E.R. Greulich

... und nicht auf den Knien


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Artur eifrig.

      "Ganz recht, kleiner Bruder, wegen meines Blaukollers. Knechte in Uniform muss man totschlagen. So ihr mir aber helft, werde ich nicht zum Mörder." Der Landstreicher zog Socken aus seiner Hosentasche, streifte sie über die Füße und fuhr in die Schuhe. "Wer Schusters Rappen schont, reitet sie länger", dozierte er beim Zuschnüren.

      "Willst das Dorf abklopfen?", erkundigte sich Walter Becker.

      "Nicht ich", der Kunde wies auf seinen Magen, "aber der zwingt mich. Der gute Kaiser meint zwar, wer kein Brot hat, solle Kuchen essen, jedoch regnet's zu selten Kuchen."

      Walter Becker lachte, und Eugen sagte: "Das haben wir auch schon bedauert."

      Der Kunde holte ein "Schmiesken", ein Einknöpfchemisette, aus der Brusttasche und hing es vermittels eines Gummibands vor die haarige Brust. Dann neigte er leicht den Kopf zu den drei Beckers hin und stellte sich vor: "Nepomuk, jetzt wieder Vogel - Nepomuk Vogel." Er musterte sich im Taschenspiegel. "Arm, aber anständig, wie? Die Unanständigen atzen nur den, der da anständig aussieht." Während er die Verschönerungsutensilien verstaute, schlug er vor: "Wenn es recht ist, Brüder, geht nun, und im Blaufall schickt euer Herzblatt zurück. An mich halten will ich dann schon selbst."

      Lachend wanderten die Drei los. Nach einer Weile schüttelte Walter Becker den Kopf. "Das ist 'n Kauz."

      "Er ist - ist er jeck?", fragte Artur.

      "Der? Das ist 'n Fuchs", sagte der Vater.

      "Hast du alles' verstanden, was er gemeint hat?" wollte Artur wissen.

      "Mit seinen Narrheiten macht er sich gefällig. Schade um solch Köpfchen."

      "Ob er schon so lange unterwegs ist wie du damals auf Wanderschaft?", fragte Eugen.

      "Er sieht mir ganz nach dem ewigen Tippelbruder aus. Zu oft hat man ihm keine Arbeit gegeben, und nun mag er nicht mehr."

      Artur schaute sich um und sah, dass Nepomuk in einiger Entfernung folgte. "Dann sagen wir ihm Bescheid, wenn ..."?

      "Wenn ein Blauer auftauchen sollte, selbstverständlich."

      Das Dorf lag in sonntäglicher Stille. Links der Dorfstraße wurden die Gehöfte von einem Hang begrenzt, rechts von jenem Fließ. Vom Dorfausgang sahen die Beckers, dass Nepomuk eben das erste Gehöft betrat. Ziemlich schnell erschien er wieder und verschwand auf dem Bauernhof gegenüber. Auch dort war seines Bleibens nicht lange, seine Gesten drückten Missfallen aus, doch unbeirrt schlüpfte er auf den nächsten Hof. Dort dauerte es etwas länger, an der nächsten Hoftür rüttelte er vergeblich und wandte sich der folgenden zu.

      Artur schüttelte sich. "Könnte ich nicht - so von Tür zu Tür betteln."

      "Ein empfindsames Herz musst du auf Walze zu Hause lassen", sagte der Vater, "sonst verhungerst du."

      "Die Organisierten werden doch von ihrer Gewerkschaft unterstützt", bemerkte Eugen altklug.

      Der Vater korrigierte ihn. "Wenn was in der Kasse ist, aber das ist selten der Fall. Am besten werden die Buchdrucker auf der Wanderschaft unterstützt. Ihr Verband zahlt feste Sätze."

      "Die Buchdrucker können viel lesen", schwärmte Artur, "sie brauchen sich die Bücher nicht zu kaufen." Der Vater lächelte über die vereinfachende Art des Neunjährigen. "Mehr als unsereins kriegen sie schon zu lesen. Darauf tun sich die Meisten auch was zugute. Elite der Arbeiterschaft nennen sie sich gern. Weil manche von ihnen die Nase so hoch tragen, mit Schlips und Kragen arbeiten, nennen wir sie Stehkragenproleten."

      Eugen spottete: "Jetzt hat's der Chemisettprolet bald geschafft."

      Nepomuk näherte sich den letzten Häusern, und sie meinten, nun könnten sie ein Stück voraus auf ihn warten.

