E.R. Greulich

... und nicht auf den Knien


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freust?"

      Verlegen, wie in der Schule, stand Kaspar auf. "Mein Freund, der Artur, hat gesagt, Alois sei im Kinderheim, damit er sich endlich mal satt essen kann."

      Milde fragte Natalie: "Geht es dir nicht ebenso?"

      "Ja. Aber die Bemmlers haben doch 'n Bäckerladen. Der Alois kriegt so viel, dass er Brötchen gegen Abschreiben verschenkt oder gegen Murmeln verkitscht oder ..."

      "Schwindel doch nicht!", rief Alois vom andern Tischende.

      "Er schwindelt nicht", widersprach Artur. "Unser Klassenlehrer kriegt öfter Brot ohne Marken von Bemmlers. Deshalb hat er auch dafür gesorgt, dass Alois mitkommt. Und er gibt ihm auch Nachhilfeunterricht, damit er immer versetzt wird."

      "Das schreibe ich Neblich, und der wird dir schon!", schrie Alois.

      "Brülle nicht wie ein Fuhrknecht", verwies ihn Schwester Natalie, und zu Artur gewandt sagte sie: "Es gibt auch Kinder, die gesund aussehen, aber innerliche Schäden haben. Wer mit durfte, hat der Arzt bestimmt."

      Artur hatte es anders erlebt. "Wäre Herr Neblich nicht für mich eingetreten, wäre ich auch nicht hier."

      Schwester Natalies blasses Gesicht färbte sich rosa. "Da wundert's mich um so mehr, dass du deinen Lehrer anschwärzt."

      "Was wahr ist, ist wahr", murrte Artur.

      "Wir zahlen mehr Steuern als ihr", trompetete Alois, "und da habe ich genauso das Recht, ins Kinderheim zu kommen!"

      "Kinderheime sind bloß für Unterernährte!" protestierte Kaspar.

      Die beiden Nonnen waren verstört, einen derartigen Zusammenprall kindlicher Gegensätze hatten sie noch nicht erlebt. Schwester Ursula fasste sich zuerst. "Nun mal nicht so laut und unziemlich. So böse Worte wünschen wir nie wieder zu hören. Ihr seid alle Kinder Gottes und darum Freunde."

      "Seid ihr alle satt?" Schwester Natalie versuchte, die Szene rasch vergessen zu machen. Zufriedenes "Jaaa!" ertönte.

      "Dann werden wir jetzt beten." Beide Schwestern erhoben sich, und die Kinder markierten wie bei Neblich. Sie falteten die Hände und taten, als beteten sie innerlich.

      Kaspar sah Artur an. Der schüttelte nur kurz den Kopf. Und so saßen sie beide still da, ohne die Hände zu falten. Sie bewegten auch nicht die Lippen und schauten eher trotzig als andächtig drein. Die Nonnen sahen es, schwiegen jedoch dazu.

      Nach dem Gebet gab Schwester Natalie bekannt, dass jeder selbst sein Bett machen, und dass alle gemeinsam den Saal sauber zu halten hätten. Für das alles solle einer verantwortlich sein. In wohlmeinender Absicht bestimmte sie Alois dazu.

      Ein wenig schadenfroh dachte Artur, mit dem Saalersten Alois werden sie ihr blaues Wunder erleben. Die fest umrissene Ordnung dagegen gefiel ihm.

      Um neun hieß es schlafen gehen. Es wurde im Dunkeln noch gewitzelt und erzählt, bis Alois herrisch "Ruhe!" brüllte. Um sieben am nächsten Morgen war Wecken, und Alois war im Bewusstsein seiner Würde als Erster aus dem Bett. "Du fegst den Saal!" kommandierte er Artur, und Kaspar sollte die Asche aus dem riesigen Ofen nehmen. Die beiden zwinkerten sich zu, taten aber gewissenhaft ihre Pflicht.

      Ein Herbstmorgen mit Raureif und Sonne lockte. Schwester Ursula kündigte eine Vormittagswanderung durch die schöne Umgebung an. In losen Gruppen, plaudernd, gingen die Jungen durch den hallenden Gang über die breite Treppe nach unten. Dort erregte ein großes Bild Arturs und Kaspars Aufmerksamkeit: Seine Majestät, Wilhelm II., in glänzendem Kürass, alles in Weiß und Silber.

      Kaspar schüttelte seine Ehrfurcht ab und sagte: "Kann man sich gar nicht vorstellen, dass der so geizig ist."

      "Der ist noch viel schlimmer", knurrte Artur, "der ist schuld an unserm dauernden Kohldampf."

      Kaspar nickte, seinen Zwiespalt hinunterschluckend. Kohldampf hatten sie wirklich dauernd, und der Kaiser als Oberster musste wohl daran schuld sein.

