hatte, brach jedoch immer wieder mit einer Handvoll Kriegern aus und verbreitete erneut Gewalt und noch grässlicheren Schrecken. Einmal setzte die US-Armee einen richtigen Feldzug mit eintausend fünfhundert Soldaten in Gang, wollten Geronimo mit seinen damals achtzig Kriegern einkesseln. Doch dies gelang der Armee trotz aller Mühen über viele Monate hinweg nicht. Erst als die US-Armee die Erlaubnis von Mexiko erhielt, die Indianer auch über die Landesgrenze hinaus zu verfolgen, wurden Geronimo und seine Kämpfer in echte Bedrängnis gebracht.
Jules erzählte Alina auch die Geschichte von Jimmy McKinn, genannt Santiago. Er war ein Farmerjunge aus der Gegend von Deming, einer Stadt im Südosten von New Mexiko. Als die Horde von Geronimo eines Tages an den Feldern der Familie vorbeikam und ihn und seinen älteren Bruder Martin erspähten, überfielen sie die beiden Jugendlichen, töteten den siebzehnjährigen Martin, entführten den dreizehnjährigen Jimmy. Denn er schien ihnen noch jung genug, um seine weiße Abstammung im Laufe der Zeit zu vergessen und zu einem echten Apachenkrieger zu werden. Dies war in jener Zeit recht beliebt unter den Apachen. Durch die Entführung von weißen Kindern schwächten sie den Feind nicht nur um einen späteren Kämpfer, sie erhöhte gleichzeitig die eigene Zahl ihrer Krieger. Viele Siedler tätowierten deshalb die Anfangsbuchstaben der Namen der Kinder auf deren Unterarme, um sie später und selbst nach einer jahrelangen Entfremdung noch als Weiße identifizieren zu können.
Die Entführung und spätere Befreiung des jungen Jimmy Santiago McKinn wurde damals zu einer Zeitungssensation. Später wurden sogar Bücher darüber veröffentlicht. Jules hatte eines davon in der Bibliothek des Knaben-Internats in Montreux gefunden und geradezu verschlungen. Und so schilderte er Alina aus dem Gedächtnis heraus und in möglichst blumigen Worten, wie es Jimmy Santiago McKinn bei den Apachen ergangen sein mochte, wie hart ihn die Krieger behandelt hatten, nämlich genauso hart, wie jeden ihrer eigenen Knaben. Doch Jimmy gefiel das freie Leben der Indianer ungemein gut und er lernte ihre Sprache überraschend schnell, fühlte sich schon bald in ihrer Mitte geborgen und als Teil ihrer Gruppe. Als Geronimo ein paar Monate später wieder einmal kapituliert hatte und man die Indianer in die Reservate zurückbrachte, erkannte man den weißen Jungen. Jimmy weigerte sich jedoch, zurück zu seiner Familie zu gehen, wollte lieber bei den Apachen bleiben. Sein älterer, getöteter Bruder Martin hatte er ebenso vergessen oder verdrängt, wie die immer noch um sein Leben bangenden Eltern.
Alina hörte staunend zu, fragte immer wieder nach, wollte von Jules mehr über diese Western-Geschichte aus dem echten Leben wissen. Und so musste Jules für seine Antworten immer öfter spekulieren oder auch Begründungen erfinden, fühlte sich dabei zunehmend unwohl. Auch Alabima hörte dem Gespräch der beiden zu, amüsierte sich über die oft haarsträubenden Erklärungsversuche und Ausflüchte ihres Ehegatten.
»Vielleicht solltest du das Buch besser noch einmal lesen, Jules, wenn wir wieder zu Hause sind«, griff sie irgendwann ein. Jules fühlte sich sogleich in seiner Ehre gekränkt, denn selbst Alina schaute ihn nun mit einem ähnlich süßen Blick an, zeigte ihm deutlich ihre längst erwachte Skepsis gegenüber den Antworten ihres Vaters.
»Es ist auch schon lange her, seit ich es gelesen habe. Gebt mir ein paar Minuten.«
Mit diesen Worten setzte er sich mit dem Laptop an den Tisch im Motelzimmer und begann zu recherchieren. Schon wenig später meldete er sich bei den beiden.
»In Truth or Consequences, das ist eine kleine Stadt im Süden von New Mexico, gibt es ein Museum über Geronimo und die Apachen. Jedenfalls heißt es Geronimo-Springs-Museum. Dort finden wir vielleicht weitere Antworten, Alina.«
Seine Tochter zeigte sich begeistert, Alabima zuckte gleichgültig mit den Schultern.
»Ob Chufu und Mei wohl Lust auf einen Museumsbesuch haben?«, mutmaßte sie.
