E.R. Greulich

... und nicht auf den Knien


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      Vater war jetzt in guter Stimmung. Artur fragte ihn gleich noch wegen der Kriegsanleihe.

      "Von mir keinen Pfennig." Der Vater war erregt. Dann zwang er sich zur Ruhe und sagte: "Pass Obacht! Hier steht einer und hat 'ne Leine in der Hand. Oben geht sie über 'ne Rolle, am andern Ende hängt der Brotkorb. Den zieht er nun sachte, sachte immer höher, dass du dir zuletzt den Hals ausrenken musst wie 'ne Giraffe. Und dann kommt der Schweinehund, hält die Hand auf und meint, den Spaß könnten wir nicht umsonst verlangen. Was hat der verdient?"

      Artur war so bei Bild und Mimik des Vaters, dass er empört hervorstieß: "Einen Tritt in den Hintern!"

      "Jawoll, mein Junge." Der Sohn hatte ihm aus tiefster Seele gesprochen. Das war nicht bei jedem Gespräch so gewesen. Die Einflüsse der Umwelt, Lehrer und Schule hatten manchmal stärker gewirkt als die des Elternhauses. Aber die letzten Erlebnisse schienen bei dem Jungen den Knoten gelöst zu haben. Artur war älter geworden - älter und verständiger. "Und sie kriegen den 'Tritt', bekräftigte Walter Becker, "verlass dich drauf. Das ganze Gelichter. Die halbe Welt wollten sie einkassieren, nun wird man sie selber bald annektieren."

      Nebeneinander gingen Mutter und Sohn am nächsten Morgen zur Schule. Schon einmal war Artur den Weg an Mutters Seite gegangen. Das war Jahre her, eine halbe Ewigkeit. Jetzt sah die Welt anders aus, rauer und grauer.

      Die meisten Kinder waren schon in der Klasse. Einige Nachzügler huschten mit erstaunten Augen an den Beckers vorbei, die vor der Klassentür warteten. Es klingelte, und Neblich kam. Sein Gang war sicher und würdig, dennoch von einer gewissen Hurtigkeit.

      "Guten Morgen, Herr Neblich."

      Er ließ sich seine Überraschung nicht anmerken, erwiderte höflich: "Guten Morgen, Frau Becker."

      "Hier ist Artur. Er ist sauber gewaschen, ich hab' aufgepasst. Ich werde es die kommende Woche tun und immer. Ich möchte nicht, dass Sie mir diese Pflicht abnehmen."

      Neblich wiegte den Kopf, wurde noch würdiger. "Artur hat einen Grundsatz durchbrochen, das schadet der Klassendisziplin."

      "Dafür haben Sie ihn bestraft, vor der ganzen Klasse beschämt. Das genügt wohl."

      "Wir können pädagogische Maßnahmen nicht so mir nichts dir nichts aufheben, Frau Becker."

      "Wiederholen Sie das bitte vor Herrn Rektor Kunz."

      "Warum so aufgeregt, man kann sich vernünftig über alles unterhalten." "Eben. Aber Sie ..."

      "Also gut, Frau Becker, lassen wir es dabei bewenden - weil Artur sonst einer meiner Besten ist."

      "Danke schön, Herr Neblich; auf Wiedersehn."

      "Auf Wiedersehn, Frau Becker."

      Artur flitzte vor ihm in die Klasse. Neblich war klug genug, sich nichts anmerken zu lassen. Aber seiner Schulmeisterseele hatte diese Begegnung einen Knacks versetzt. Die Erfahrung eines langen Lehrerlebens hatte ihm gezeigt, dass sich Arbeitereltern wenig darum kümmerten, was in der Schule vorging. Und nun hatte eine Arbeiterfrau ihn gezwungen, sich zu korrigieren. Das war ihm noch nicht passiert.

      War das ein Zeichen jener Aufsässigkeit, die, noch kaum merkbar, im Lande anstieg?

       Schau unter die Pelerinen

      Sie waren soeben mit den Schularbeiten fertig geworden. Aufatmend lehnte sich Bruno zurück und sagte enttäuscht: "Ziehst ein Maul wie 'n Alter."

      Artur dachte daran, wie lange hin es noch bis zum Abendbrot war. "Wäre ich Laufjunge bei Tosch wie du, könnte ich auch lachen. Braucht der Grünkramfritze nicht noch 'ne Hilfe?"

      "Der?" Bruno zog laut die Luft durch die Nase und wollte ausspucken. Die Sauberkeit der beckerschen Wohnung bewahrte die Dielen vor dem Attentat. "Der bezahlt doch keinen Pfennig. Gibt mir bloß immer Sachen, die er selber nicht frisst. Gestern 'n Pfund Linsen mit Maden."

      "Linsen mit Maden sind besser als Hunger", sagte Artur.

      "Stimmt", höhnte Bruno, "spart man den Speck."

      "Und der Pferdekopf war wohl nichts?" bohrte Artur.

