E.R. Greulich

... und nicht auf den Knien


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haben doch deutlich genug gerufen."

      "Deutlich schon, nur nicht früh genug", entgegnete Walter Becker.

      "Und überhaupt helfen wir keinem Greifer", rief Artur.

      "Da haben Sie's", hetzte die Frau.

      Eugen gab dem Bruder einen heimlichen Puff, und der Vater suchte auszubügeln: "Er meint, dass jeder das Seine tun soll. Ich arbeite schwer die ganze Woche und kriege dafür mein Geld. Der Gendarm kriegt sein Gehalt, damit er die Diebe fängt. - Und nun kommt, Jungs." Er nahm den Jüngsten an die Hand, und sie marschierten zum Weg hinab.

      Artur schwieg, innerlich erregt. So viel war eben auf ihn eingestürmt. Sie waren doch im Recht. Warum hatte es der Vater dem Gendarm nicht ins Gesicht geschrien, hatte sogar abgebremst, als er, Artur, es tun wollte? Stotternd fragte er: "Wenn - wo du so - so zu dem Schandarm warst, warum hast du ihm nicht auch den Nepomuk gefangen?"

      Walter Becker holte tief Luft. "Für die zwei Würste hätten sie den Nepomuk eingelocht. Nachher wäre er wieder der gleiche Speckjäger gewesen; denn nun hätte er erst recht keine Arbeit, keine Wohnung gekriegt. Solchen Unsinn kann man doch nicht unterstützen."

      Das sah Artur ein. Um so heftiger begehrte er auf: "Und warum hast du es dem Schandarm nicht ...?"

      "Ich kann doch mit dem keine Diskussion anfangen", erregte sich der Vater, "mit der kreischenden Bauerschen daneben."

      "Aber die Bauersche hat uns ungerecht beschimpft. Weshalb ..."

      Walter Becker fuhr sich durchs Haar. "Ein bisschen musst du sie schon verstehen. Wir freuen uns auch nicht über den geklauten Rucksack. Herrgottsakrament, das Leben ist eben manchmal so verzwickt, dass man nicht anders zurechtkommt als mit Taktik. Eigentlich müssten wir doch zusammenhalten, die Arbeiter und Bauern gegen die Schandarmen. Klar, manche haben mehr als wir, aber sie müssen auch schwer schuften und werden gemolken wie wir. Dass die meistem es so noch nicht sehen, ändert nichts an der Tatsache. Angenommen, den Bauersleuten würde der Hof versteigert werden wegen Steuer-, Pachtschulden oder ähnlichem raffiniertem Kram, da würde sie der stramme Lemke ebenso eifrig auf die Straße jagen, wie er eben der Bäuerin zu Diensten sein wollte. Und plötzlich würde man sehen, wie es wirklich steht."

      Eugen unterstützte den Vater. "Denk mal an das Bild neulich im 'Simplicissimus'."

      Walter Becker spitzte die Ohren, und Eugen musste ihm von der Zeichnung berichten.

      Der Vater wurde eifrig. "Das Bild ist goldrichtig. Wie sollte man so was besser zeichnen? Das sind die wirklichen Ausbeuter des Volkes." Er erzählte seinen Söhnen vom Ausstand der Crimmitschauer Textilarbeiter, vom ersten Massenstreik in Deutschland, der vom August 1903 bis Ende Januar 1904 dauerte. Nachdenklich schloss er: "Den Crimmitschauern ging lange die Puste nicht aus, weil wir ranschafften. Das zeigt das Bild. Die oben drücken und drücken, aber die unten halten stand."

      "Haben sie gewonnen?", fragte Artur erwartungsvoll.

      Zornig stieß Walter Becker hervor; "Sie sind schließlich verraten worden. Legien heißt der Obermimer von der Gewerkschaft, und sein Knecht Hübsch, Vorsitzender des Textilarbeiterverbandes. Keine Forderung erfüllt, aber über tausend der Besten blieben draußen."

      "Die mussten dann hungern?"

      "Das möcht' ich befürchten."

      "Ich habe auch Hunger", sagte Artur. "Wenn wir den Nepomuk kriegen, versohlen wir ihn und nehmen ihm Rucksack und Würste ab."

      "Du willst Lehrer werden?", spottete der Vater. "Mit Schlägen überzeugt man niemanden."

      Eugen hob einen strammen Ast auf und schwenkte ihn. "Den überzeugt keiner, darum muss er versohlt werden!"

      Walter Becker dachte halb ernst, halb belustigt: Hunger kann die besten Erziehungsabsichten zuschanden machen. Im Wirtshaus des nächsten Dorfes bestellte er drei Portionen Bratkartoffeln, das billigste Gericht des Schankwirts. Die Jungen bekamen gemeinsam ein Malzbier; und der Vater trank ein Helles. Nach der Mittagsrast hieß es rüstig weiterwandern. Nepomuks Wurstraub hatte ihnen Zeit genommen. Artur wurde um so einsilbiger, je schwerer ihm die Füße wurden. Es gab so viel zu denken. Der Vater hatte wieder mal ganz schön ausgepackt, nicht alles war da klar.

