Kendran Brooks

Die neunschwänzige Katze


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weit teureren Produkten als üblich bestückt und mit besonders schönen Verpackungen versehen, ließen die Schaufenster lustig blinken, füllten ihre Verkaufsräume mit möglichst stimmungsvollen Liedern. Chufu Lederer und Mei Ling kämpften sich durch die Massen an Menschen, die mit ihnen zusammen das Barra da Tijuca Einkaufszentrum an diesem Samstagmorgen bestürmten. Die Suche nach möglichst passenden Geschenken trieb die Leute in die Läden und damit den Verkäufern in die gierigen Hände.

      Die beiden Psychologie-Studenten waren längst schwer bepackt, schleppten ihre bisherige Beute in wohl gefüllten Kunststofftaschen mit sich.

      »Komm, setzen wir uns für einen Moment«, reklamierte Mei das sture Vorwärtsdrängen ihres Freundes von Geschäft zu Geschäft, als sie an einer Gruppe von Parkbänken vorbeikamen, die man an der Kreuzung zweier Gänge aufgestellt hatte. Aufatmend ließ sich der Philippine auf einer von ihnen nieder, stellte die Einkaufstaschen links und rechts von sich ab. Die chinesisch-stämmige Mei Ling setzte sich neben ihn, quetschte sich mit ihren Paketen in die noch freie Lücke zwischen Chufu und der anderen Armlehne.

      »Puuh«, meinte sie als Einleitung, »das wird von Jahr zu Jahr schlimmer«, beklagte sie sich über den Ansturm der anderen Käufer auf die Shopping-Mall.

      »Wo bleibt nur die Wirtschaftskrise, wenn man sie am dringendsten braucht«, antwortet Chufu sarkastisch. Ein gehetzt blickender Mann blieb irritiert stehen, stierte den Philippinen kurz und ohne rechtes Begreifen an, hetzte kopfschüttelnd weiter.

      »Wie weit sind wir mit der Liste?«

      »Wir haben alles. Bis auf Die Schande«, antwortete Chufu und wirkte erschöpft.

      Mit Die Schande, bezeichnete der Philippine seit einiger Zeit Shamee, die jüngste Schwester von Mei, benannt nach einer Figur in einem chinesischen Theaterstück, das ihr Großvater sehr geliebt hatte, als er noch lebte. Chufu hatte ihren Namen zum englischen The Shame verballhornt, nicht etwa aus lauter Bosheit, sondern weil die Jüngste der Ling Geschwister oft hochnäsig auftrat und sich unnahbar Stolz gab, andere Leute darum oft vor den Kopf stieß und man von ihr in der Öffentlichkeit immerzu beschämt wurde.

      »Was wollten wir noch für Shamee besorgen? Ach ja, dieses neue Parfüm von Yves Saint Laurent, dieses Rosenzeug«, sagte Mei mehr zu sich selbst als zu Chufu. Die Psychologie-Studentin trug seit jeher Chanel N° 5, konnte die Mädchen und Frauen nicht verstehen, die ständig hinter neuen Düften herjagten.

      Sie packten wieder ihre Taschen und erhoben sich von der Bank, gingen weiter bis zur nächsten Parfümerie, kauften dort die 125ml Flasche, ließen sie hübsch einpacken und nickten sich zu, als sie das Geschäft verließen.

      »Mission abgeschlossen«, vermeldete Chufu in möglichst militärischem Tonfall, »alle Feinde niedergestreckt. Der Sieg ist unser.«

      *

      Auch Lausanne hatte sich weihnachtlich geschmückt, wenn auch weit weniger farbenfroh als Rio de Janeiro und auch nicht so großstädtisch wie London. Hier sah man den Schaufenstern oft noch die liebevolle, aber unbeholfene Hand einer Lehrtochter an oder die Nadeln rieselten bereits von den Fichtenzweigen zu früh geschnittener, dafür echter Äste. Es war das kleinstädtische, das provinzielle, das Alabima Lederer ganz besonders an Lausanne gefiel, das etwas behäbige, gemütliche. Auch mit Jules, ihrem Ehemann, lief es seit ihrem mehrwöchigen Besuch in Addis Abeba und bei ihren Eltern wieder besser. Sie hatte ihm verziehen, sein Misstrauen, seine Verschlossenheit, seine Feigheit. Das glaubte sie zumindest.

      Die Äthiopierin freute sich auf die nächsten Wochen. Denn noch vor Weihnachten wollten Henry Huxley und Holly Peterson bei ihnen vorbeischauen und zusammen mit Sheliza bin-Elik die Schweiz besuchen. Alabima kannte das syrische Mädchen noch nicht, hatte nur von Jules von ihr erfahren. Doch was er ihr von der jungen Alawitin erzählt hatte, rührte sie an und machte sie gleichzeitig neugierig.

