E.R. Greulich

... und nicht auf den Knien


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sieben bei Fräulein Marein. Artur fand die Lehrerin nicht so schön wie die Mutter, aber sie war sehr nett. Sie gab jedem die Hand und führte ihn auf seinen Platz. In der linken Bankreihe saßen die Mädchen, rechts die Jungen. Als alle da waren, winkten ihnen die Mütter noch einmal zu und gingen. Endlich, dachte Artur, es wurde höchste Zeit, dass es losgeht mit dem Lesenlernen. Er wurde enttäuscht. Fräulein Marein rief jeden auf und fragte, wie er heiße und wann er geboren sei.

      Nachdem sie sich so die Namen eingeprägt hatte, sagte sie: "Damit ihr die Schule lieb gewinnt, machen wir heute am ersten Tag ganz etwas Schönes: "Ich lese euch ein Märchen vor."

      "Au jaaa!" rief Artur.

      "Die Sieben Raben."

      "Och, das kenn' ich schon", protestierte er.

      Fräulein Marein blieb nachsichtig. "Wenn Artur das Märchen kennt, muss ich euch ein anderes aussuchen."

      "Wir wollen doch lesen lernen", erinnerte Artur.

      "Ich nicht", widersprach Kaspar Leutner, der Bruder von Karle, der Eugens Freund war und ein Aquarium besaß.

      "Dann bleibst du dumm", belehrte ihn Artur.

      "Wenn ihr was zu sagen habt, müsst ihr euch melden", ordnete Fräulein Marein an, "und morgen fangen wir dann an, Artur. Da lernt ihr gleich beides, lesen und schreiben." Als sie seine erschrockene Miene sah, machte sie es ihm schmackhaft. "Beides zusammen lernt sich besser, und wenn du erst alle Buchstaben kennst, kannst du dir sogar selbst ein Märchen ausdenken und aufschreiben. Das macht noch mehr Spaß, als nur Märchen lesen."

      Sehr zufrieden mit Lehrerin und Schule, ging Artur später in der Schar der anderen nach Hause. Bald würde es aus sein mit der Überlegenheit der Großen. Jetzt sollte ihm der Eugen nur kommen.

      Der kam auch, aber erst zwei Stunden später, maulend über die vielen Schularbeiten.

      Artur barst beinahe vor Neuigkeiten. "Wenn ich erst alle Buchstaben kann, schreibe ich Märchen."

      "So'n Zimt", sagte Eugen, "ist doch alles Spinn."

       Den Faulen helfen?

      Die Tür der sechsten Klasse öffnete sich, der Pausenlärm verstummte. Fräulein Marein ging zum Katheder. Während sie den Stoß Rechenhefte mit den korrigierten Hausaufgaben ablegte, sah sie prüfend in die Kindergesichter.

      Wortlos begann Fräulein Marein die Hefte zu verteilen, doch eine ganze Anzahl blieb auf dem Katheder liegen. Deren Besitzer ließ sie dann nach vorn kommen. Als das gute Dutzend Mädchen und Jungen vor ihr stand, fragte sie: "Artur Becker, fällt dir an dieser Gruppe etwas auf?"

      Artur erhob sich und schaute zu Boden.

      Fräulein Marein forschte weiter:

      "Kaspar Leutner, weißt du, warum ich dich und die anderen nach vorn geholt habe?"

      Dem sommersprossigen Kaspar stand die Schuld auf die Stirn geschrieben, trotzdem tat er dumm mit aufgerissenen Augen und hob die Schultern.

      "Erika Borbach, du weißt es sicher."

      Erika, eine Enkeltochter des alten Borbach, senkte den Kopf, ihre kurzen Zöpfe mit den schmalen Haarschleifen standen in die Luft wie die Hörner eines störrischen Böckleins.

      "Diese Mitschüler stehen vor euch als abschreckende Beispiele", wandte sich Fräulein Marein an die Klasse, "denn wie kann man einem vertrauen, der dumm ist aus Faulheit? Die dreizehn hier sind faul. Sie denken, mich zu betrügen, dabei betrügen sie sich, wenn sie von Artur abschreiben. Er hat einen Fehler gemacht, sie haben alle haargenau den gleichen. Daran habe ich's gemerkt. Hast du sie abschreiben lassen, Artur?"

      "Ja", sagte Artur leise.

      "Und du meinst, du hilfst ihnen damit?"

      Artur sah die Lehrerin nicht an; sagte halb trotzig, halb schuldbewusst: "Mir fällt's doch leichter."

      "Fällt es dir auch leicht, mich zu hintergehen?"

      Artur war bestürzt. Sie hat ja recht, fand er, aber darüber habe ich nicht nachgedacht.

