E.R. Greulich

... und nicht auf den Knien


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hängte sich bei ihm ein, presste ihr Gesicht gegen seinen Arm. Verlegen brummelte er: "Iss - nachher sieht alles schon anders aus."

      "Ich kann jetzt nicht."

      Er legte brüderlich seinen Arm um ihre Schulter. Links und rechts gingen die beiden Mütter und schauten geradeaus.

      Ohne Zwischenfälle erreichte die Gruppe den Heimatbahnhof. Als Beckers und Borbachs sich verabschiedeten, hielt Erika noch den Apfel in der Hand. Verstohlen fuhr ihr Artur übers Haar. "Sei nicht mehr traurig."

      Bei Beckers war man in Sorge. Längst war die Essenszeit vorüber. Frau Wiesflecker hatte Jenny, die sie öfter verwartete, zurückgebracht. Als Mutter und Sohn in die Wohnung traten, empfing man sie mit aufgeregten Fragen. Luise Becker sank auf ihren Stuhl am Küchentisch, legte den Kopf auf die Arme und weinte.

      So hatte Artur die Mutter noch nicht gesehen. Es erschütterte ihn mehr als alles andere an diesem Tag.

      Er konnte lange nicht einschlafen. Wachträume quälten ihn. Er sah Karabinerläufe auf sich gerichtet. Die Kugeln töteten ihn lautlos, und als er umsank, erblickte er die weinende Mutter.

       David und Goliath

      Jeden Morgen vollzog es sich völlig gleich, exakt und minutiös. Neblich trat ins Klassenzimmer, die Kinder sprangen auf, wie an einer Schnur gezogen, und rasselten herunter: "G-u-t-e-n M-o-r-g-e-n, H-e-r-r L-e-h-r-e-r!"

      "Setzen!", befahl Neblich, trat an die vorderste Bank und sah auf seine gefalteten Hände herab. "Wir beten!", sagte er, ohne den Blick zu heben. Alle Geräusche verstummten, und jeder bemühte sich so zu tun, als verharre er wirklich in stillem Gebet.

      Während Neblich feierlichen Schritts das Katheder bestieg, die Bibel aufschlug und seinen Stuhl zurechtstellte, rechnete er jedes Mal mit geheimen Sündern ab. "Otto Wagenseil, was suchtest du unter der Bank? Ohne gefaltete Hände bringt man keine Andacht auf. Wegen mangelnden Antriebs, mit Gott stille Zwiesprache zu halten, wird er dich durch Missachtung strafen. Stell dich mit dem Gesicht zur Wand."

      Damit war der Fall abgetan. Es war eine harte Strafe, und jeder fürchtete sie. Eine Stunde stehen müssen, war dabei geringer zu veranschlagen, als vom interessantesten Unterricht ausgeschlossen zu sein, den es zweimal in der Woche gab. All die Jahre bisher war Neblich nicht von seinem Prinzip abgewichen, ohne Schläge zu regieren. Er strafte immer kühl und im Einverständnis mit Gott. Er schien wirklich stark durch seinen Glauben. Wie wäre es ihm sonst möglich gewesen, tief versunken zu beten und trotzdem am Ende der stillen Erbauung zu wissen, wer gesündigt hatte?

      Was Artur an Neblich bewunderte, war dessen Vortragskunst. Neben Geschichte war deshalb Religion sein liebstes Fach. Darin war er der aufmerksamste Schüler und zugleich der unbequemste. Begierig nahm er die Geschichten der Bibel auf, ähnlich wie die der deutschen und griechischen Heldensagen, doch wie bei jenen, fand er auch bei diesen oft ein Haar in der Suppe.

      An diesem Tage schlug Neblich die Seiten Samuels auf und begann die Geschichte von David und Goliath vorzutragen. Sie war wunderschön als Gleichnis geeignet. Deutschland gegen eine Welt von Feinden. Es galt zu zeigen, dass der scheinbar Schwächere doch siegen könne, wenn er nur wolle - und Gott ihm helfe.

      Die Klasse lauschte hingegeben: Riesenstarker Bösewicht höhnt die Gerechten. Und die - furchtsam und kleinmütig - wagen nicht, den Lästerer zu strafen. Schier unerträglich wird der Hohn des Goliath, aber die Gedemütigten schätzten die eigene Haut höher als alles Gottvertrauen. Da erscheint ein Jüngling, kaum dem Knabenalter entwachsen, erbietet sich, den Unhold zur Strecke zu bringen. Er erntet mitleidiges Gelächter. Aber er lässt nicht locker, bis man ihn vor König Saul bringt. Auch der misstraut dem Jüngelchen. David berichtet von besiegten Bären und Löwen als Beweis starken Gottesbeistands. Endlich gibt Saul die Erlaubnis zum Zweikampf, dazu sein Schwert und die eigene Rüstung. Alle zittern um den Waghalsigen, doch der legt Panzer und Schwert beiseite, tritt dem Riesen als ungeschützter Hirtenknabe entgegen. Goliath trieft vor Hohn - das flinke Mundwerk Davids bleibt ihm nichts schuldig. Der Bengel ist nicht nur witzig, sondern auch intelligent. Zweikampf ist Zweikampf, und es war nicht ausgemacht, wie er auszutragen sei. Jedenfalls berichtet die Bibel nichts darüber. David macht es sich zunutze. Er erledigt seinen Gegner aus der Distanz.

