E.R. Greulich

... und nicht auf den Knien


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die Gäste schieden, wurde Grundewski pathetisch: Er legte Walter Becker seine Hand auf die Schulter: "Dein kleiner Artur soll mal 'n großer Mann werden! Im Sozialismus brauchen wir sie."

       Fräulein Marein besiegt den gelben Neid

      "Und wenn er nicht wieder heruntergefallen ist, so wird er wohl noch oben in der Luft herumschweben", schloss Eugen und klappte das Märchenbuch zu.

      "Noch eins", bat Artur.

      Der Ältere bekam Stirnfalten und eine zornige Unterlippe. "Ich hab' gesagt eins, und nun geh' ich."

      "Da komm' ich mit."

      "Wehe!", drohte Eugen. "Wenn ich dir ein Märchen vorlese, kann ich allein gehen, hast du gesagt."

      "Du hast das Kürzeste rausgesucht."

      "Pah, 'Dreschflegel vom Himmel' ist viel kürzer als 'Der Riese und der Schneider'."

      "Du hast aber die Stelle weggelassen, wo der Riese sagt: ... Geh, kleiner Halunke, und hole mir einen Krug Wasser."

      "Kannst sie auswendig, aber ich soll sie dir vorlesen."

      "'Fitchers Vogel' kann ich nicht auswendig. Liest du's vor?"

      "Nein!" Eugen schlug mit der Faust auf den Deckel des Märchenbuchs.

      "Dann komm' ich mit."

      "Du bleibst hier. Knirpse können wir heute nicht brauchen." Eugen war schon aus der Küche, nacheinander knallten zwei Türen. Allein saß Artur und war beleidigt. Da lag das Märchenbuch. Der bunte Einband lockte und die Kränkung war vergessen. Die Prinzessin mit dem goldenen Haar war schöner als Molche und Frösche, die der Bruder fangen ging. Und vielleicht war sie noch wunderbarer, als es selbst Drachen steigen lassen mit Eugen sein konnte. Drachen kamen auch in manchen Märchen vor. Aber böse, die Gift und Schwefel spuckten, nicht so lustige aus Papier, die schon ein Windstoß erzittern ließ. Solch einen bösen Drachen hätte Artur gern einmal gesehen, wenigstens einen kleinen. War da nicht wer? Artur hätte schwören mögen, dass eben etwas hinter den Küchenschrank gehuscht war. Irgendwo wisperte und knisterte es. Ob vielleicht der Drache in der Stube ...? Artur getraute sich kaum zu atmen. Auf Zehenspitzen ging er zur Stubentür, zog leise, leise die Klinke herunter, lugte durch den Spalt. Nichts. Er trat ein, schaute tapfer unter die Betten der Eltern, dann unter das an der anderen Wand stehende Sofa. Nun blieb nur noch die Jungenkammer, in der er mit Eugen schlief. Auch hier schien sich der Drache soeben davongemacht zu haben. Mehr nachdenklich als enttäuscht ging Artur wieder in die Küche. Ein eng begrenztes Reich, die Arbeiterwohnung der Beckers. Für Artur war sie vorerst die Welt. Hier lebte er, hing seinen fantastischen Träumen nach, und da es für die Fantasie keine Grenzen gibt, hatte er sich bisher selten an der Enge der Wirklichkeit gestoßen. Artur überlegte. Der Flur gehörte nicht zur Wohnung, war aber am geheimnisvollsten, mit der schmalen Treppe zu Wiesfleckers hinauf, steil wie die Stiege zum Zauberberg. Oben winkte öfter Frau Wiesflecker und hatte etwas für ihn: eine Lakritzenstange, zwei Stück zu einem Pfennig. Wenn es Mutter sah, sagte sie: "Sie sollen den Bengel nicht verwöhnen, Frau Wiesflecker." Unter der Treppenschräge begann die Kellertreppe. Im Keller war es dunkel und muffig wie in einer Höhle. Drachen wohnen in Höhlen. Siegfried hatte keine Angst gehabt; zum Drachen zu gehen. Doch Siegfried hatte ein Schwert. Artur brauchte ein Schwert. Draußen klappte und schurrte es. Beherzt griff er sich das Küchenbeil vom Herd, schlich zur Tür und klinkte sie mit einem Ruck auf. "Was willst du mit dem Beil, Lümmel?", schrie es aus dem Halbdunkel.

      Drachen reden sonst mit Donnerstimme, die Gestalt im Halbdunkel dort in ihrem schwarzen Umhang erinnerte mehr an eine Hexe.

      "Wo ist deine Mutter?", herrschte ihn die Schwarze an.

      Artur starrte auf die lange, hagere Frau und packte das Beil fester.

      Oben bei Wiesfleckers ging die Tür auf, und etwas mehr Licht fiel auf die Erscheinung. "Zu wem wollen Sie denn?", rief Frau Wiesflecker.

      "Zu Frau Becker."

