E.R. Greulich

... und nicht auf den Knien


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vergessen." Mit dieser Zauberformel verscheuchte sie Kinderbetrübnis. Doch es gab Dinge, die man nie vergaß. Über die musste man mit Vater reden.

      Artur war es gewohnt, den Vater nur sonntags am Tage zu sehen, sonst des Abends. Manchmal wurde er enttäuscht. Er schlief schon, wenn Vater von einer Gewerkschaftsversammlung kam oder vom Zahlabend des sozialdemokratischen Wahlvereins. Um so mehr freute sich Artur auf die Sonntage.

      An diesem Abend wartete Artur besonders erregt. Trotzdem geduldete er sich, bis der Vater nach dem gemeinsamen Abendbrot zur Zeitung gegriffen, eine Weile gelesen hatte und nun kurz vor dem Einnicken war. Jetzt ging Artur zu ihm, nahm des Vaters Arm und legte seine Wange dagegen. Walter Becker schreckte ein wenig verlegen hoch und fuhr seinem Zweiten über den Schopf. "Was gibt's?"

      "Du, Papa, als du noch - wie du erst so groß warst wie ich, wollten sie da auch immer-von dir abschreiben?"

      Der Vater schüttelte den Schlaf ab und fragte ein wenig verwundert: "Wieso? - Wahrscheinlich. – Die Faulen werden ja nicht alle."

      "Und du hast sie nicht abschreiben lassen?"

      Der Vater wurde hellhörig. "Erzähl mal der Reihe nach: Was war los?"

      Artur berichtete, dann sah er den Vater erwartungsvoll an. Der strich sich nachdenklich die stopplige Wange. "Bei uns war mal so was Ähnliches. Da hat's Dresche gegeben, immer von oben runter. Fräulein Marein macht's besser."

      "Auch wenn sie nicht mehr mit mir spricht?"

      Der Vater verkniff sich ein Schmunzeln. "Bist doch der Hauptangeklagte."

      "Wenn sie nichts mehr von mir wissen will, gehe ich nicht mehr in die Schule."

      "Na, na."

      "Aber Kaspar und Bruno kamen nicht mit und die Mutze auch nicht. Die ist immer so käsig und müde, weil sie helfen muss Zeitungen austragen. Das weiß doch Fräulein Marein auch. Manchmal gibt sie ihr Frühstücksbrot der Mutze."

      "Und der dicke Alois, der Bäckerjunge, der Mutze gut und gern jeden Tag 'ne Schrippe zustecken könnte? Warum hast du das verwöhnte Muttersöhnchen auch abschreiben lassen?"

      "Der hat gesagt, alle haben das gleiche Recht. Wenn ich Mutze und Kaspar abschreiben lasse, muss ich den anderen auch das Heft geben."

      Walter Becker lachte zornig. "Der hat das Zeug zum Großkapitalisten. Was ihm in den Kram passt, nennt er Gerechtigkeit. Damit hast du dich hereinlegen lassen."

      "Das letzte Mal", schwor Artur. "Jetzt kriegen bloß noch Mutze und Kaspar mein ..."

      "Abschreiben gibt's nicht mehr, für keinen." Vater sagte es so entschlossen, dass Artur erschrocken in das fahle Gesicht mit den feinen Furchen und dem struppigen Schnurrbart blickte.

      "Mutze bleibt diesmal bestimmt sitzen, wenn ich ihr nicht helfe", prophezeite Artur.

      "Abschreiben lassen ist auch für Mutze keine Hilfe", beharrte der Vater. Als er die verzweifelte Miene Arturs sah, suchte er nach einem guten Beispiel. Beim Nachdenken rieb er sich die behaarte Brust unter dem verwaschenen Leinen des Feierabendhemds. "Pass Obacht. Neben mir stellen sie einen jungen Kollegen hin, der in seinen vier Jahren Lehrzeit mehr Botenjunge als Feilenhauerlehrling war. Er kommt und kommt nicht auf seinen Akkord. Soll ich nun seine Arbeit mitmachen?"

      Artur hob mal die eine, mal die andere Schulter. Dann sagte-er vorsichtig; "Da würdest du doch weniger verdienen."

      Der Vater verstopfte ihm das Schlupfloch. "Das auch. Aber darum geht es nicht. Wie kann ich dem Kollegen wirklich helfen? Überlege mal!"

      Arturs Jungenhirn dachte an vieles. Dem Vater dauerte es zu lange. Deshalb fuhr er fort: "Da guckt man, was er falsch macht, und zeigt ihm, wie's richtig gemacht wird. So lange, bis er's kapiert. Und wenn er was von Dank brabbelt, gibt man ihm 'nen Aufnahmeschein für die Gewerkschaft. Hier, mein Junge, danke es der, die hat uns zum gegenseitigen Helfen erzogen."