      Neblich hob an dieser Stelle skandierend die Stimme. Die Klasse genoss aufgeregt die Szene: "Und David tat seine Hand in die Tasche und nahm einen Stein daraus und schleuderte, und traf den Philister an seine Stirn, dass der Stein in seine Stirn fuhr und er zur Erde fiel auf sein Angesicht."

      Danach machte Neblich eine wohlberechnete Pause, um zum Finale zu kommen: "Also überwand David den Philister, mit der Schleuder und mit dem Stein und schlug ihn und tötete ihn. Und da David kein Schwert in seiner Hand hatte, lief er, und trat zu dem Philister, und nahm sein Schwert, und zog's aus der Scheide, und tötete ihn und hieb ihm den Kopf damit ab. Da aber die Philister sahen, dass ihr Stärkster tot war, flohen sie."

      Neblich legte die Bibel hin. Aufatmendes Gemurmel raunte durch die Klasse. Während der Lehrer mit einem blütenweißen Taschentuch feinen Schweiß von seinem Gesicht tupfte, lächelte er wohlgefällig ob der allgemeinen Zustimmung.

      Mit der letzten Schweißperle wischte er Lächeln und Applaus fort und wurde pädagogisch: "Warum konnte David ein Held sein?"

      Arturs Finger schoss in die Höhe. "Weil er mutig war!"

      Neblich hätte lieber gehört: weil er auf Gott vertraute. Er verbarg seine Enttäuschung und sagte: "Mut hat Goliath auch gehabt."

      "Der wusste ja, dass ihm nichts passieren kann, denn er war der Stärkere", widersprach Artur. "Ihm ist aber doch etwas passiert."

      "Nur weil David schlauer war als alle um König Saul. Er ließ den Riesen gar nicht erst an sich herankommen."

      Neblich wurde unruhig und ließ sich zu der Frage verleiten: "Was ist denn Mut, deiner Meinung nach?"

      Durch die Geschichte angeregt, erwiderte Artur unbefangen: "Mut ist, wenn einer weiß, er ist schwächer, aber trotzdem hingeht und kämpft."

      "Siehst du", triumphierte Neblich, "und er kann es nur tun, weil er weiß, dass Gott mit ihm ist."

      Zu deutlich erinnerte sich Artur seines Kampfes gegen Alois. Da hatte er gesiegt, ohne den lieben Gott belästigt zu haben. "Aber mancher sagt sich, man muss etwas tun für das Richtige, und wenn er es mit der Stärke nicht schafft, muss er eben schlauer sein." David war Arturs Mann, und er fühlte sich verpflichtet, dessen Mut gebührend zu feiern.

      Gereizt durch Arturs Beharrlichkeit, versuchte Neblich noch einmal, ihn in die Enge zu treiben. "Herkules nennt man doch auch mutig, obwohl er mit übernatürlichen Kräften ausgestattet ist."

      Die Frage- und Antwortspiele mit Vater zahlten sich jetzt aus, das übte, schlagfertig zu sein. "Wie konnte dann Herkules Gottvertrauen haben? Er war doch ein Heide und glaubte an Zeus und viele andere Götter."

      Neblich klappte die Bibel zu, trat zu Artur und fuhr ihm versöhnlich übers Haar. "Wir werden noch darüber reden."

      Er hielt sein Versprechen nicht. In der nächsten Religionsstunde brachte er die Geschichte Davids zu Ende, ohne auf die Diskussion über den Mut einzugehen. Artur ließ es dabei bewenden. Er hatte inzwischen mit dem Vater gesprochen. "Pass Obacht", hatte der geantwortet, "mit dem David hat Neblich sich in die Nesseln gesetzt, der passt für uns besser als für sie."

      "Ob David auch zu Goliath gegangen wäre, wenn er die List mit der Schleuder nicht ausgeknobelt hätte?"

      Vater scheuerte nachdenklich sein Stoppelkinn. "Wie ich den David sehe, nein. Das ist wie mit uns: Die Arbeiter dürfen sich den Zeitpunkt und die Waffen nicht verschieben lassen."

      Die Antwort war Artur zu allgemein, ihm ging es um den Kampf von Mann zu Mann. Deshalb fragte er: "Wenn ein Schwächerer einen Zweikampf wagt, ohne sich vorher was auszudenken, wie mit der Schleuder, ist der dann kein Held?"

      "Dann ist er ein Märtyrer; aber wir halten nichts davon. Manchmal allerdings lässt einem das Leben keine Zeit zum Überlegen. Da muss man sich seiner Haut