      Am Teich, rechts des Weges, zupften Gänse Ufergras, das samten war wie kurz geschorener Rasen. Mutterenten ruderten vor ihrer Flottille junger Entlein her, Enteriche gründelten, friedsames Quaken war in der Luft. Über dem Wiesenhang links stand ein Tannendickicht, ein Quell sprudelte dort. Hier machten sie Rast und ließen den Blick über Fließ, Dorf und Teich schweifen. Genüsslich aufseufzend warf Walter Becker den Rucksack ab und streckte sich ins Gras des Gehölzrands. Die Jungen nahmen bemooste Steine zum Sitz. Artur erzählte dem Vater, wie der schöne Plan beinahe ins Wasser gefallen wäre, wenn Eugen nicht geholfen hätte. Kaspar habe nach dem ersten Lob Mut gefasst und komme jeden Tag, die andern drei, vier ab und zu. Leider habe sich der dicke Alois bis jetzt noch nicht sehen lassen. Fräulein Marein habe ihn, Artur, gelobt und gefragt, ob er später einmal Lehrer werden wolle.

      Walter Becker sah den wechselnden Gebilden der ziehenden Wolken nach und sagte mit leiser Bitterkeit: "Wir sind schon zufrieden, wenn ihr beide überhaupt einen Beruf erlernt. Was hast du ihr geantwortet?"

      "Dazu sind wir zu arm, Fräulein Marein."

      "Ach, Bengel", Walter Becker begeisterte sich an einem Wunschtraum vieler seiner Genossen, "wenn nur viele Proletenkinder Lehrer werden könnten. Die meisten Pauker sind doch so mies, weil sie nicht wissen, wie es in einem Arbeiterkind aussieht."

      "Fräulein Marein sagte, ihre Eltern waren auch Arbeiter. Aber bessergestellte Verwandte haben geholfen, und es ist trotzdem schwer gewesen."

      "Deshalb ist sie auch eine Ausnahme. Darfst ihr nie Ärger machen."

      "Bei Lehrer Neblich lernen sie auch gut", berichtete Artur, "er ist streng, aber dreschen tut er nie."

      "Der hat's mit dem lieben Gott", spottete Eugen. "Wer seinen ganzen Quatsch glaubt, kommt überhaupt nicht raus aus der Hölle."

      "Pass Obacht", sagte der Vater und starrte in die Richtung des Dorfes. Nepomuk war eben vom Bretterzaun des letzten Gehöfts herabgesprungen und rannte über die Wiese dem Weg zu. Hinter dem Zaun tauchte eine Frau auf und drohte dem Fliehenden schimpfend nach. Nepomuk wandte sich um und warf ihr Kusshände zu. Dann lief er fürbass, als wäre nichts geschehen. Die Dorfstraße war jetzt belebt, Glockengeläute hallte herüber.

      Nepomuk hatte die drei Beckers entdeckt und tänzelte erfreut auf sie zu. "Komisches Weib", räsonierte er, "einen Menschenbruder zu schelten, anstatt die Würste." Aus den Taschen seines Jacketts förderte Nepomuk je einen Ring Blut- und Leberwurst zutage. "Sie wollten durchaus zu mir. Und ich weiß, wie weh es tut, wird einem ein Wunsch abgeschlagen."

      Walter Becker stand auf und klopfte sich die Tannennadeln von der Jacke. "Wir wandern jetzt weiter und möchten dich nicht mehr treffen, Nepomuk. Gegen die Blauen haben wir gern für dich aufgepasst, aber nicht Schmiere gestanden für deine Mauserei."

      "Wer die Satten verteidigt, schlägt die Hungrigen", murmelte Nepomuk.

      "Ich weiß, was Hunger ist. Aber mit Diebstahl hilft man denen, die den Hunger erzeugen. - Sieh mal, wer dort kommt, Nepomuk!"

      Im Laufschritt näherten sich vom Dorf her die bestohlene Bäuerin, ein dicker Bauer und ein Gendarm. Die Frau entdeckte die Vier am Gehölzrand und schrie von Weitem: "Da ist der Lump - mit seiner Räuberbande!"

      "Jetzt ist's an der Zeit, dass ich weiche", meinte Nepomuk. "Servus, Brüder!" Wie ein Schatten huschte er ins Dickicht. Die drei Beckers starrten den Anstürmenden entgegen, die sich gegenseitig überbrüllten: "Haltet ihn, haltet ihn!"

      Die Bäuerin, eine gut gewachsene Frau in den besten Jahren, stemmte die Hände in die Hüften, als sie herangekommen war. "Der Hauptmacher ist weg, aber seine Kumpane werden's büßen. Lemke, nehmen Sie die fest!"

      Walter Becker blieb ruhig. "Sie sind zu aufgeregt, liebe Frau. Dürfte ich auch mal was sagen?"

      "Ich bin nicht Ihre liebe Frau", keifte sie, "und reden können Sie im Spritzenhaus."

      "Kommen Sie herunter von der Wiese", schnauzte der Gendarm, um seine Autorität zu beweisen.

      "Der Rucksack ist weg, Papa!", rief Artur erschrocken.

      Ungläubig suchend schaute sich Walter Becker um. Dann hob er bedauernd die Schultern. "Hat er also auch mitgenommen. Damit ist Ihr Irrtum von der Räuberbande widerlegt", wandte er sich an die Bäuerin.

      "Warum