E.R. Greulich

... und nicht auf den Knien


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      Kaspar fand die verblüffende Antwort: "Er hat's doch gewusst, dass er ihm den Orden gegeben hat. Da hätt' er ihm auch Geld geben sollen."

      "Ein Bein war doch genug, muss sich Piezker noch Rheuma dazuholen?" stieß Artur nach, und Reggi war ernstlich nachdenklich.

      Artur erinnerte sich der Erzählung Vaters von jenen Kaiserworten, die in der Welt Aufsehen erregt und nicht wenig dazu beigetragen hatten, der sozialdemokratischen Agitation mehr Gehör zu verschaffen. "Weißt du nicht, dass der Kaiser seinen Soldaten gesagt hat, sie müssen auf Vater und Mutter schießen, wenn er befiehlt?"

      Reggi war betroffener als Kaspar. Ihm fiel nichts Besseres ein, als zu fragen: "Kriegen wir das noch in Geschichte?"

      Artur lachte mitleidig. "Die werden sich hüten. Du rennst ja auch nicht auf die Straße und posaunst heraus, wenn du was Schlechtes gemacht hast."

      Reggis Kaiserbild schien angeknackst. "Wenn der Liebknecht sich über den Kaiser geärgert hat ... Na ja - aber dafür können wir doch nichts. Deswegen darf er doch nicht wollen, dass wir den Krieg verlieren?"

      Da war sie, die schlimme Frage, mit der sich Artur selbst noch herumschlug. "Der wird schon wissen, warum", versuchte er auszuweichen.

      "Aber du weißt es nicht", triumphierte Reggi.

      Artur erlebte zum ersten Mal, wie einen die Auseinandersetzung mit anderen oft schneller vorwärts bringt als die in der eigenen Brust. Er kam der Wahrheit näher, als er stotternd sagte: "Liebknecht will nicht, dass sich die Menschen gegenseitig totschießen. Aber der - der Kaiser, der will Krieg. Der hat immer mit dem Säbel gerasselt. Und nun - vielleicht meint Liebknecht, wenn so einer - wenn der Kaiser den Krieg verliert, dann geschieht ihm recht, damit - vielleicht, dass es dann mit dem verfluchten Totschießen aufhört, und keiner braucht mehr Rheuma zu kriegen beim Betteln."

      Kaspar wurde das Gespräch zu schwierig, und in seiner praktischen Art brach er es ab mit der Frage: "Rennen wir noch hin?"

      Artur begann umständlich, den Verband neu um seinen Zeh zu wickeln. Schon wieder eine Entscheidung, die sie von ihm verlangten. Lehnte er jetzt ab, würden sie allein gehen - zu Alois. Der hatte ihm nicht die Straße zu verbieten.

      Der Verband saß. Artur richtete sich auf und sagte sehr selbstverständlich: "Los! Der Dicke soll mal kommen." Alois war zwar nicht mehr so aufgeschwemmt wie bei der Einschulung, doch den Spitznamen hatte er behalten.

      Sie trabten los. Trotz seines Hinkens bemühte sich Artur, an der Spitze zu laufen. Sie kamen zu spät. Die Musik war verstummt, aus dem Stadtinnern strömten die Menschen zurück. Sie schwitzten, wedelten sich mit ihren Strohhüten Luft zu, und ihre staubigen Stiefel zertraten hie und da Blumen, die auf dem Pflaster welkten.

      Kaspar sah Alois zuerst. "Da kommt der Dicke", sagte er, und in seiner Stimme war ein leichtes Zittern.

      Fast zur gleichen Zeit entdeckte Alois sie. Mit wilden Gebärden feuerte er seine Rotte an. Sie umringten die Drei, die sich Rücken an Rücken um eine Laterne stellten. "Na, ihr Drietlöppel", frohlockte Alois, "euer Glück, dass ihr gekuscht habt." Er fühlte sich in der Übermacht und gedachte seinen Triumph auszukosten.

      "Wenn du so 'n Zeh hättest wie Artur, würdest du überhaupt nicht auf die Straße gehen." Der Versuch, die Stimmung zu neutralisieren, war gut gemeint von Reggi, doch er verletzte das Ehrgefühl Arturs. Um so mehr, als Alois sofort in die Kerbe hieb: "Hihi, aber Fußballspielen konnte er!"

      "Hast doch gesehen, wie er dabei gehumpelt ist", rief Kaspar.

      "Und warum ist er nicht mit der Musik mitgehumpelt?", höhnte Alois.

      "Weil wir noch was zu besprechen hatten", sagte Artur.

      Alois fragte: "Hast 'ne Rede gehalten wie dein roter Liebknecht, was?"

      "Der ist hundertmal schlauer als du."

      "Ein Feigling ist er, ein Vaterlandsverräter!" Alois stand dicht vor Artur und zischte es ihm ins Gesicht. In Artur schoss eine heiße Welle hoch. Blitzschnell fuhr seine Hand vor, und er brüllte: "Das ist für den Feigling und das - für den Verräter!" Zwei Ohrfeigen brannten im Gesicht des Dicken.

