E.R. Greulich

... und nicht auf den Knien


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fällt dir ein?", schnauzte Alois, "eingeteilt wird von mir. Und wer nicht pariert, den melde ich Schwester Natalie."

      "Um so besser", entgegnete Artur, "da kann ich ihr sagen, wie ungerecht du einteilst."

      Am anderen Morgen, als die Jungen beim Frühstück saßen, kam Schwester Natalie in den Saal. "Artur, komm mit", sagte sie. "Wir gehen zur Frau Oberin. Benimm dich korrekt, sie mag keine unartigen Jungen."

      Auf das Klopfen der Schwester ertönte das "Herein!" der wohltönenden Stimme. Als sie dann eintraten, fühlte sich Artur leicht beengt. Der Raum, mit wenigen dunklen Möbeln ausgestattet, erinnerte eher an eine Kapelle als an ein Büro. An der Stirnwand, unter einem fast lebensgroßen Gekreuzigten mit richtigen roten Blutstropfen, stand ein Lehnsessel: Die Frau Oberin thronte dort, auf der Brust ein einfaches Kreuz aus Gold. Sie erhob sich, Schwester Natalie küsste ihr die Hand und sagte: "Da ist der Artur, Frau Oberin."

      Frau Oberin machte ein Zeichen, und Natalie verschwand.

      "Wie gefällt es dir bei uns, Artur?", begann Frau Oberin zutraulich die Unterhaltung.

      "Fein", erklärte Artur ehrlichen Herzens, "bloß, dass der Alois so ungerecht ..."

      Würdevoll winkte Frau Oberin ab. "Lass diese läppischen Streitigkeiten. Ich wollte anderes mit dir besprechen." Sie machte eine Pause und fragte dann: "Was hast du gegen uns, Artur?"

      "Gegen wen?" Artur war erstaunt.

      "Gegen Schwester Ursula und Schwester Natalie."

      "Nichts."

      "Und warum betest du dann nicht mit ihnen?"

      Daher weht der Wind, dachte Artur. "Ich bin vom Religionsunterricht abgemeldet."

      "Du glaubst nicht an Gott?"

      Artur überlegte. Soll sie's ruhig erfahren, dachte er und sagte einen Grad unbefangener, als ihm zumute war: "Das hat mir unser Klassenlehrer ausgetrieben."

      "Ist er auch ein Heide?"

      "Im Gegenteil. Er redet immerzu von Gott. Als der Krieg anfing, hat er gesagt, es sei Gottes Wille und Gott wird machen, dass wir siegen. Jetzt verlieren wir den Krieg, und da redet er sich heraus, Gott hat uns geprüft und zu leicht befunden. Das hätte der allwissende Gott doch vorher wissen müssen. Da hätten wir uns den Krieg gespart, den Kohldampf, die Unterernährung und all das ..."

      Der Frau Oberin Madonnengesicht blieb gleichmäßig freundlich, doch ihr hoher Busen hob sich einige Mal, so heftig atmete sie. "Und du meinst nicht, dass du dir Urteile anmaßt, die Gott nur allein zu fällen hat?"

      "Nein", erklärte Artur aus tiefstem Herzensgrund, "was man weiß, weiß man, und man soll die Wahrheit sagen, auch - auch wenn's schwerfällt."

      Die Heilige auf dem Thron hätte bei dieser Unbefangenheit beinahe laut herausgelacht. Es gelang ihr, diese unmögliche Gefühlsaufwallung in ein nachsichtiges Lächeln umzuwandeln, "Dann wirst du auch die Wahrheit nicht verschweigen in dem, was du über unsern Kaiser denkst."

      Diese Petze, dieser Alois, empörte sich Artur innerlich, das hat er also auch hinterbracht. Aber ich werde ihr schon meine Meinung sagen. "Vom Kaiser denke ich schlecht. Wenn er sich so stark fühlt, hätte er ja mit dem Zaren Zweikampf machen können wie David mit Goliath. Das wäre viel einfacher gewesen. Dann hätte Gerhard seinen Vater noch und Franz und die andern."

      Trotz aller Willensübungen konnte Frau Oberin nicht verhindern, dass Röte der Erregung in ihre Pfirsichwangen stieg. Nun konnte sie sich eines sanften Vorwurfs in ihrer Stimme nicht mehr enthalten. "Artur, Artur, spürst du nicht, wie selbstgerecht du bist? Würdest du alles so viel besser machen bei der Sorge für über sechzig Millionen Menschen?"

      "Für uns hat er nie gesorgt und für alle, die um uns herum wohnen, auch nicht. Braucht er auch nicht. Wenn er wenigstens geschafft hätte, dass kein Krieg kommt, wo er sich doch selbst mal 'Friedenskaiser' genannt hat."