      Fräulein Marein wandte sich an die Gruppe der Sünder: "Setzt euch. Solltet ihr weiter so dumm sein zu glauben, man besitze, was man nicht erarbeitet hat, dann müsste ich mit euren Eltern sprechen."

      Die Ermahnten waren beschämt. Durch besonderen Eifer wollten sie die Schande wettmachen. Auch Artur versuchte es, doch es gelang ihm nicht. In seinem Kopf wimmelten zu viel Gedanken. Die Lehrerin spürte es. Um ihm Zeit zu lassen, bezog sie ihn kaum in den Unterricht ein.

      Sie mag mich nicht mehr, fürchtete er. Sie hatte damals Wort gehalten, ihm Schreiben und Lesen beigebracht. Sie hatte das sogar beim Kaspar versucht, der weder das eine noch das andere hatte lernen wollen. Und wenn es Schüler gab, die noch nicht richtig lesen und schreiben konnten, war es wirklich nicht ihre Schuld. Nie hatte er daran gedacht, dass er die Freundschaft der Lehrerin verlieren könnte. Jetzt sah es so aus, und es war das erste richtige Unglück in seiner bisherigen Schulzeit.

      Als endlich, endlich an diesem Tag die Schule aus war, trottete Artur grübelnd seines Wegs inmitten der krakeelenden Klassenkameraden. Dass die es so leichtnehmen konnten. Ja, er war der Hauptschuldige, er hatte fast die halbe Klasse abschreiben lassen. Aber nicht er war faul gewesen, sondern die Abschreiber. Gewiss war es den meisten kalt den Rücken hinabgelaufen bei der Verwarnung durch Fräulein Marein. Doch sie hatten es wieder abgeschüttelt wie junge Hunde das Wasser. Das Schlimmste auf der Welt war doch Dummsein. Alle hänselten sie die Dummen, niemand nahm sie ernst, jeder machte mit ihnen, was er wollte. Das hatte ihm der Vater immer wieder gesagt, und in zwei Jahren Schule hatte er es selbst oft genug erlebt.

      Erika löste sich aus dem Schwarm der Mädchen und ging eine Weile still neben Artur her. Er tat als merke er es nicht, doch es gefiel ihm. Erika wartete darauf, dass er das erste Wort spreche.

      Aber Artur war zu beschäftigt mit seinem Kummer. Es genügte ihm, hoffen zu dürfen, dass ein Mitschuldiger ihn verstand.

      Endlich stieß sie hervor: "Fräulein Marein immer mit ihren - ihren Reden. Mach dir nichts draus."

      "Ach du", sagte Artur enttäuscht.

      Erika blieb beleidigt stehen. "Die - die hat vielleicht mehr abgeschrieben als wir, wo sie noch in die Schule ging."

      In Artur stieg Zorn hoch. "Du bist ... Das ist gemein! Fräulein Marein hat bestimmt nie abgeschrieben."

      "Woher weißt du 'n das so genau?" Erikas Stimme war spitz. "Alles wird sie dir auch nicht auf die Nase binden."

      "Sie hat es gar nicht nötig gehabt abzuschreiben."

      "Die war ebenso schlau wie du, was?"

      Brüsk wandte sich Artur von ihr ab und trabte in eine Nebenstraße hinein. Bei der nächsten Gehässigkeit hätte er sie ohrfeigen müssen.

      Über übliche Jungenraufereien sah Vater nachsichtig hinweg, aber Mädchen zu schlagen hielt er für schäbig. Überhaupt vergreife man sich nicht an Schwächeren, war einer seiner Grundsätze.

      Wie eine Last warf Artur die Schulmappe von dem einen Arm in den anderen. Die Riemen waren angeblich kaputtgegangen, in Wahrheit abgeschnitten worden. Nach so langer Schulzeit trug man den Ranzen nicht mehr brav auf dem Rücken. Es baumelte auch kein Schwamm mehr heraus. Schließlich schrieb man nicht mehr auf der Schiefertafel. Die wartete schon darauf, von der Schwester Hedwig benutzt zu werden.

      Bedrückt schlurfte Artur heute in die Wohnung. "Hast wohl einen Tadel bekommen?", fragte die Mutter halb scherzend. Der für seine Kümmernis viel zu leichte Ton ließ Artur nur verschlossen den Kopf schütteln. Mutter war die beste Frau der Welt, aber sie hatte immer zu schnell Redensarten zur Hand wie die Heilzwiebel, wenn er mit Schrunden oder Wunden vom Spiel kam. Mutter wusch, buk, kochte - nicht selten sein Lieblingsessen Makkaroni -, sie hielt die Wohnung blitzblank und half zuverdienen als Wasch- oder Putzfrau. Wahrscheinlich würde Mutter das alles gar nicht schaffen, wenn sie die Dinge wie Vater stets im Kopf um und um wenden würde. Deshalb nahm