Julianne Becker

Die Weltsicht einer ziemlich verrückten Puppenmacherin


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Kraft tobte, dass er diese Potenz dazu genau spürte und von den Gedanken und Gefühlen geradezu überschwemmt wurde. Es war auch in meinem Unterricht nicht so gelaufen, wie er es wollte und das machte ihn sehr wütend. Ich hatte die Wut ausgelöst, aber nicht verursacht. Und ich sagte zu ihm:

      "Ja, ich weiß. Aber warum solltest du das tun?"

      Und schaute ihm dabei wohlwollend in die Augen. Dann grinsten wir uns beide an und er ging sichtbar erleichtert in die Pause. Er hatte sich wohl ein wenig entlastet. Jede Moralpredigt hätte in ihm noch mehr Probleme und inneres Chaos erzeugt, er spürte doch schon selbst, er war böse und er wollte so nicht sein. Es war einfach in ihm drin.

      Und das konnte nicht aus diesem Leben stammen, diesen Hass hatte er eindeutig mitgebracht. Und Kinder wie er hatten eine dicken Panzer entwickelt um sich stabil zu halten, weil es ja in ihnen schon so ungeheuer emotional und gedanklich waberte und tobte, und deshalb konnte nur ein starkes charismatisches Feld bis zu ihrem Kern dringen und sie öffnen, sie entlasten und Angebote zu neuen Einsichten unterbreiten. Und ich dachte: Herr Professor, sie hatten recht, Charisma tat es wirklich!

      Diktatoren in einem neuen Licht

      Daher kam auch die Verführungskraft von Diktatoren, sie drangen mit einem starken, charismatischen Feld gerade bei Menschen mit einem dicken Charakterpanzer durch und beeindruckten und berührten sie. Bei denen war ihre Wirkung besonders stark und vor allem bindend. Wo bisher nie ein Lichtstrahl in den Kerker fiel, wurde jeder durchkommende Strahl als selten, einzigartig und göttlich erlebt. Und dieser Kerker entstand durch einen dicken Charakterpanzer bei einem Menschen, der aus einem geringem Selbstwertgefühl heraus und vermutlich zusätzlich mit jeder Menge ungelöster Lebensthemen belastet und ein starkes mentales Korsett bauen musste, um sich zu schützen.

      Aber das funktionierte auch nach innen, in der Regel musste er auch alle Verdrängungen und Verletzungen in Schach halten. Wurde er als Kind nicht geliebt, war das schon allein verletzend genug gwesen, um sich mit einem Charakterpanzer schützen zu müssen. War er außerdem bedrängt, befehligt oder sogar misshanelt worden und man hatte seine Grenzen nicht respektiert, machte das den Druck noch größer: Der Aufbau eines dicken Panzers wurde unvermeidlich. Eine solche Behandlung setzte sich außerdem als Tradition in den folgenden Generationen der Familie fort und wurde oft als kulturelle Leistung verteidigt, in Art "eine Ohrfeige hat noch keinem geschadet" oder in Werten (Ehre).

      Den Charakterpanzer zeichnete ein starres System von wenigen einfachen Selbstdefinitionen aus. Er hatte sich einige wenige Eigenschaften auf seine inneren und sehr positiven Visitenkarten geschrieben, Schlagwörter, wie sie von Diktatoren jederzeit abrufbar waren, wie zum Beispiel Ehre. Und seine umso zahlreicheren, verdrängten und negativen Visitenkarten enthielten Behauptungen, wie er selbst nicht sei und auch auf keinen Fall sein wollte. Damit konne er sein überforderndes Leben trotz der von innen und außen ihn ständig attackierenden Angriffe erst einmal mit einfachen Regel meistern.

      Aber er mauerte sich damit gleichzeitig den Weg zu der eigenen Lebensbewältigung und zu einem sozialen, emotionalen und mentalen Lernen ziemlich zu, dieser Müll verstopfte sozusagen seine Leitung und hielt ihn beschäftigt, die Mauer an Selbstdefinitionen intakt zu halten. Er formulierte es in Gedanken aber so, dass stattdessen die anderen da draußen böse seien und alles falsch machten. Eigentlich hatte er sich diesen Panzer zum Schutz vor frühkindlichen Erfahrungen, späteren unbewältigt gebliebenen Schicksalsschlägen und Problemüberflutungen aus anderen Leben zulegen müssen und jetzt hinderte dieses eigentlich grandiose Sicherheitssystem den Armen leider auch daran, sich wirklich unabhängig von anderen so richtig gut und lebendig zu fühlen.

      Und dieser Mensch schützte sich damit auch vor jeglicher Veränderung, also auch leider vor Lernen, Wachstum und Heilung, vor Mitgefühl, Liebe und anderen schönen und erfüllenden Erfahrungen, auch wenn er diese Worte oft dennoch benutzte um seine Erfahrungen zu beschrieben.

