Thomas Pfanner

3 Tage im Juli


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Zimmer. Immer schön eines nach dem anderen, dass Ende des Flures ist noch nicht erreicht und auf der anderen Seite befinden auch auch noch Türen. Wie spät ist es eigentlich? Ich habe den Sinn für die Zeit verloren, mich verfolgt die Vorstellung, nicht schnell genug zu sein, so viel Arbeit noch nicht gesehen zu haben, so viele Katastrophen noch vor mir zu haben und gleichzeitig den Eindruck zu gewinnen, die Zeit würde stehen bleiben. Schon jetzt ahne ich, dass so was einen zerreißen kann. Mich ganz bestimmt, wo ich doch absolut nicht zu spät kommen kann. Und hier werde ich immer und überall zu spät kommen. Düstere Aussichten.

      Auf dem Türschild steht diesmal eine Frau Rosenkranz und eine Frau Stiefelhagen, dazu noch Frau Poppinger und Frau Wimmer. Vier Frauen auf einem Zimmer, das läßt doppelten Ärger vermuten. Und wieso ist nirgendwo der Vorname verzeichnet? Egal, ich tauche in das Zimmer ein und wieder riecht es nach allem, was ich sonst nicht rieche. Das Zimmer selbst ist ziemlich groß, was aber angesichts der drangvollen Enge nicht so sehr viel bedeutet. Es stehen eben vier Betten darin, drei parallel nebeneinander, das vierte Bett längs an der gegenüberliegenden Wand. Die entsprechende Anzahl Schränke und Stühle und fertig ist die Laube. Die Betrachtung der Frauen darin ist sehr spannend, fast überwältigend, so unterschiedlich sind sie. Wir kommen gerade recht, zuvor einen Streit zwischen den beiden vorderen miterleben zu können, von daher kann ich das mit den Unterschiedlichkeiten gut beurteilen.

      »Sie han se doch nimi all, sie Sumpfkoh.«

      Die Rednerin sitzt aufgerichtet in ihrem Bett, fuchtelt mit einem Arm, der andere hängt schlaff herunter. Sie ist dünn, faltig und fast kahl. Und rot im Gesicht. Ihre ziemliche beleibte Widersacherin nimmt die Beleidigung gelassen entgegen, liegt auf der Seite, sieht äußerlich unberürht herüber und antwortet dann auf die kölschen Töne mit herablassendem Hochdeutsch, jedes Wort trieft vor Arroganz:

      »Wenn sie nicht einmal eine Vorlage lesen können, dann wäre es sicher an der Zeit, die berufliche Perspektive zu überdenken.«

      »Wat? Ich lese kin Vorlagen, ich dunn se mir in de Hos, sie Ferkel. Wat sin sie dann für en Tröt, sie han doch denn Schuß net jehürt.«

      »Den Schuß? Nun, ich habe den Schuß sehr wohl gehört, gleichwohl kann ich mich der Fragestellung nicht entziehen.«

      Ich frage mich ernsthaft, um was es hier eigentlich geht, die zwei reden doch schwer aneinander vorbei. Erhard kümmert sich wie gehabt nicht um die Details, er geht zu der kölschen Frau und faßt sie am Arm an:

      »He Oma Wimmer, was ist los? Mußt dich doch nicht immer so aufregen.«

      »Wat? Die Aahl do bringt mich ob zack. Die hätt en Tour drupp, also nä.«

      Die dicke Frau richtet sich in ihrem Bett auf und sagt mit größmöglich Würde und perfekt herablassend: »Das ist keine Tour, das ist eine ordnungsgemäß angemeldete und genehmigte Dienstfahrt. Ich muss doch sehr bitten.«

      Die Frau mit dem roten Kopf beschreibt mit dem Zeigefinger drehende Bewegungen an der Schläfe und rollt mit den Augen: »Na, wat han ich jesacht? Dat is en Sumpfkoh, und dat se dat is.«

      Ihre Widerscherin gibt sich nicht geschlagen. Einigermaßen fasziniert beobachte ich den Streit. Die beiden reden miteinander und übereinander, aber sie vermeiden es peinlich, sich anzusehen. Wie im richtigen Leben.

      »Meines Wissens gibt es keine Sumpfkühe, zumindest habe ich von keiner entsprechenden Richtlinie Kenntnis erhalten. Weder national noch auf europäischer Ebene.«

      Erhard räuspert sich vernehmlich und geht zum obligatorischen Waschbecken, um das Ritual des waschens einzuleiten. Während ich darüber spekuliere, ob die Füllung der Schüssel wohl auch für vier Personen reichen wird, sagt er laut: »Schluß jetzt, ihr zwei, jetzt wird gewaschen und dann gibt es was zu essen und so lange ist Ruhe hier. So Oma, fangen wir an. Mit dem Viertel gibts keinen Ärger, nicht wahr?«

      Frau Wimmer nickt und verschränkt mit trotzigem Blick ihre Arme vor der Brust, um damit nach alter Indianer-Tradition klar zu machen, dass sie bis an ihr Ende schweigen wird. Ich fühle mich vertraut mit dieser Szene, so was kenne ich. Endlich ein Fenster zur Realität. Frau Wimmer läßt das Folgende über sich ergehen, die verschränkten Arme stören niemanden. Die andere Frau macht einen indignierten Gesichtsausdruck und dreht sich noch mehr weg.