      Der Gedanke an die Obhut über sechzig Millionen Einzelwesen bewegte die Oberin ehrlich, schon gar, wenn sie nur an das eine Exemplar hier vor sich dachte. "Überlege mal s-e-c-h-z-i-g M-i-l-l-i-o-n-e-n, jeder will anders, und das soll so einfach sein?"

      "Für den Kaiser: ja. Er ist doch von Gottes Gnaden."

      Das ist der Einfluss des Elternhauses, dachte Frau Oberin, bestimmt ist der Vater ein Roter. Schade, dieser Artur ist eigentlich ein netter Junge. Man muss für ihn beten. Doch man muss auch verhüten, dass er die andern Kinder mit seiner Auflehnung, seinem Unglauben, seiner heidnischen Skepsis ansteckt. "Artur, es ist vieles im Leben schwieriger, als du dir vorstellst ..."

      "Das sagt Vater auch immer, wenn Lehrer Neblich uns was erzählt hat, was nachher anders ist."

      "Wahrscheinlich sieht auch dein lieber Vater manches zu einfach. Und dir, Artur, wird Gott eines Tages begegnen, und du wirst über vieles anders denken lernen. Für die Zeit, die du bei uns bist, bitte ich deine Hand darauf, dass du deine Gedanken über Gott und Kaiser für dich behältst und beim Beten, sagen wir, wenigstens die Hände faltest."

      "Da soll ich heucheln?"

      Die Oberin wurde zum ersten Mal streng. "Nein, Artur. Du sollst dich in die Gemeinschaft einfügen. Du störst sonst die andern. Wenn du tust, wie ich dir sage, heuchelst du nicht, weil du mir gesagt hast, dass du nicht an Gott glaubst."

      Die Gemeinschaft zu missachten war einer der schlimmsten Vorwürfe, die man Artur machen konnte. Und es fiel schwer, dieser engelsgleichen Frau den Wunsch abzuschlagen. Er gab sich einen Ruck und wurde feierlich: "Frau Oberin, das kann ich nicht!"

      "Warum nicht, Artur?" Noch nie hatte ihre Stimme so himmelsrein geklungen.

      "Ich störe niemanden", sagte er, "die meisten merken es gar nicht, bloß Schwester Ursula und Schwester Natalie. Die wissen sowieso, was mit mir los ist, sonst hätten sie es Ihnen nicht erzählt."

      Frau Oberin versuchte es mit der List. "Du hasst mich also, Artur?"

      Er war erschrocken und stotterte: "Nein - nein - wirklich nicht."

      "Dann könntest du doch mir den Gefallen tun."

      Artur spürte immer deutlicher, dass es hier um eine grundsätzliche Entscheidung ging. Und dies gab ihm die Erwiderung ein: "Da könnte ich doch sagen; dass Sie mich hassen, weil sie meine Ehrlichkeit nicht wollen."

      "Und wenn wir nun anordnen würden, du hast mitzubeten?" fragte die Oberin.

      Jetzt war Artur in der Falle und schwieg verwirrt. Irgendwer musste ja wohl Befugnisse haben, die Gemeinschaft zu lenken. Glücklicherweise kam ihm die Erinnerung an die Empfangsworte der Oberin. "Dann wäre es ja schlimmer als in der Schule", sagte er.

      Die Geduldige verlor die Geduld. Sie wollte Artur treffen, und es gelang ihr, als sie sagte: "Du bist ein aufgeweckter Junge, man hätte von dir mehr Freundlichkeit erwarten können. Aber du bist verstockt. Geh jetzt, ich mag dich nicht mehr sehen."

      Stumm wandte sich Artur zur Tür. Diese schöne, freundliche Frau beleidigt zu haben, bereitete ihm Pein, dennoch fand er es richtig, hart geblieben zu sein. Wenn ich Kaspar hätte sagen müssen, ich habe ihr versprochen, wir beten jetzt immer, dachte er, welche Blamage.

      Draußen empfing ihn Schwester Natalie. Aus seiner Haltung, aus seinem Gesicht erriet sie das Meiste. Sie war eher verstört als feindselig. Schweigend brachte sie Artur nach oben und sagte leise, als sie ihn in den Saal schickte: "Der Herr wacht über alle."

      Noch am selben Tag suchte Frau Oberin um eine dringliche Unterredung mit dem Herrn Prälaten nach. In klaren, kühlen Worten, aber innerlich erregt, berichtete sie vom Erlebnis des Vormittags. Hochwürden erstaunte und verbiss sich ein verwundertes Lächeln. Ein Schulbub hatte es vermocht, die schöne Heilige aus der Fassung zu bringen? So wurde es ihm nicht schwer, überlegen zu bleiben, als Frau Oberin vorschlug, Artur nach Hause zu schicken.

      Der Herr Prälat, gut mit dem Leben draußen vertraut, schüttelte nachsichtig den Kopf. Die allein selig Machende habe die Zeichen der Zeit noch immer rechtzeitig zu deuten gewusst.