      "Kann ich was bestellen?" klang es von oben.

      "Allerdings", spitz hob sich die Stimme der Schwarzen, "bestellen Sie ihr, dass wir nicht nötig haben, uns mahnen zu lassen." Sie zerrte ein Kuvert aus ihrem Pompadour und legte es auf eine Treppenstufe. "Hier ist das Geld für den letzten Waschtag, und sie soll sich nie wieder bei uns blicken lassen!"

      "Plustern Sie sich bloß nicht so auf." Frau Wiesflecker kam gemächlich die Treppe herab.

      Hoheitsvoll reckte sich die Hagere im schwarzen Umhang. "Kümmern Sie sich lieber um die Blagen. Der da glupscht, als wollte er mich mit dem Beil erschlagen."

      Frau Wiesflecker lachte ihr breites, unbekümmertes Lachen. "Ausgerechnet der Artur."

      "Bagage", zischte die Schwarze, hart knallte die Flurtür hinter ihr zu.

      Frau Wiesflecker nahm das Kuvert von der Stufe und ging mit Artur in Beckers Küche. Sie stellte das Beil neben den Herd und zog den Kleinen auf ihren Schoß. "Das war vielleicht 'ne jecke Tunte, was, Artur?"

      "Ist sie eine Hexe?"

      Frau Wiesflecker musste lachen. "Wahrhaftigen Gotts, das ist sie."

      "Aber sie hatte keinen Stock."

      "Die braucht keinen Stock, Jungchen, die macht es mit der Zunge."

      Diese Weisheit der einfachen Frau war für Artur zu hoch. "Sie ist keine richtige Hexe aus dem Märchen?"

      "Sie ist eine Hexe aus dem Leben, und die sind schlimmer. Aber nun denk nicht mehr dran, die kommt nie wieder."

      Die Großen hatten gut reden. Er war ausgezogen, einen Drachen zu töten, stattdessen war er einer Hexe begegnet. Es war aber keine aus dem Märchenbuch und sie sollte noch schlimmer sein? Er wurde erlöst von den wirren Gedanken, die Mutter trat in die Küche. Frau Wiesflecker berichtete, was vorgefallen war.

      Bedrückt öffnete Luise Becker das Kuvert und zählte das Geld. "Sechs Stunden war ich das letzte Mal da, bezahlt hat die Börgerlein nur vier. Und obendrein kündigt sie einem die Stelle."

      "So fleißige Frauen wie Sie kriegen wieder 'ne Stelle", tröstete Frau Wiesflecker. "Bei dem Drachen hatten Sie doch bloß Arger."

      Luise Becker schaute still vor sich hin. "Was man hat, hat man, Frau Wiesflecker. Es gibt zu viele Frauen wie mich, mit drei Kindern oder mehr, die alle was zuverdienen müssen. Das wissen solche wie die Börgerlein. Ich hätte gemahnt - das ist doch übertrieben. Dem Dienstmädchen habe ich gesagt, sie möchte Frau Börgerlein daran erinnern, dass ich das Geld brauche."

      "Das war Ihr gutes Recht", empörte sich die rundliche Nachbarin. "Die Reichen lassen sich bedienen, und dann sollen wir sie um die paar Pfennige auf den Knien bitten."

      "Ja, ja", sagte Luise Becker wie abwesend.

      "Es wird sich bestimmt wieder was finden", Frau Wiesflecker ging, "wenn ich was höre, sage ich Ihnen sofort Bescheid."

      Artur hatte die Mutter selten so gesehen. Sie war anders traurig, als wenn er sie betrübt hatte. Das kam von dieser Garstigen mit dem verflixten Geld. Davon war immer zu wenig da. Die Frauen sprachen öfter davon und die Eltern, doch so deutlich wie heute hatte er es noch nicht aufgenommen. Die raue Wirklichkeit schlug mit Drachenzähnen in seine Märchenwelt. Er fürchtete sich plötzlich und schmiegte sich an die Mutter. "Warum kaufen wir nicht einen Esel-streck-dich, Mama? Dann haben wir immer Geld."

      Luise Becker schreckte aus ihrer Nachdenklichkeit und drückte ihn an sich. "Ach du, das gibt's doch bloß im Märchen."

      Eine ähnliche Antwort wie vorher von Frau Wiesflecker. Die Großen passten wohl nicht so gut auf. Er hatte schon Eulenaugen im Dunkeln glühen sehen und Gnome hinter Weidenwurzeln verschwinden. Das bunte Märchenbuch zog seine Blicke wieder an. Die Großen konnten alles darin entziffern, der Bruder Eugen auch. Dicker gelber Neid auf den Bruder packte ihn, der meist Absätze fortschummelte und so schnell las, dass man gar nicht richtig zum Weinen kam, wenn es traurig wurde, und nicht zum Lachen bei fröhlichen Stellen. Sie knufften sich und vertrugen sich; wenn ihm Prügel