      Aus dem Augenwinkel erkenne ich eine Bewegung. Eine andere Frau springt aus dem Bett und kommt zügig auf mich zu. Was passiert denn jetzt? Sie ist sehr klein, sehr geschäftig und komplett angezogen. Sie tippt mir auf die Brust:

      »Hören sie mal, sie müssen was für mich erledigen.«

      Aha? Was denn diesmal? Die Frau leckt sich über die Lippen und redet sehr schnell, nur unterbrochen von kurzem hektischen Atem holen: »Rufen sie heute noch an. Unbedingt müssen sie heute noch anrufen. Ich bin die Frau Stiefelhagen, hören sie? Ich habe 33 Jahre beim Karstadt in Wuppertal gearbeitet. Kennen Sie Wuppertal? Jedenfalls müssen Sie anrufen. Bei meiner Krankenkasse. Die Betriebskrankenkasse vom Karstadt in Wuppertal. Sagen sie denen, ich brauche einen neuen Krankenschein. Ich muss nämlich die Zähne machen lassen.«

      Zu meiner Verblüffung greift sie beherzt in den Mund und holt einen kompletten Unterkiefer heraus. Ein Blick genügt und mir kommt die Erleuchtung, warum die alten Leute hier so merkwürdig eingefallene Gesichter mit so vielen Falten haben. Ohne Zähne ist nicht mehr genug Gesicht da für die vorhandene Haut. Frau Stiefelhagen fehlt nach dem Griff zum künstlichen Gebiß der Unterkiefer, die Unterlippe endet nun kurz hinter dem Kiefergelenk, eine gezackte Öffnung gewährt den Blick auf eine kleine rote Zunge. Mehr und mehr erstaunt betrachte ich sie bei ihren weiteren Ausführungen. Genau genommen betrachte ich den Mund und versuche zu ergründen, wie sie es schafft zu reden, ohne ihr Zahnfleisch zu beschädigen. Sie spricht immer noch relativ klar und sauber, als sie schnell wie ein Specht auf ihre unteren Zähne klopft.

      »Die halten nicht mehr, sehen sie? Der Dr. Diesing hat sie schon drei mal geschliffen und was drunter geklebt. Aber nun halten sie nicht mehr. Sie müssen unbedingt bei der Krankenkasse anrufen. Stiefelhagen, mein Name ist Stiefelhagen. Die kennen mich. Ich habe 33 Jahre bei Karstadt gearbeitet. Karstadt Wuppertal, waren sie da schon mal?«

      Ich schüttele den Kopf. Ich bin mal Schwebebahn gefahren, aber an einen Karstadt kann ich mich nicht erinnern. Überhaupt stehe ich wiederum vor der Frage, was ich hier und jetzt machen soll. Was wird von mir verlangt? Die Frau will mir offenbar als Bekräftigung ihrer Argumentation die Zähne in die Hand drücken. Ein kleiner Schauer rieselt über meinen Rücken. Da klebt noch ein Batzen dran, dessen Zusammensetzung ich nicht genau analysieren kann. Was steckt im Mund und ist rötlich-gelb? Vor allem aber peinigt mich meine Unwissenheit über die Anforderungen, die mein neuer Arbeitgeber in derartigen Situationen an mich stellt. Die Antwort auf diese Frage läßt nicht lange auf sich warten. Von hinten ertönt die barsche Stimme Erhards: »Stiefelchen, laß den Mann in Ruhe. Und stecke die Zähne wieder in den Mund. Der Krankenschein ist unterwegs.«

      Die Frau zuckt zusammen und stopft ihren Unterkiefer in einer rasanten Bewegung in den Mund. Sie schweigt, beäugt mich aber weiterhin, wenn auch ab jetzt mehr von der Seite. So stehen wir beide etwas unschlüssig zusammen, keiner traut sich etwas zu sagen. Erhard wäscht derweil die hochnäsige Dame auf dem Bett. Diese reckt die Nase noch ein Stückchen höher und sagt: »Was erlauben sie sich? Wissen sie nicht, mit wem sie es zu tun haben?«

      Erhard unterbricht sein Tun keine Sekunde, murrt aber zurück: »Sie sind Frau Poppinger, sie sind 88 Jahre alt und sie haben einen Riß im Kappes.«

      Frau Poppinger reißt die Augen auf und legt alle Verachtung in ihren Gesichtsausdruck. Sie sieht den Pfleger nun an, um ihn mit größmöglicher Strenge in die Knie zu zwingen: »Noch nie bin ich so beleidigt worden. Dafür werden sie zur Verantwortung gezogen werden. Soviel ist gewiß. Oh ja, ich werde einen Aktenvermerk verfassen, gleich morgen früh. Gegrüßest seiest du, Maria.«

      Ungerührt schrubbt Erhard weiter an ihr herum, zerrt sie dann vom Bett, zieht ihr eine beeindruckend große Unterhose herunter und setzt sie in einen Stuhl.

      »Das haben sie gestern auch schon gesagt. Und vorgestern. Sie sagen es jeden Tag. Und ich werde jeden Tag bestraft. Ich muss jeden Tag hier rein und mir euren Quatsch