Wolfgang Wirth

look back again


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wenn Sergej nach einem anstrengenden Arbeitstag nach Hause kam, aber heute war die Wiedersehensfreude noch größer als gewöhnlich, denn Dimitris Vater war zum ersten Mal eine ganze Woche lang weg gewesen.

      Jetzt kam auch Natalja aus dem Haus und begrüßte ihren Mann mit einem warmen Kuss und Freudentränen in den Augen. Der kleine Dimitri griff nach ihrer Hand.

      „Wie ist es gelaufen?“, fragte sie. „War es sehr traurig?“

      „Nun, es ist immer irgendwie traurig auf einer Beerdigung“, erwiderte Sergej, „aber für den alten Mann war es sicher besser, von seinen Qualen erlöst zu werden. Und er hat glücklicherweise nicht mitbekommen müssen, wie wenig Menschen ihn auf seinem letzten Weg begleitet haben. Und wenn, dann hätte er es sowieso nicht kapiert.“

      „Sprich nicht so über deinen eigenen Großvater“, empörte sich Natalja, „das ist respektlos. Besonders einem Toten gegenüber.“

      Sergej holte seinen Koffer aus dem Kofferraum und hob seinen Hut vom Boden auf, der bei der stürmischen Begrüßung Dimitris heruntergefallen war.

      „Wer war denn da?“, fragte seine Frau weiter.

      „Nur Großtante Irina und meine Cousine Anastasija! Und ein paar Leute von der heiligen Bruderschaft, die ich nicht kannte.“

      Sergej brauchte nicht lange zu überlegen. Von seiner Familie waren nicht mehr viele übrig. Tatsächlich hatte der Krieg alle Männer seiner Familie dahingerafft, entweder waren sie im Gefecht gefallen oder wurden als Partisanen entlarvt und hingerichtet. Und auch nur wenige Frauen hatten die schweren Zeiten überlebt, viele von Ihnen waren deportiert worden. Es war keine gute Menschheitsepoche gewesen, besonders nicht für russischstämmige Juden in Frankreich, umso mehr hatten sich die wenigen Überlebenden an der langsamen finanziellen Erholung nach dem Krieg erfreuen können. Sie war durch sorgfältig versteckte Reserven, aber auch durch harte Arbeit wiedererlangt worden.

      Sergej selbst hatte sich als Flüchtling durch die schweren Zeiten gerettet und sich in zahlreichen Ländern unter Mithilfe von Gleichgesinnten verstecken können.

      Nach Kriegsende war er in sein Elternhaus nach Frankreich zurückgekehrt und hatte Natalja, eine entfernte Cousine, geheiratet. Sie hatten einen gesunden Sohn, eine geregelte Arbeit und führten ein - den Umständen entsprechend - glückliches Leben.

      Seine Großtante hatte Sergej vor gut einer Woche ein Telegramm zukommen lassen. Ihr Bruder Anatolij, sein Großvater, hatte im gesegneten Alter von 99 Jahren im Sterben gelegen und sie hatte um seine Unterstützung bei der bevorstehenden Segnung und der Abwicklung all der Papiere und der Organisation der Beerdigung gebeten.

      Sergej hatte keine sonderlich gute, streng genommen sogar gar keine Beziehung zu seinem Großvater gehabt. Nachdem seine Eltern verstorben waren, war der Kontakt nahezu eingeschlafen. Er hatte ihn in den letzten Jahren ein-, zweimal besucht, aber der Greis war völlig verwirrt und Sergej konnte nicht viel mit ihm anfangen. Auch in seiner Nachbarschaft galt er als griesgrämiger, alter Zausel, der mit seinen irrwitzigen Geschichten Allen auf die Nerven ging.

      „Noch nicht mal vererbt hat der alte Anatolij etwas“, erzählte Sergej seiner Frau weiter, als sie gemeinsam am Essenstisch Platz nahmen. „Bis auf das alte verfallene Haus in Paris, aber wer wird das schon kaufen wollen, das ist morsch von oben bis unten.“

      „Wir brauchen nichts von ihm, wir kommen auch so zurecht“, unterbrach Natalja ihren Mann. Mit einer großen Schöpfkelle füllte sie die Teller. Es roch verführerisch gut nach Gewürzen und Knoblauch. Natalja war eine begnadete Köchin und kombinierte gekonnt russische und französische Gerichte, nicht immer unter Einhaltung der jüdischen Kaschrut. Ergebnis waren eigene Kreationen, die vielleicht nicht jedem ihrer Glaubensgemeinschaft, aber zumindest ihrer Familie und nahestehenden Freunden vorzüglich mundete.