      Blind vor Wut stieß Alois mit der Faust zu. Artur wich aus, der Angreifer verletzte sich am Laternenpfahl. Es machte ihn noch rasender. Einen der Zuschauenden stieß er aus den Holzpantinen, raffte eine auf und drang auf Artur ein.

      Dieser Schuft, mit einer Pantine gegen Fäuste! Jetzt drauf, und wenn du dran verreckst! Zielbewusst setzte Artur seine Schläge ins Gesicht des Gegners. Alois erkannte die Taktik und drang nun mit gesenktem Kopf auf den Feind ein. Artur gelang es, Alois die Pantine zu entreißen. Jetzt trommelte das Holz auf Hände und Schädel dessen, der mit ihm den Kampf unfair begonnen hatte. Alois konnte nur noch mit den Armen seinen Kopf schützen, "Hilfe, Hilfe - helft mir doch!" kreischte er.

      Eine harte Hand packte Artur im Genick, riss ihn zurück. "Schämst du dich nicht? Mit einer Waffe gegen einen Waffenlosen?"

      Artur wandte sich um, sah in zwei vorwurfsvolle Augen hinter einem Zwicker. Der Mann im dunklen Anzug mit dem steifen Kragen erinnerte ihn an Rektor Kunz.

      "Er hat angefangen, mit der Pantine zu schlagen!" keuchte Artur. Erst als ihm das Kinn feucht wurde, spürte er, dass er weinte. Tapfer hatte er seinen Helden verteidigt, tapfer sich gewehrt und einen stärkeren, bewaffneten Gegner besiegt und nun wurde er beschimpft. Ein Junge weint nicht, sagte Vater, doch es lag nicht mehr in seiner Gewalt, dem guten Grundsatz treu zu sein.

      "Jawohl, der Dicke hat angefangen", rief Kaspar, "alle haben es gesehen!" Aufgebracht wies er auf die Umstehenden. Selbst Alois' Freunde konnten dagegen nichts sagen.

      "Gleichwie", zeterte der Mann mit dem Zwicker, "ihr solltet euch schämen. Macht, dass ihr nach Hause kommt!" Er fuchtelte mit seinem eingerollten Regenschirm.

      Die Jungen folgten dem Rat. Artur und Kaspar gingen nebeneinander. Hat er aus Freundschaft zu mir gehalten oder wegen der Schularbeiten, schoss es Artur durch den Kopf. Gleich darauf schämte er sich des Gedankens und legte seinen Arm um die Schulter des Kleineren.

      Alois entsann sich einer witzig sein sollenden Namensverdrehung, die er zu Hause aufgeschnappt hatte. Sie entstammte einem Pamphlet gegen Bebel und Wilhelm Liebknecht anlässlich des Leipziger Hochverratsprozesses. "Macht Beine, ihr Doofen, Nebel und Piepknecht - Nebel und Piepknecht!", schrie er Artur und Kaspar nach.

      Die beiden Arbeiterführer verehrte Vater am meisten, neben Karl, dem Sohn Wilhelms. "Lass ihn jaulen", ermutigte Artur den Freund, "damit kann er uns nicht beleidigen. Er hat seinen Denkzettel weg."

      Brüderlich drückten sie sich vor dem Leutnerschen Haus die Hand. Gedankenvoll lief Artur weiter. Außer dem Zeh gab es nun einige Stellen mehr am Körper, die schmerzten.

      Als er in die Küche trat, saß die Familie beim Abendessen. Erschrocken starrten alle auf Artur, dem gar nicht bewusst war, wie verwegen er mit der Stirnbeule, dem geschwollenen Auge und dem geschlitzten Hemd aussah. Ehe die Mutter ihm Essen auftat, machte sie ihm einen kühlenden Kopfverband. Stoisch erzählte Artur, von Begeisterungsrufen Eugens unterbrochen und von Hedwig bestaunt, während er mit Heißhunger aß. Als sein Teller leer war und er verstohlen zum Herd sah, stiftete Hedwig begeistert den Rest ihrer Mahlzeit.

      Der Vater hatte schweigend zugehört. Jetzt nahm er Artur bei den Schultern. "Man muss ihnen die Zähne zeigen, sonst nehmen sie uns unter die Füße!"

       Seifenblasen schillern nicht mehr

      Alle paar Tage gab es eine Siegesfeier, anschließend war schulfrei; denn überall siegten die deutschen Soldaten. Meistens hielt Rektor Kunz die Rede, manchmal Lehrer Neblich. Der ließ die Kinder das Hauen, Stechen und Schießen so miterleben, dass sie sich hernach selbst als die Sieger fühlten.

      Die Blätter begannen sich zu färben, die Früchte reiften, und alle Stammtischkrieger sahen bereits die wertvolle Frucht dieses Jahres in deutscher Hand: Paris. Den Vormarsch der deutschen Truppen stoppte der "Retter" Joffre, er vollbrachte "das Wunder an der Marne." Nun wurde