»Mach dir um die beiden keine Gedanken. Die können den Tag auch problemlos im Bett verbringen und ...«
Der strafende Blick seiner Frau ließ Jules verstummen. Doch Alina blickte ihren Vater aus großen Augen an.
»Und was?«, fragte sie neugierig.
»Und frühstücken«, redete sich Jules heraus.
»Den ganzen Tag lang frühstücken?«, meldete seine Tochter ihre erwachte Skepsis an.
»Oder Fernsehen«, wich ihr Vater weiter aus, womit sich die Kleine nach kurzem Nachdenken dann doch zufriedengab.
Jules und Alabima schauten sich schmunzelnd an. Was doch eine Fünfjährige alles schon mitbekam? Und mit welch dürftigen Erklärungen man sie Gott-sei-Dank noch zufrieden stellen konnte?
*
»Verdammt.«
Reginald McPhearsen senkte die Times und starrte mit in sich gekehrtem Blick einen Moment lang geradeaus und an die gegenüberliegende Wand, ohne den dort hängenden Monet wirklich zu sehen. Auf Seite elf hatte er einen kurzen Artikel über den Industriellen Alioth Milkins gefunden. Er war von seiner Haushälterin am gestrigen Morgen tot in seiner Stadtwohnung in London aufgefunden worden. Herzversagen, lautete die Diagnose des Gerichtsmediziners. Ein kurzer Nachruf gab dem Leser einen Überblick über das Leben des einflussreichen Wirtschaftsführers, zählte auch seine beiden Ehen und Scheidungen auf, verwies auf drei erwachsene Kinder, davon zwei Ärzte und eine Historikerin, und erwähnte gewisse Gerüchte über eine bevorstehende Zahlungsunfähigkeit. Selbstmord wurde jedoch ausgeschlossen.
»Verdammt.«
Noch einmal murmelte Reginald dieses eine Wort, bevor er zum Blackberry griff und die Nummer seines Bruders Silver anrief.
»Ja«, meldete der sich wie gewöhnlich ohne Nennung seines Namens.
»Ich bin’s. Hast du’s schon gelesen?«
»Was denn?«
»Das mit Alioth.«
Das Zögern von Silver am anderen Ende der Verbindung gab Reginald die Antwort und so fuhr er mit einer Erklären fort: »Seine Haushälterin hat ihn gestern tot in seiner Wohnung hier in London gefunden. Herzversagen, wie die Ärzte meinen.«
Weiterhin blieb es auf der Gegenseite still.
»Bist du noch dran?«, fragte deshalb der ältere Bruder nach.
»Ja, ja, … schon …«, kam die zögerliche Antwort von Silver, »sollen wir uns treffen?«
Reginald war klar, dass man übers Telefon keine Unterhaltung über den Tod eines langjährigen Geschäftspartners führen sollte.
»Heute Morgen bin ich voll. Wir könnten uns aber zum Lunch treffen. Um eins. Bei mir im Büro.«
Silver stimmte zu und sie unterbrachen die Verbindung.
War sein Vater vollkommen durchgedreht? Hatte er innerhalb einer Monatsfrist tatsächlich einen zweiten Mord in Auftrag gegeben? Gegen den ausdrücklichen Willen und den Entscheid seines ältesten Sohnes und Nachfolgers?
Reginald war sich sicher, dass Oldman McPhearsen kaum mehr um die Macht im Familienkonzern kämpfen konnte. Dazu war er nicht mehr rüstig genug. Doch der störrische alte Mann hatte sich vielleicht in eine fixe Idee verrannt. Was hatte er noch mal gefaselt? Etwas wie, niemand bestiehlt uns, ohne dass er dafür bezahlt. War der Alte also auch für den Tod von Alioth verantwortlich? Hatte dabei wieder dieser verdammte Lawrence del Mato die Finger drinstecken, war einmal mehr zum verlängerten Arm des zunehmend paranoiden Alten geworden?
Reginald kannte den windigen Anwalt mit französischer Abstammung. Im Auftrag des Oldman, aber auch von Alioth, musste er mindestens ein Dutzend Mal in der Vergangenheit sehr unbequeme Dinge für den Familien-Konzern erledigt haben. Nachdem Reginald die Konzernspitze offiziell übernommen hatte, ließ er sich alle Zahlungen an den Anwalt del Mato zusammenstellen. Insgesamt waren über all die Jahre mehr als dreiundzwanzig Millionen Pfund an den Franzose geflossen, das meiste unter dem allgemeinen Titel Beratungsaufwand und mit einer schlampigen Auflistung irgendwelcher Arbeitsstunden zu irgendwelchen erfundenen Themen.
Bislang hatte Reginald den Mann nur ein einziges Mal persönlich getroffen, ihn eingeschätzt und abgewogen. Dieser Lawrence