef auch so? Egal, Frau Alambra gibt sich mit der Antwort zufrieden, ich lächle friedlich dazu, sie verzichtet auf weitere Fragen, schlägt dafür selbst die Decke weg. Der Berg lebt. Sie ist klein, sehr klein, oben und unten ist viel Platz im Bett, an den Seiten nicht. Sie füllt das Bett in ganzer Breite aus. Wie ist nochmal der Umfang, wenn man einen Meter breit ist? Zu mathematisch, ich konzentriere mich auf das, was ich sehe. Die kleine Kugel, aus der die Augen auf mich gerichtet sind, schließt sich nahtlos an eine riesige Kugel an. Hätte ein Schneemann sein können, auch wegen der tödlich weißen Farbe, doch unten fehlt die dritte Kugel, statt dessen erkenne ich zwei Beine mit dicken Oberschenkeln und ganz dürren Waden, darunter grotesk kleine Füße. Wie man wohl ursprünglich aussehen muss, um im Alter auf diese Formen zu kommen? Ausgerechnet an einer dieser schlanken Waden klebt ein Verband, Erhard nimmt ihn ab, darunter sprudelt ein Bächlein. Ich blinzele und gehe näher heran. Tatsächlich, das Wasser quillt aus der Haut. Den Resten davon. Die Haut hat sich großflächig aufgelöst, im rohen Fleisch steht das Wasser, rinnt in winzigen Adern herunter. Ich kann mir das nicht erklären. Das Wasser entspringt dem Fleisch, es stammt nicht aus einer externen Quelle, die Frau ist definitiv undicht. Erstaunlich, ausgerechnet an einer Stelle, an der sie normal und gesund sein sollte. Wäre Frau Alambra eine Statue, sie würde als Wunder anerkannt. Wieviel Liter da wohl pro Tag heraus rinnen?

      Erhard geht wieder so vor wie bei der Frau mit dem großen Loch, nur verzichtet er auf den Schaummacher und geht gleich zur roten Flüssigkeit über. Verband drauf, fertig. Ich wundere mich, dass gar nicht gesprochen wird. Die Frau schaut mich an, ihr Bein befindet sich ja außerhalb ihres Sichtfeldes, da bin ich wohl der einzige interesante Punkt im Zimmer. Der Pfleger arbeitet und kümmert sich um nichts anderes, die Zeit verrinnt unendlich langsam. Ich spüre den Druck, etwas sagen zu müssen, wenn die nichts sagen, müßte ich doch? Ich habe nichts zu tun, also was hindert mich. Ich habe keine Idee. Über das Wetter zu reden fand ich noch nie besonders lustig. Unter anderem finden mich Mädels deshalb ebenfalls nicht besonders lustig. Über was anderes traue ich mich nicht, für gewöhnlich bringe ich nur blödes Zeug zum Vortrag, wenn ich small talk machen will. Dazu wirke ich immer verkniffen und unecht, wenn ich belanglose Worte hervorquetsche. Meistens versuche ich eine Art von dozieren, in dem ich mich streng auf sachliche Erklärungen beschränke, in der Form, Dinge lang und breit zu erklären. Meist dauert es lange, bis die Anderen sich bereit finden, es zu verstehen. Ich bin da einfach nicht begabt. Und außerdem, so blöd wie das klingt: eine Frau ist eine Frau, alt oder jung, ich habe da meine Hemmungen. Bei Frauen darf man nichts falsch machen, das sind Außerirdische, gefährlich, undurchschaubar, und sie vergessen nie etwas. Besonders peinlichen Scheiß, der von jungen Blödmännern erzählt wird. Bei Frauen rede ich immer Blödsinn und da immer und bei allem eine Frau in der Nähe ist, rede ich dauernd Blödsinn. Das hat mich hierher gebracht und nun darf ich zur Kenntnis nehmen, dass dieser Schuppen auch fast nur aus Frauen besteht. Das hätte ich wissen müssen. Habe ich aber mal wieder mitnichten. Wäre ja auch sinnvolles und nützliches Wissen, dagegen bin ich allergisch. Mein Vertrauen in die Zukunft sinkt ins Unendliche. Dafür entschließ sich Frau Alambra, aufzustehen. Der Berg kann sich erstaunlich hastig bewegen. Als der Berg steht, reicht er mir allenfalls bis zur Schulter, kann aber nur längsseits das Bett umrunden, weil es ohne abstützen am Bett doch nicht geht. Ist die dick, so was habe ich noch nicht einmal im Fernsehen gesehen. Sie beginnt zu schnaufen, bewegt sich auf die Tür zu, die Beine müssen sich dabei einander umrunden, zu dick, und dann ist sie tatsächlich draußen. Ich sehe den Pfleger an, der sieht mich an und weiß, was ich denke. Jeder würde das an meiner Stelle denken.