      Artur betrommelte begeistert den eisenharten Arm des Vaters. "Wenn ich erst Feilenhauer bin, mach' ich's auch so."

      "Das will ich hoffen. Aber du bist es noch nicht. Und was machst du nun mit Kaspar und Mutze?"

      Vor Schreck fuhr sich Artur mit dem Zeigefinger in die Nase. Eben hatte er sich als großmütiger Feilenhauer einen neuen Kampfgenossen werben sehen, nun riss ihn der Vater in die wenig heldische Wirklichkeit zurück. Rasch fasste er sich. "Ich muss ihnen helfen."

      "Wie?" Unverbindliche schöne Worte zählten bei Walter Becker nicht.

      "Ich ... ich ... ", Arturs Nase geriet wieder in Gefahr, sodass ihm der Vater die Hand herabzog. "... ich sage, was sie falsch machen, und dann können sie das Richtige hinschreiben."

      "Ist genauso mies wie Abschreiben. Oder freut sich Fräulein Marein, wenn ihr vorsagt?"

      "Naiiin. Vorgestern hat sie erst mit Alois geschimpft, weil er Kaspar falsch vorgesagt hat, und der hat so 'n Quatsch erzählt, dass wir uns halb totgelacht haben."

      "Schweife nicht ab. Auch wenn ihr richtig vorsagt, will sie es nicht. Also?"

      Artur war ratlos. Da war ja Feilen hauen leichter als Schule. Das konnte man zeigen, so und so und so.

      Der Vater wurde ungeduldig. "Kann Kaspar schon das kleine Einmaleins?"

      "Höchstens bis fünf", erklärte Artur geringschätzig.

      "Wirst du also mit ihm pauken, bis er's kann. Und so bei allen andern Sachen, erklären und pauken, erklären, bis es sitzt."

      "Und wenn er nicht will?"

      "Wenn du ihn nicht mehr abschreiben lässt? Wenn er erst merkt, dass er nicht mehr der Letzte ist, nicht sitzen bleibt, wird er schon Geschmack daran kriegen. Wirst doch nicht sagen, du willst mit ihm pauken. Sagst, ihr wollt zusammen bei uns Schularbeiten machen."

      "Zur Mutze auch?"

      "Zu allen, die schwach sind."

      "Wenn nun Alois auch mitmachen will?"

      Jetzt war es an dem Vater, angestrengt zu überlegen. Einerseits war der Bäcker Bemmler nur ein kleiner Pinscher, der von jeder Verschlechterung der Lebenslage seiner Kunden mitbetroffen wurde, vor Krisenzeiten ebenso bangte wie die Arbeiter, andererseits sah Bemmler als Vorstandsmitglied des Kriegervereins hochmütig auf die Arbeiter herab und züchtete in seinem einzigen Spross die gleiche Überheblichkeit.

      Artur betrachtete den Vater ungeduldig. Der kraulte nun schon reichlich lange sein mit feinen Silberfäden durchsetztes störriges Haar. Endlich fand er einen Ausweg, "Der Alois ist nicht dämlich, aber faul und gerissen. Sagst ihm einfach, er kann mitmachen, wenn er zusammen mit den Schwachen übt."

      "Mit einmal sagt der ja."

      Der Vater lachte, dass sein Schnurrbart wackelte. "Was Besseres könnte uns gar nicht passieren. Da tut er das erste Mal was Nützliches. - Und jetzt - in die Falle."

       Siege erträumen ist leicht

      Beim Gespräch mit dem Vater schien alles kinderleicht. Die Freundschaft Fräulein Mareins würde Artur sich wieder erwerben, wenn er alles so machte wie besprochen. Aber nun mach mal einer. Die Worte der Lehrerin wirkten nach, es bat keiner, abschreiben zu dürfen. Wenn er nun die Mutze oder den Kaspar einlud, würden die bestimmt Lunte riechen. In nicht viel besserer Stimmung als am Vortage trottete Artur von der Schule nach Hause. Beim Mittagessen neckte ihn die Mutter mit ihren hingeworfenen Bemerkungen, und das hob Arturs Laune keineswegs. Verbissen machte er sich an die Schularbeiten. Die Grübeleien dabei starten ihn wie lästige Fliegen. Als er fertig war, nahm er ein Buch und verkroch sich in der Kammer.

      "Die Flusspiraten des Mississippi" ließen ihn seinen Weltschmerz vergessen. Das war eine Welt! Da gab es keine beleidigten Lehrerinnen, keine dummen Mitschüler. Artur kämpfte mit bösem Getier und noch böseren Menschen, er fand die guten, und er litt mit ihnen. Seine Wangen röteten sich, seine Augen glänzten.

      Schwester Hedwig kam in die Kammer. Überrascht sah sie den lesenden Bruder,