      Bruno wurde sachlich. "Wenn Tosch davon wüsste, würde er mich achtkantig rauspfeffern."

      "Für jede Woche einmal Pferdesülze würde ich ohne Geld in der Markthalle helfen." Solch ein Angebot, geboren aus dem ständigen Hunger des Kohlrübenwinters 1917, war verständlich.

      Bruno fühlte mit Artur. Er bohrte in der Nase und überlegte. "Weißt du was? Du kommst einfach mit."

      Gemeinsam zogen sie mit dem Handwagen zum Stadtinnern. Unterwegs instruierte Bruno den Freund. "Wenn einer was will, sagst du, wir beide arbeiten bei Tosch. Und immer wenn sich so 'n dicker Händler beim Auf- und Abladen quält, hin und nichts wie helfen. So kriegst du am ehesten eine Stelle."

      Artur -staunte, wie viel es in einer Markthalle zu helfen gab. Manche sagten nicht einmal danke, wenn er für sie geschuftet hatte. Andere drückten ihm einen Groschen in die Hand und taten, als sei es ein Goldstück. Ein Misstrauischer schimpfte: "Hau ab - ihr wollt bloß klauen!"

      Der Ertrag des ersten Tages war bescheiden. Erwähnenswert war nur eine Tüte voll angestoßener Äpfel als Lohn für eine halbe Stunde Abrollen mit der Sackkarre. Die fleckigsten Früchte aß Artur heißhungrig auf, den besseren Rest brachte er nach Hause. Mutter war brummig. Artur hatte nicht abgewaschen und aufgefegt, obwohl sie den ganzen Tag plätten gewesen war. Als Artur von seinem 'Glück' erzählte und auf die Äpfel wies, war sie versöhnt,

      Einer der umgänglichsten unter den Händlern war Botterbluhm. Beim ersten Mal hatte Artur ihm einen Haufen Säcke sauber auf dem Plattenwagen geschichtet und geholfen, das Pferd anzuschirren. Dafür gab ihm Botterbluhm einen Weißkohlkopf, der nur an einer Stelle angefault war. "Kannst du wegschneiden", sagte Botterbluhm, "bleibt immer noch 'ne Menge Karnickelfutter." Er wusste ja nicht, dass Beckers einziges Kaninchen an Unterernährung krepiert war.

      Bereits nach einigen Tagen rief Botterbluhm, als wäre Artur sein Hausdiener: "Wo bleibst du bloß, kannst du dich nicht zeitiger herscheren?"

      Artur nahm "Brubbelkopp" die groben Worte nicht übel und fragte im Marktfrauenton, der im Kriege nur noch selten zu hören war: "Was soll's denn sein?"

      Botterbluhm grinste: "Trab mit dem ollen Fritz nach Hause, stell ihn in den Stall. Ich hab' noch was Geschäftliches."

      Artur kletterte auf den Plattenwagen und sagte: "Hüh!" Der olle Fritz wanderte gemächlich los. Brav ließ er sich in den Stall führen und abschirren. Artur schüttete ihm Futter vor und brachte den Stallschlüssel zu Frau Höggerath, wie ihm Botterbluhm geheißen. Die Putzfrau öffnete die Tür der großen Wohnung im Vorderhaus und nahm wortlos den Schlüssel. Da hörte Artur eine Frauensumme. "Soll mal herkommen!" - "Hier ist er, Madam!", sagte die Höggerath und schob Artur in eine Stube. Es war schön warm darin, und in der Luft schwebte ein schwer-süßlicher Geruch. Die Möbel hatten Dackelbeine und viele Schnörkel. Betroffen blieb Artur an der Tür stehen. Vor einem Tischchen mit drei Spiegeln saß die Madam. Sie hätte auch Botterbluhms Tochter sein können, so jung war sie. Ein seidenglänzendes Gewand hatte sie an, um den Ausschnitt wunderfeine Rüschen. Sie legte die Nagelfeile hin, dass es auf dem Glas silberhell klirrte und fragte: "Wo ist Botterbluhm?"

      "Er hat noch was Geschäftliches", sagte Artur.

      "Aha", sagte sie. Botterbluhm war also wieder in der Markthallenkneipe. Dort hoben die Händler öfter einen und noch einen. Vollgehoben war Botterbluhm kürzlich auf seinen Wagen geklettert und gleich darauf eingeschlafen. Der olle Fritz war nach Hause getrottet, vor dem Stall stehen geblieben und auch eingeschlafen. Botterbluhm war erst von der Kälte aufgewacht und hatte einen Hexenschuss weg. Die Kneipe war eine Art Börse; hier wurden die Sachen getauscht, verhökert und verschoben, von denen die Bevölkerung nie etwas sah. Das wusste Artur, und deshalb wunderte es ihn nicht, dass Botterbluhms so fein eingerichtet waren und dass die feine Madam nicht zu arbeiten brauchte.

      "Du bist also der Artur?", sagte die junge Frau und trug mit