      Walter Becker wusste, dass es ihm nicht immer gelang, kindgerecht genug zu erklären. Doch meinte er, er könne nicht früh genug beginnen, die Söhne klassenbewusst zu erziehen. Auf jeden Fall blieb immer etwas hängen, seine Jungen waren nicht dumm. Stolz betrachtete er Artur, der mit zusammengepressten Lippen marschierte, ohne zu klagen.

      Es war schon dunkel, als sie zu Hause eintrafen. Die beiden Jungen wetteiferten darin, sich vor Mutter und Schwester mit ihren Abenteuern zu brüsten. Der Spott der Mutter über den gestohlenen Rucksack dämpfte ihren Eifer nicht, sie fanden, dafür wäre der Vater zuständig gewesen.

       Schönheit ist nicht immer edel

      Es war der aufregendste Sommer, an den sich Artur erinnern konnte. Obwohl nun große Ferien waren, kamen sie kaum noch zum Spielen. Nach dem Baden trieben sie sich stundenlang in der Stadt herum, die ausgewrungene Badehose über den Kopf gehängt. Das kühlte, und die Hose war trocken, ehe man nach Hause kam.

      Ende Juni war das erste Extrablatt erschienen, und das hatte er in Remscheid noch nicht erlebt. "Schüsse in Sarajewo!" - "Feiger Meuchelmord!" - schrien die Überschriften, und überall sprachen die Leute vom Krieg. Die einen siegessicher, die andern bedrückt. Obwohl Artur den Kaiser und sonstige erlauchte Personen nicht mochte, fand er es hässlich, den Herrn österreichischen Kaisernachfolger und seine Frau umzubringen, wo nun durch die Schießerei womöglich ein Krieg losging. Vater und Mutter strahlten gar nicht, wenn die Rede darauf kam, die gehörten zu den Bedenklichen. Also musste Krieg was Schlechtes sein. Obwohl - Lehrer Neblich sprach anders darüber. Krieg ist die große Gottesprüfung, sagte er. Was Gott schickt, ist recht, und der Krieg ist recht, und Deutschland wird ihn gewinnen, sagte Lehrer Neblich. Der Krieg ist die große Zeit des Neuwerdens; mit dem Flammenschwert wird alles Faule aus dem Volkskörper ausgebrannt. Krieg ist außerdem die große Zeit der Taten und der Helden. Zwar hatte Neblich einen Fimmel mit seinem frommen Kram, aber seine Religionsstunden waren interessant, auch die andern Stunden, man lernte was bei ihm. Natürlich kam er gegen Fräulein Marein nicht an, und Artur war fast untröstlich gewesen, als sie die Klasse abgeben musste. Warum dachte Neblich anders über den Krieg als die Eltern? Die sagten, alles würde noch schlimmer werden; Neblich dagegen sagte, es würde so schön wie nie. Arturs Gefühle waren aufseiten der Eltern, aber sein Verstand wehrte sich dagegen. Es konnte einfach nicht sein, dass der Fromme schwindelte. Und Neblich konnte sich auch nicht irren, er wusste mehr als Vater. Nicht über Arbeitersachen und dergleichen, aber sonst. War auch kein Kunststück, Neblich hatte studiert. Neblich hatte auch gesagt, eines der besten Worte, das je ein Deutscher gesprochen, sei: "Wir Deutschen fürchten Gott, sonst nichts auf der Welt." Der Bismarck hatte zwar das Sozialistengesetz gemacht, aber der Spruch war eigentlich mutig. Mut war richtig, also waren mutige Deutsche gut. Er, Artur, und alle Beckers waren Deutsche. Und wenn nun die Zeit der Helden kam, was war daran schlecht? Artur gefielen nun einmal Helden besser als Feiglinge. Helden hatten Deutschland groß gemacht, das stand in jedem Lesebuch. Vater sagte, das sei Schwindel, aber dass Deutschland nicht immer so mächtig war, das bestritt er nicht. Irgendwie musste es doch dazu gekommen sein, und weshalb nicht durch Helden und ihre Taten?

      Eine Weile kam kein Extrablatt mehr. Die Stadt wurde wieder wie sonst. Die Leute beruhigten sich, und die Bedrückten hofften, die schwarze Wolke Krieg werde noch einmal vorüberziehen. Dann kam das heiße Juliende, und nun wurde es toll. Fast jeden Tag ein Extrablatt. Zuerst: "Österreich-Ungarn erklärt Serbien den Krieg"; dann: "Mobilmachung in Russland"; dann: "Mobilmachung und Kriegserklärung Deutschlands an Russland"; dann: "Kriegserklärung Deutschlands an Frankreich"; dann: "Einmarsch in Belgien"; dann: "Krieg mit England." Der Sommerplatzregen von Weltereignissen wurde zum Wolkenbruch. Je mehr Feind, je mehr Ehr'; und immer feste druff, jubelten die von der Helden- und Tatenpartei.

      Man hätte tausend Augen und Ohren haben müssen. Aber klug wurde Artur aus alledem nicht, so aufmerksam er auch den Schwätzenden, Redenden, Rufenden aufs Maul schaute. Die