      »Ist noch viel schlimmer, als du denkst«,

      beginnt er mit bedeutungsvoller Miene, was mich erstaunt. Bisher ist doch alles nicht so schlimm und die Frau ist doch einfach nur fett, na gut, ultra fett, aber gemessen an den Schicksalen in den anderen Räumen mag das vielleicht wirklich nicht so schlimm sein. Andererseits sinkt mein Vertrauen in die Beschwichtigungen des Pflegers mit jeder Gelegenheit, bei der er seinen Spruch aufsagt. Nun also das Gegenteil, die Ausnahme. Ausnahmen müssen sogleich begründet werden: »Die ist einen Meter sechzig groß und wiegt mindestens 139 Kilo. Bestimmt ist es jetzt noch mehr, sie weigert sich aber seit einem halben Jahr, auf die Waage zu steigen. Ist vielleicht auch besser für die Waage, die hört bei 140 auf, hä hä. Der Trick ist aber: die Frau ist Diabetikerin, hat Zucker, verstehst? Eigentlich darf sie nix essen, strenge Diät ausgenommen, pfeift aber drauf. In dem Schrank da, da liegt normalerweise bei Heimbewohnern die Kleidung drin. Bei ihr nicht. Sie hat vielleicht vier Nachthemden, sonst nichts. Der Rest des Schrankes ist hoch voll mit Süßigkeiten. Zeig ich dir bei Gelegenheit mal.«

      Der Boden schwankt kurz und heftig unter mir. Der Klumpen in meinem Magen verflüchtigt sich mit einem Schlag. Statt seiner tut sich ein Loch auf, ein trichterförmiger rotierender Mahlstrom. Hunger bis unter die Arme. Wie kommt das denn? Ich weiß es. Ich esse gerne Süßigkeiten. Was heißt gerne? Schokolade in allen Zustandsformen stellt mein Hauptnahrungsmittel dar. Auch deshalb liegt mir ordinäres Graubrot wie Blei im Magen. Für derlei schwer zu verdauende Lebensmittel bin ich nicht trainiert. Leider habe ich seit zwei Wochen außer besagtem Graubrot und gelegentlichem Mensaessen nichts mehr zu mir genommen. Bezogen auf Süßigkeiten bin ich demnach auf strengem Entzug. Die Wirkung der erwähnten Vorräte ist fatal. Ein Verlangen entsteht, ein Verlangen, diesen Schrank zu öffnen und eine Schneise hinein zu fressen. Steht Mundraub noch unter Strafe? Können Mercedes-Fahrer Mundraub begehen? Ich beschließe, Überstunden zu machen, falls mir der Vorschuß verweigert werden sollte. Dabei fällt mir was ein. Unter beachtlichen Bemühungen, nicht tückisch zu klingen frage ich: »Verläßt sie denn nie das Zimmer? Ich meine, irgendwie kommt sie doch an das ganze Zeug, sie muss doch einkaufen gehen.«

      Erhard verzieht das Gesicht, die Furchen teilen es in drei Teile. Merkwürdige Art, zu grinsen.

      »Wirst schon sehen, wie das geht. Die Alambra hat Vermögen, muss nicht vom Taschengeld leben wie die Szialhilfe-Fälle. Die hat ihr eigenes Telefon, damit ruft die beim Edeka unten an der Ecke an und die schicken einen Schüler, der es ihr für fünf Euro bringt. Das macht der jeden verfluchten Tag, hat sich erst letzte Woche einen Roller gekauft vom Gewinn. Nee, die verläßt ihr Zimmer nicht. Wozu auch, kriegt alles in den Arsch geschoben. Wirst schon sehen, die ist Weltmeister im klingeln.«

      Das sagt mir nichts, ich sehe nur mein Schlaraffenland, wie es durchsichtig wird und mit sanftem >plopp< entschwindet. Keine Überstunden also. Nachfragen geht nicht, die Frau kehrt gerade zurück, rot im Gesicht wackelt sie zu dem eben erwähnten Kleiderschrank, zerrt an der Kette, die sie um den Hals trägt und der einen Schlüssel trägt, dreht sich um und sagt: »Ich klingle, wenn ich was brauche.«

      Mit diesem Rausschmiß erster Klasse trollen wir uns, Frau Alambra möchte bei ihrem Diätfehler unbeobachtet bleiben, oder es soll niemand erfahren, was noch alles in diesem Kleiderschrank lockt. Erhard findet das ganz normal, die bekannte Routine wiederholt sich und schon ist das nächste Zimmer dran. Keine Zeit zum Nachdenken. Das wird mir noch Entzugserscheinungen ganz anderer Art bescheren. Der Trichter in meinem Bauch jedenfalls trollt sich, da für die nächste Zukunft kein Futter in Aussicht steht.

      Diesmal wieder zwei Frauen. Beide liegen im Bett, beide sind wach. Erhard begrüßt sie wieder, diesmal jedoch herzlicher. Die eine Frau strahlt richtig, als er sie an der Wange streichelt, sie umarmen sich, da sieht sie mich. Sie stößt einen undefinierbaren Laut der Freude aus und streckt beide Arme nach mir aus. Erhard grinst:

      »Geh