      Ihre Tochter Alina war noch in der Schule. Und ihr Taekwondo-Training, von dem ihr Ehegatte Jules immer noch nichts ahnte, hatte sie eben im Kampfsport-Center beendet, dort geduscht und war nun zu Fuß auf dem Weg zum Markt, um fürs Mittagessen einzukaufen. Tomaten hatten längst keine Saison mehr, doch sie brauchte welche. Und auch Bananen würde sie erneut kaufen. Denn Jules sollte auf Anraten seiner Augenärztin mehr Magnesium zu sich nehmen, was der Schweizer jedoch verweigerte, zumindest in Tablettenform, während er zufällig herumliegenden, gelben Schlauchäpfeln nicht widerstehen konnte, ähnlich einem behaarten Urwaldbewohner, der eben erst gelernt hatte, sein Gleichgewicht auch auf zwei Beinen zu halten. Der Vergleich gefiel der Äthiopierin und sie lächelte still in sich hinein. Nicht, weil sie Jules als Affen sah. Eher weil das Tier so perfekt zu einem Menschen passte, der seine Freiheit nur ungern eingeschränkt sah und darum lieber töricht handelte, sich gleichzeitig den Anschein von Besonnenheit gab, als hätte er alles wohl durchdacht, nur um danach doch ganz instinktiv und unbewusst einer Verlockung zu erliegen.

      Die Auswahl an Salaten war erstaunlich groß und sie wählte diesmal Endivien und Zuckerhut aus, wollte den bitteren mit einer sehr würzigen Soße veredeln, die gerippten Blätter des anderen zum Wickeln von Gemüse-Rouladen verwenden. Rosenkohl wanderte ebenso in ihre Tragetasche, wie ein Kilo Mohrrüben, eine Knollensellerie und zwei kleinere Kohlrabi, deren Geschmack Jules ganz besonders mochte. Alina hingegen würde sich einmal mehr beschweren, sobald sie den Duft des Kohlgemüses in die Nase bekam. Die Sechsjährige mochte ihn nicht, hatte ihn nie gemocht, würde ihn nie mögen, wie sie stets behauptete, wenn er wieder einmal auf den Tisch kam.

      Alabima blickte sich um, sah nicht die vielen Menschen, sah auch nicht die wenigen Tauben, die da und dort hockten oder pickten, sah auch nicht die Häuserfront mit den Geschäften, nahm dafür das Gefühl von Weihnachten in sich auf, die irgendwie gedämpften Geräusche, die auf einmal spürbar lauere Luft, die friedvoll anmutende Stimmung.

       Das Leben ist doch schön, oder?

      So hatte es ihr Jules einmal übersetzt, dieses gesprochene Intro von Konstantin Wecker auf CD, als der bayerische Künstler auch von einer besonderen Stimmung sprach, spät nachts, in einer Kneipe, auf dem Pissoir, wenn selbst der Mann mit der vergrößerten Prostata diese Worte wählte, während er die Tropfen fast einzeln aus seiner Harnröhre quetschte. Sie lächelte.

      *

      »Eine wichtige Hürde haben wir geschafft«, vermeldete Henry Huxley zufrieden lächelnd nach seiner Rückkehr in ihr Appartement. Holly und Sheliza sahen den Briten auffordernd an, wollten mehr erfahren.

      »Unser Anwalt hat die schriftliche Aussage deines Groß-Onkels erhalten und übersetzen lassen. Jussuf bestätigt, dass deine Eltern mit allergrößter Wahrscheinlichkeit tot sind. Dr. Coppers meint, wir sollen gleich morgen früh mit ihm zusammen vor Gericht erscheinen, damit auch du, Sheliza, eine eidesstattliche Erklärung abgeben kannst. So lässt sich dein Status als Waise juristisch bestimmen.«

      Holly sah freudestrahlend Sheliza an. Die Muslimin jedoch, die seit ein paar Tagen auch in der Wohnung stets ein Kopftuch trug, weil sie sich so wohler vor den Augen von Henry fühlte, nicht so nackt und ausgestellt, zeigte eher erschrockene Augen. Es schien ihr erst in diesem Moment bewusst zu werden, dass sie bislang noch keine offizielle Waise war, dass noch niemand den Tod ihrer Eltern bezeugt hatte. Und nun sollte sie also die letzten Nägel in die Särge von Vater und Mutter, aber auch von ihren Geschwistern treiben?

      »Ich weiß nicht, ob ich das kann«, meinte sie kleinlaut.

      Holly rückte sogleich auf dem Sofa näher zu ihr hin, nahm sie in den Arm, was die Vierzehnjährige geschehen ließ.

      »Es ist ein großer Schritt, Sheliza, ohne Zweifel«, sagte sie zur jungen Muslimin, »doch jeder Mensch muss lernen, los zu lassen, irgendwann. Henry und ich wollen dich zu nichts drängen. Doch auch für dein Kind wäre es das Beste, als Britin zur Welt zu kommen.«

      Henry sah seine Freundin mahnend und warnend zugleich an. Ihm war das Zusammenzucken der Schultern der Alawiten bei der Erwähnung der Adoption ebenso wenig entgangen, wie der verloren wirkende Blick des Mädchens danach. In so jungen Jahren ein Kind zu bekommen, das war bereits mehr Verantwortung als ein Teenager leisten konnte. Der Brite empfand das Vorpreschen von Holly eher als Zusatzbelastung