      „Ich meine auch nicht uns, sondern Großtante Irina“, verteidigte sich Sergej. „Ihr geht es finanziell nicht so gut, aber wir haben auch nicht soviel, dass wir sie unterstützen könnten. Na vielleicht wirft ja die alte Bruchbude doch noch was ab für sie. Aber eigentlich kann man sie nur noch abreißen.“

      „Wenn ich mal groß bin, verdiene ich soviel Geld, dass ich Euch allen was abgeben kann“, meldete sich plötzlich Dimitri zu Wort und machte dabei ein ernstes Gesicht.

      Mit einem gütigen Lächeln strich ihm seine Mutter über den Kopf und nickte bedächtig. Aber der Blick ihres Sohnes war so entschlossen, dass er ihr fast schon Angst machte. Sie runzelte die Stirn.

      „Iss, Dimitri!“, sagte sie dann und lächelte wieder, wenn auch immer noch etwas irritiert. „Sonst wirst du ja erst gar nicht groß!“

      „Ach ja“, ergriff Sergej wieder das Wort, nachdem auch er sich nach der überraschend ernsthaften Bemerkung seines Sohnes wieder gefasst hatte, „ich habe dir auch etwas mitgebracht. Das einzige Vermächtnis deines Urgroßvaters. Er hatte wohl darauf bestanden, dass du das bekommst.“

      „Was ist es? Sag schon, Papa!“ rief Dimitri und seine Augen leuchteten wieder.

      „Leider nichts Wertvolles.“ Sergej stand auf und kramte ein verschmutztes Bündel aus seinem Koffer.

      „Pass doch auf, Sergej“, schimpfte Natalja, als ihr Mann das Bündel auf dem Tisch ausrollte. „Du verdreckst noch die Tischdecke!“

      Tatsächlich war der Stofffetzen, der nun nach und nach sein Inneres freigab, nicht der sauberste. Ein mit Flecken und Dreck übersäter Lappen, der scheinbar schon seit Jahrzehnten kein Wasser oder gar Seife mehr zu sehen bekommen hatte.

      Sergej entnahm dem schmutzigen Stoff ein altes Buch, das nicht minder fleckig war.

      „Was ist das?“, fragte Dimitri, sichtlich enttäuscht, hatte er doch wenigstens einen alten Dolch oder einen blitzenden Militärorden erwartet.

      „Das ist wohl das Tagebuch meines Großvaters. Ich habe keine Vorstellung davon, was ausgerechnet du damit sollst. Wahrscheinlich werfen wir es lieber gleich weg. Wer weiß, welches Ungeziefer da noch rauskrabbelt. Aber hier liegt ein Lesezeichen drin, das kannst du behalten. Das gefällt dir vielleicht.“

      Sergej zog ein ledernes Band aus dem Buch, an dem ein phantasievoll gehäkelter Wollfaden hing, der wiederum am Ende einen glitzernden Stein eingeknotet hatte. Es sah alt, aber nicht so verschmutzt wie das Buch selbst aus. Irgendwie sogar auf seine Weise schön. Noch nie hatte Sergej ein solches Lesezeichen gesehen.

      „Was steht da drauf?“ Dimitri zeigte auf einige schwer zu erkennende kyrillische Buchstaben, die das Lederband zierten. Sie waren zwar größtenteils verblichen, aber man konnte noch erkennen, wie kunstvoll sie auf dem Leder eingebrannt waren.

      Sergej kniff die Augen zusammen und versuchte den Text zu entziffern.

      „Blick zurück, doch nur mit den Augen!“

      „Komischer Satz, was bedeutet das?“, fragte der Junge weiter. Er war aufgeweckt und wissbegierig und löcherte oft seine Eltern mit Fragen, auf die auch sie nicht immer eine Antwort wussten.

      „Keine Ahnung, passt aber zu dem alten Spinner“, gab sein Vater kopfschüttelnd zurück.

      „Sergej!“, wies Natalja ihn zurecht. „Sprich nicht so über dein eigen Fleisch und Blut!“

      „Schon gut, schon gut! Also willst du das Band hier behalten, Dimitri? Das Buch werfen wir besser weg. Oder vielleicht können wir die Blätter ja noch zum Ofen anzünden nutzen.“

      „Aber erst wenn ich es gelesen habe. Schließlich hat dein Großvater es mir hinterlassen!“ Dimitri klang bestimmt.

      „Na gut, mein Sohn. Aber du musst wissen, dass der alte Anatolij nicht mehr ganz richtig im Kopf war. Ich weiß nicht, was er da alles aufgeschrieben hat und ich will es auch gar nicht wissen. Aber geh mal davon aus, dass er sich mindestens die Hälfte davon nur zurechtgesponnen hat und es nichts mit der Wahrheit zu tun hat. Und komm bloß nicht auf die Idee, dass ich dir das vorlese, da hab ich bei Gott Besseres zu tun.“

      Sergej reichte Dimitri das Buch und rieb sich die Handflächen an den Hosenbeinen