      Und charismatische Führer öffneten ihn ihrer Vision und ihrem eigenen charismatischen Feld und die Gepanzerten konnten sich erhoben, bedeutend, lebenskräftiger und glücklicher fühlen – und das war es doch, was sie sich immer gewünscht hatten. Vielleicht entwickelten sie dann sogar eine Vorliebe für die Kettenfahrzeuge, die man nach ihnen benannte. Und so blieb ein gepanzerter Mensch manchmal schon bei dem ersten x-beliebigen Charismatiker hängen, der ihm begegnete, sei es, dass er politisch, religiös oder als Pfadfinder daherkam, und übernahm in der Vereinigung mit dessen Feld auch dessen ganze Weltanschauung und dessen Bewusstsein.

      Dieses zufällig erste charismatische Feld, das ihnen begegnete, wurde nämlich in ihrem Kerker als so besonders erlebt, dass sie dazu neigten, es für das Einzige zu halten. Also das einzig wahre. Von nun an betrachtete der Gepanzerte es auch als seine eigene Vision, die er mit aller Kraft unterstützte. Solche Menschen bildeten also besonders gute und verlässliche Anhänger, weil sie sich von alternativen, eventuell selbst viel stärkeren Charismatikern kaum noch öffnen oder umpolen ließen. Das passierte fast so etwas wie eine Prägung bei Konrad Lorenz und seinen Gänsen. Sie blieben Argumenten gegenüber absolut resistent, sie wurden fanatisch und ließen nur noch die Vereinigung mit diesem einen Feld zu, dem einzig wahrhaften und echten. Und wie gesagt, dieses Feld konnte politisch, religiös und auch alles andere sein, Musik, Fußball oder Star Trek Conventions. Vielleicht auch nur ein lokaler Motorradclub, Hauptsache, ein Charismatiker bildete den Kern der Angelegenheit.

      Und weil sie sich in der Vereinigung mit diesem charismatischen Führer und seinem charismatischen Feld, also mit allen Ideen, Drehbüchern, Gedanken, Gefühlen, Kraft, Sinn und Sendungsbewusstsein als viel lebendiger und bedeutender wahrnehmen konnten, gingen sie damit auch in den Tod.

      Fanatismus bedeutete das Ende vom Lernen, und Sanat Kumara erzählte mir noch dazu, es brauche viel Schulung auf der anderen Seite, also nach ihrem Tod, um sie wieder soweit zu öffnen, dass eine nächste Inkarnation sie überhaupt noch weiterbringen konnte. Wenn eine Öffnung schon in dem fanatischen Leben selbst passierte, ging das leichter. Und ich dachte: Was man sich so alles neu erklären konnte, wenn man sich eigentlich nur über Felder und Absorbieren Gedanken machte! Und es gab offensichtlich auch für alles eine natürliche Erklärung.

      Visitenkarten und Charakterpanzer

      Als ich mich mit dem Thema der inneren Visitenkarten beschäftigte, hatte ich mich gerade von Elvira verabschiedet. Und sie war auch so eine harte Nuss. Ich hatte wirklich alles versucht, um uns so bewusst und liebevoll wie möglich zu entflechten, seit mir klar wurde, dass bei mir keine Filzaccessoires dran waren. Aber ich hatte einsehen müssen, dass für Elvira keine mir dennoch mögliche Unterstützung willkommen war, und ich hätte ihr in meiner Dankbarkeit für die Einladung wirklich gerne geholfen. Aber was immer ich anbot, es war alles nicht recht gewesen. Ich traf in meinem Gegenüber auf einen wundervollen Charakterpanzer, der sich selbst und alles andere genau definierte, vor allem natürlich auch, wie jeder andere auf Elviras Muster zu reagieren hatte, und ansonsten wählte sie verletzt zu sein.

      Ich wollte bestimmt niemanden verletzen, aber auch nicht einfach Muster energetisch bedienen, also mich vorhersehbar so verhalten wie es sich in ihren Augen gehörte, und mich damit fremd bestimmen und melken lassen. Und trotz unserer drei Wochen mit gemeinsamen Gesprächen über Erkenntnisse aus meiner neuen Weltsicht, auf die Elvira eigentlich auch neugierig war, hörte die Gute einfach nicht auf, massiv auf mich zu projizieren. Und das konnte ich wegen meiner psychischen und körperlichen Reaktionen auf Dauer einfach nicht hinnehmen. Bezeichnenderweise war ich dort auf ihrer kleinen Hazienda auch fast nur krank. Irgend etwas tat immer weh, nicht nur die Fliegen machten sich mit bösen Geschwüren über mich her.

      Darüber beschwerte Elvira sich dann auch noch zusätzlich, die Absurdität der Situation war wieder einmal nicht zu überbieten. Ich würde ja nur jammern. Aber ich war doch völlig überlagert und bedrängt! Elvira verstand einfach nicht, was ich meinte, und da sie es nicht lassen konnte, blieb mir nur Entbinden und Flucht, obwohl ich wirklich hatte dableiben wollen.

      Besonders anstrengend fand ich, dass Elvira unsere gemeinsamen Gespräche als Diskussion auffasste, etwas, was ich selbst schon lange bleiben