E.R. Greulich

... und nicht auf den Knien


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wo ihnen der "Retter" Hindenburg mit seinem "Wunder von Tannenberg" geschenkt ward.

      Nach einer unerfreulich langen Pause wurde dann Anfang Dezember 1914 die Stadt und Festung Lodz erobert. Die ganze Schule freute sich auf einige Stunden staatsoffiziellen Schwänzens. Aber Neblich hatte an das Jahrespensum erinnert, an die Überlastung der verbliebenen Lehrer; denn die im besten Alter waren "zu des Kaisers Fahnen gerufen" worden. Nicht wenig Schüler fanden das vorteilhaft, Neblichs Pflichtstrenge dagegen unbequem. Sie schworen ihm Revanche. In seiner eigenen Klasse braute sich etwas zusammen. Kopf der Verschwörer war Alois, der durch Elternhaus und Erziehung eigentlich unbeirrbarer Parteigänger Neblichs hätte sein müssen. Aber der Hohn, den Neblich dem faulen Dicken des Öfteren zufügte, trieb den zuweilen auf die andere Seite der Barrikade.

      Artur beurteilte den Lehrer gerechter; in einer Art abwartender Hochachtung. Stirnrunzelnd beobachtete Neblich, dass Artur seine Leistungen etwas drosselte, um nicht Klassenerster zu werden. Was Fräulein Marein fremd gewesen war, bei Neblich wurde der Klassenerste Aufpasser, der in den Pausen an die Tafel schreiben musste, wer sich laut und ungesittet betragen hatte. Das war nichts für Walter Beckers Sohn. Gern überließ er den Angeberposten einem Willigeren, meist war es Reggi.

      Auf die Enttäuschung über die ausgefallene Siegesfeier kam Kaspar in geheimer Mission zu Artur. Alois schicke ihn. Ob Artur mitmache, bis auf Reggi seien schon alle Jungen der Klasse dabei. Wobei? wollte Artur wissen. Das wisse er selber nicht, erklärte Kaspar, aber sie scheinen ein dolles Ding vorzuhaben. Heute Nachmittag Beratung in Bemmlers Schuppen auf dem Hof hinter der Bäckerei. Artur überlegte, und seine Neugier siegte. Er sagte zu.

      Kaspar kam nach dem Mittagessen. Sie machten Schularbeiten, dann wurde es Zeit loszutraben. Es hatte geschneit, der Schnee war liegen geblieben. Jede Schlitterbahn auf ihrem Weg probierten sie aus.

      In der 'Nähe der Bemmlerschen Bäckerei erwartete sie Bruno als Posten. "Wo bleibt ihr denn, alle andern sind schon da", schnauzte er die beiden an. Erst auf ein bestimmtes Klopfzeichen wurde ihnen die Tür zum Schuppen geöffnet. Ihre Augen mussten sich an ein geheimnisvolles Halbdunkel gewöhnen. Über einen wurmstichigen Tisch war eine zerschlissene Decke gebreitet. Die flackernde Kerze in einem Flaschenhals kleckerte ihr Wachs auf den Samt. In einer zweiten Flasche steckte ein Tischbanner aus Pappe mit einem schwarzen Totenkopf und gekreuzten Knochen darunter. Die Geheimbündler hockten auf wackligen Stühlen und zerfaserten Sesseln. Artur sah, dass höchstens zwei Drittel der Jungen aus der Klasse gekommen waren. Alois schlug dreimal mit einem verrosteten Rapier auf den Tisch, dass der Staub aus dem Samt qualmte. "Gefährten! Da nun alle da sind, lasst uns beim Säbel unsres Bundes schwören, dass wir schweigen werden wie das Grab." Sie mussten den rostzerfressenen Stahl berühren und im Chor beteuern: "Wir schwören!" Wieder drosch Alois Staub aus dem Mottenfraß und fuhr in der feierlichen Prozedur fort: "Truchsess, verlese den Plan."

      Ernst Heimerdinger, des Dicken bester Freund, erhob sich und las aus einem Schulheft vor: "Vorhut, Gruppe A sichert den Weg, hängt Gartentür aus; Hauptmacht, Gruppe B, dringt zum Fenster vor, wirft Stein an Leine über Fahnenstange, entert sie; Nachhut, Gruppe C, sichert nach rückwärts, deckt Abmarsch."

      Artur musste grinsen; zum Glück sah es niemand beim ungewissen Kerzenschein. Es war genau die Art kopiert, in der Neblich bei seinen Kriegserzählungen die Situation zu erläutern pflegte.

      "Wir schreiten zur Aufteilung der Gruppen", verkündete Alois.

      Artur trat zum Tisch. "Kann ich mal was fragen?"

      Alois sah ihn nur ungehalten an, und so fragte Artur ohne Erlaubnis: "Ihr wollt die Fahne von Neblich klauen?"

      "Plan wird ausgeführt, Fragen gibt's nicht", erklärte Alois, wiederum die Erzählweise Neblichs kopierend.

      "Meinetwegen", sagte Artur, "dann kann ich ja gehen."

      "Du hast geschworen", fauchte Alois.

      "Dass ich nicht quatschen werde. Aber das mit der Fahne ist doof."

      Aus dem zustimmenden Gemurmel merkte Alois, dass Artur nicht wenige Anhänger hatte. "Scher dich zum Teufel", fauchte Alois, "und die andern Feiglinge können gleich mitgehen!"