      "In Wirklichkeit hat er auch einen kurzen Arm", verkündete Artur, was er erst vor Kurzem aufgeschnappt hatte.

      Kaspar stierte beinah erschrocken auf die beiden wohlgeformten Arme mit den pompösen Stulpenmanschetten. "Hat der Maler aber nicht mitgemalt."

      "Der wird sich hüten." Artur fühlte sich erhaben über die Naivität des Freundes. "Die erzählen uns auch nicht, dass er beim Boxerkrieg in China gesagt hat, die deutschen Soldaten sollen rangehen wie die Hunnen. Deshalb nennen die von der Entente uns jetzt Hunnen."

      "Die Engländer nennen uns Fritzen", behauptete Kaspar.

      "Die Engländer sind auch Entente, und manchmal sagen sie wohl Fritzen."

      Jetzt erst bemerkten sie Alois, der hinter ihnen stand und vielsagend grinste.

      Die beiden Freunde beachteten ihn nicht. Sie gingen zur anderen Seite der Halle, wo ein zweites Bild hing. "Der letzte Mann", stand auf einem Schildchen darunter. Hoch wogte die graugrüne See und wollte ein kieloben treibendes Unterseeboot verschlingen. Auf dem letzten Rest, bis an die Knie schon im Wasser stehend, barhäuptig und mit aufgekrempelten Ärmeln, stand ein Matrose. In schwieliger Faust reckt er die Reichskriegsflagge gen Himmel. Gleich würde er mitsamt der Flagge untergehen, aber allen Feinden hatte er noch einmal gezeigt, was eine deutsche Harke ist.

      "Quatsch mit Soße", sagte Artur betont verächtlich, als er merkte, wie Kaspar das Drama bestaunte. "Wenn du am Abgluckern wärst, würdest du nicht lieber nach 'nem Balken oder Rettungsring sehen, anstatt mit der Fahne rumzufuchteln?"

      "Ja", antwortete Kaspar zögernd, "aber manche sind vielleicht so."

      "Wenn er wirklich für den Kaiser und seinen Krieg ist, dann muss er sich erst recht zu retten versuchen, damit er auf einem andern Schiff weiterdienen kann." Artur bewunderte sich selbst ein bisschen für diese Antwort.

      "Schon", sagte Kaspar beinahe traurig und bestaunte weiter das Bild. Es erregte seine Gefühle stärker als die Vernunftargumente Arturs seinen Verstand. Das war doch alles ganz echt: ein Seemann, wie er ihn sich vorstellte, stark, braun gebrannt, hartes Gesicht. War bestimmt ein mutiger Kerl. Mindestens so wie Onkel Richard - wenn der Matrose geworden wäre - und dessen Taschenuhr er noch immer nicht hatte, weil Onkel Richard bisher am Heldentod vorbeigekommen war.

      "Nun, Jungens, rasch, rasch!" Schwester Ursula kam und klatschte fröhlich in die Hände.

      Sie führte die Schar durch das schöne alte Städtchen und wusste viel Interessantes über historische Stätten zu erzählen. Vermutlich war sie hier aufgewachsen. Einer ihrer dankbarsten Zuhörer war Artur.

      Heißhungrig strömten sie zur Mittagszeit in den Essraum und fielen über die Löffelerbsen her, kaum dass die Beterei zu Ende war. Speckstückchen fanden nur einige, aber wer fragte schon danach, durfte man doch von der "kräftigen Hausmannskost" einfahren, so viel nur der Magen fasste.

      Mit einem lang gezogenen "Hiii" schnippte Alois von der Löffelspitze etwas auf den Tisch. "Maden!" Entrüstet schob er die Emailleschüssel von sich. Erschrocken hielten dreißig Jungen im Einschaufeln inne.

      Artur betrachtete die angebliche Made. "Dämlich wie immer", stellte er fest und gab Alois einen Knuff, "ist doch 'n Erbsenkeim." Er ging wieder zu seinem Platz und aß mit Appetit weiter.

      "Bist wieder mal oberschlau", keifte Alois, "ich weiß doch, was Maden sind!"

      Ein Junge foppte Alois: "Kneif ihr in den Schwanz, wenn sie quietscht, ist es 'ne Made!"

      "Dem passt das ganze Essen nicht", empörte sich Kaspar, "der will Gebratenes und andere Kinkerlitzchen!"

      "Dafür wird er schön abgenommen haben, wenn er nach Hause kommt, deswegen ist er doch hier", sekundierte ihm Artur.

      "Ihr seid bloß wütend, weil ihr heute ausfegen musstet", setzte sich Alois zur Wehr.

      Unverfroren diktierte ihnen der Dicke jeden Morgen die gleiche Arbeit zu. Als die Woche um war und Alois wieder hämisch auf den Besen wies, nahm Artur den und drückte ihn einem Busenfreund Alois in die Hand. "Jetzt bist du mal dran, und dann du, und dann du",