      "Adjes", sagte Artur spöttisch und wandte sich zur Tür. Über die Hälfte des Geheimbunds nutzte die Gelegenheit, ebenfalls in die Unschuld zu flüchten.

      "Es heißt auf Wiedersehn, du Französling." Alois huldigte der Manie jener Tage, jedes als fremdländisch verdächtige Wort auszumerzen.

      "Heute nicht mehr", parierte Artur, riss den Riegel zur Seite und trat hinaus in die frische Winterluft.

      "Wenn einer plaudert, schlagen wir ihn zu Puppenlappen!" kam die Stimme des Dicken aus dem Geheimbund-Dämmern, dann knallte die Tür zu.

      Betreten umstand die Schar Artur, erwartungsvoll sahen sie ihn an. Ihm fiel nichts Besseres ein als die Aufforderung: "Los, zum Teich!"

      Mit den Pantinen klappernd rannten sie zu jenem Tümpel, aus dem sich Karle Leutner im Sommer mit Salamandern versorgte. Die primitive Umzäunung des Teiches hinderte weder im Sommer noch im Winter die Jugend Reinshagens sich ihre Freuden dort zu suchen. Als Arturs Trupp ankam, herrschte reges Treiben auf dem Eis. Viele liefen Schlittschuh, andere schlitterten. Dem Übermut der dem Geheimbund Entronnenen waren die vorhandenen Schlitterbahnen nicht lang genug. Sie eröffneten eine neue über die ganze Länge des Eises. Man musste mächtigen Anlauf nehmen, um es bis zum andern Ufer zu schaffen. Wer die ganze Bahn, noch dazu in hockender Stellung bewältigte, wurde mit einem bewundernden 'Ah' der Mädchen belohnt. Artur und Kaspar glitten Hand in Hand bis zum andern Ufer. Solcher Ruhm ließ Bruno nicht ruhen, und er absolvierte die halbe Strecke auf dem Allerwertesten. Auch rückwärts zu schlittern war neu, noch origineller allerdings, lang auf dem Bauch liegend. Schließlich erschöpften sich einmal alle Variationen, und die Helden des Tages fanden ihr Pulver verschossen. Doch Kaspars Ruhmsucht war noch keinesfalls gesättigt. Erntete er im Unterricht nie Beifall, hier auf dem Eis wollte er ihn bis zur Neige kosten. "Machen wir Sumpfeis!" rief er. Ein Schrei der Mädchen antwortete, halb erschrocken, halb sensationsgierig. Das entschied über die Zustimmung der abtrünnigen Geheimbündler. Sie bildeten einen Knäuel, sprangen und stampften, bis das Eis in unzähligen Sprüngen barst. Nun fassten sie sich unter und liefen in einer Kette über die bearbeitete Fläche. Wie gewünscht reagierte das Eis, bildete unter der Last ein Tal, um sich hinter ihr wieder zu heben. Schneller mussten sie laufen, das Tal wurde tiefer. Mehrere mahnten, es nun genug sein zu lassen, sie würden sonst einbrechen. Aber Kaspar lechzte nach mehr Applaus. Er ging weit zurück aufs hart gefrorene Land, um einen langen Anlauf zu haben. Laut warnten die Freunde; still, mit leicht geöffneten Mündern, starrten die Mädchen. Nur Erika Borbachs helle Stimme schloss sich dem Protest der Jungen an: "Wenn du einbrichst, Kaspar, musst du ertrinken!" Genau das fehlte ihm. Endlich mal hatte jemand seinetwegen Angst. Kaspar band die Schnüre um den Spann fester, mit denen sie ihre Pantinen für den Eistanz befestigt hatten. Dann rannte er los. Großartig, dieses Senken und Beben des Eises. In der Mitte der zerstampften Fläche brach Kaspar ein. Sein Gesicht spiegelte Entsetzen. Schnell sank er, das Wasser stand ihm bis zum Hals. Erikas Befürchtungen waren übertrieben gewesen. Tiefer als eine Kasparlänge war der Teich nicht. Die Hände der älteren' streckten sich dem Erschrockenen entgegen, zerrten ihn aufs Trockene, während die Kleinen schreiend davonrannten.

      Artur und Bruno drehten Kaspars Jacke wie einen Strick zusammen, sprudelnd entäußerte sie sich des eingesaugten Wassers. Andere taten es ähnlich mit Kaspars Sweater und Strümpfen. Unter Zähneklappern betonte Kaspar, wie verdammt lustig das alles sei.

      "Hopsen, hopsen - feste bewegen", mahnte Erika, "und dann rasch nach Hause."

      "Kommt nicht infrage", protestierte Kaspar, "erst muss alles trocken sein."

      "Schandeckels", ertönte der Alarmruf. Über den Hügel kamen zwei Blaue auf den Tümpel zu. In entgegengesetzter Richtung sausten die Kinder davon. Kaspar vorneweg im Hemd.

      Nach Luft schnappend blieben die Jungen hinter der alten Feldscheune stehen. Endlich konnte Kaspar das nasse Hemd abstreifen. Zwei zwirbelten es, dass es in den mürben Nähten krachte, während Artur des Freundes blau gefrorene Haut mit den Fäusten rubbelte. "Rasch alles an, und dann auf'm Umweg nach Hause",